Sozialgericht Stade
Urt. v. 29.07.2003, Az.: S 1 KR 53/01

Bibliographie

Gericht
SG Stade
Datum
29.07.2003
Aktenzeichen
S 1 KR 53/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 40275
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGSTADE:2003:0729.S1KR53.01.0A

In dem Rechtsstreit

...

hat die 1. Kammer des Sozialgerichts Stade

auf die mündliche Verhandlung vom 29. Juli 2003

durch den Richter Dr. Blöcher sowie

die ehrenamtliche Richterin Frau Icken und

den ehrenamtlichen Richter Herrn Köhler

für Recht erkannt:

Tenor:

  1. Der Bescheid der Beklagten vom 6. Oktober 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. März 2001 sowie die weiteren Bescheide der Beklagten vom 9. Januar 2001, 24. April 2001, 16. Juli 2001, 2. Oktober 2001, 8. Januar 2002, 18. März 2002, 28. März 2002, 9. April 2002, 2. Juli 2002, 1. Oktober 2002, 17. Januar 2003, 24. Februar 2003, 4. April 2003 und 9. Juli 2003 werden aufgehoben.

  2. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger entstandene Kosten in Höhe von EUR 6 138,79 zuzüglich der gesetzlichen Zinsen nach § 44 SGB I zu erstatten.

  3. Die Beklagte wird weiter verurteilt, dem Kläger zukünftig unter Berücksichtigung der gesetzlichen Vorschriften häusliche Krankenpflege in der Form von Einreibungen gemäß § 37 Abs. 2 SGB V als Sachleistung zu gewähren.

  4. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Gewährung häuslicher Krankenpflege.

2

Der 1935 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzliche krankenversichert. Er leidet seit Beginn der achtziger Jahre u.a. unter einer ausgeprägten Schuppenflechte und ist seit Anfang 2000 in die Pflegestufe III der sozialen Pflegeversicherung eingestuft.

3

Der Hausarzt des Klägers verordnete diesem am 10. Oktober 2000 für die Dauer von zwei Monaten häusliche Krankenpflege nach § 37 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) beim Anlegen und Wechseln von Wundverbänden sowie zweimal täglichen Einreibungen. Mit Bescheid vom 23. Oktober 2000 lehnte die Beklagte unter Bezugnahme auf eine gutachterliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) die Gewährung der verordneten Einreibungen ab dem 5. Oktober 2000 ab. Zur Begründung ist dort ausgeführt, dass bei chronischen Erkrankungen Einreibungen keine Leistung der häuslichen Krankenpflege sei. Der hiergegen mit Schreiben vom 7. November 2000 eingelegte Widerspruch des Klägers blieb erfolglos.

4

Auch in der Folgezeit beantragte der Kläger vierteljährlich bei der Beklagten unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung die Gewährung häuslicher Krankenpflege in Form von Einreibungen. Die Beklagte lehnte jeweils die Kostenübernahme ab und wies darauf hin, dass Einreibungen zur Grundpflege zählten.

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Der Kläger hat am 25. April 2001 Klage erhoben und zur Begründung im Wesentlichen auf den Vortrag im Verwaltungsverfahren verwiesen. Entsprechend hat der Kläger ab Oktober 2000 die Kosten für seine häusliche Krankenpflege bei Einreibungen selbst getragen.

6

Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 6. Oktober 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. März 2001 sowie ihrer Bescheide vom 9. Januar 2001, 24. April 2001, 16. Juli 2001, 2. Oktober 2001, 8. Januar 2002, 18. März 2002, 28. März 2002, 9. April 2002, 2. Juli 2002, 1. Oktober 2002, 17. Januar 2003, 24. Februar 2003, 4. April 2003 und 9. Juli 2003 zu verurteilen, die Kosten für die häusliche Krankenpflege mittels Einreibung in der Zeit vom 1. Oktober 2000 bis 2. Juli 2003 in Höhe von € 6 138,79 zuzüglich der gesetzlichen Zinsen zu erstatten.

  2. 2.

    die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 9. Juli 2003 zu verpflichten, dem Kläger zukünftig häusliche Krankenpflege gemäß § 37 Abs. 2 SGB V als Sachleistung zu gewähren.

7

Die Beklagte beantragt,

  1. die Klage abzuweisen.

8

Sie hält ihre Bescheide für rechtmäßig und weist ergänzend darauf hin, dass bei dem Kläger ein chronisches und kein akut dermatologisches Krankheitsbild vorliege. Hierfür dürften nach der Nummer 26 der Anlage zur Richtlinie über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege Einreibungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht verordnet werden.

9

Das Gericht hat zur Sachaufklärung ein Gutachten des MDK vom 11. August 2000 zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit des Klägers sowie einen ärztlichen Befundbericht beim klägerischen Hausarzt angefordert. Weiter hat die Beklagte unter dem 1. April 2003 eine zusätzliche sozialmedizinische Stellungnahme beim MDK N.... eingeholt. Wegen des Ergebnisses sowie der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des weiteren Vertrags der Beteiligten wird auf den übrigen Inhalt der Gerichts- sowie Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen. Die Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

10

Die Klage ist zulässig.

11

Insbesondere sind die weiteren Bescheide der Beklagten nach Klageerhebung zu den Folgeverordnungen des Klägers auf Gewährung häuslicher Krankenpflege bei Einreibungen gemäß § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden. Von dieser Vorschrift werden nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auch Verwaltungsakte erfasst, die sich zwar nicht auf den Streitgegenstand im engeren Sinne beziehen, aber im Rahmen eines Dauerschuldverhältnisses ergehen und das streitige Rechtsverhältnis für einen weiteren sich anschließenden Zeitraum regeln (Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, § 96 SGG Rn. 5a m.w.N.). Auch wenn diese Rechtsprechung bei laufenden Honorarstreitverfahren mehrerer Abrechnungsquartale im Vertragsarztrecht in Frage gestellt wird (vgl. BSG NZS 97, 40), bietet sich im vorliegenden Verfahren die Einbeziehung sämtlicher zwischenzeitlich ergangener Bescheide aus prozessökonomischen Gründen an.

12

Die Klage ist auch begründet.

13

Der Kläger hat gegenüber der Beklagten ein Anspruch auf Erstattung der Kosten, die ihm durch die Inanspruchnahme eines privaten Pflegedienstes bei Einreibungen entstanden sind. Die Beklagte war insoweit verpflichtet, dem Kläger Leistungen der häuslichen Krankenpflege gemäß § 37 Abs. 2 S. 1 SGB V als Sachleistung zur Verfügung zu stellen.

14

Weiter hat der Kläger auch einen Anspruch darauf, dass ihm zukünftig Leistungen der häuslichen Krankenpflege in Form von Einreibungen durch die Beklagte als Sachleistung zur Verfügung gestellt werden. Im Einzelnen:

15

1. Die Beklagte hat dem Kläger die in der Vergangenheit entstandenen Kosten für die Inanspruchnahme eines privaten Pflegedienstes bei Einreibungen zu erstatten. Anspruchsgrundlage ist § 13 Abs. 3 SGB V, wonach gesetzlich Krankenversicherte für selbstbeschaffte Leistungen eine Kostenerstattung erhalten, wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbracht (1. Alternative) oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt (2. Alternative) hat und dem Versicherten dadurch notwendige Kosten entstanden sind. In diesem Fall sind die Voraussetzungen der 2. Alternative des Kostenerstattungsanspruchs erfüllt: Die zahlreichen Ablehnungen der Beklagten hinsichtlich der beantragten Versorgung des Klägers mit häuslicher Krankenpflege erfolgten zu Unrecht.

16

Da der aus dieser Vorschrift resultierende Kostenerstattungsanspruch lediglich an die Stelle des Anspruchs der Versicherten auf eine Sach- oder Dienstleistung tritt, besteht er nur, soweit die selbstbeschaffte Leistung ihrer Art nach zu den Leistungen gehört, die von den gesetzlichen Krankenkassen als Sachleistung zu erbringen wäre. Hier folgt ein solcher Sachleistungsanspruch des Klägers aus § 37 Abs. 2 S. 1 SGB V, wonach Versicherte in ihrem Haushalt oder ihrer Familie Behandlungspflege als häusliche Krankenpflege erhalten, wenn sie zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist (sog Behandlungssicherungspflege, vgl. hierzu BSGE 83, 254, 261 ).

17

Bei der streitgegenständlichen Salbeneinreibung bei bestehender Schuppenflechte handelt es sich entgegen der Auffassung der Beklagten um Behandlungspflege iSd § 37 Abs. 2 S. 1 SGB V. Zwar hat der Gesetzgeber diesen Begriff nicht selbst definiert; im Einzelnen ist auch umstritten, welche Leistungen in Abgrenzung zu den Leistungen der sozialen Pflegeversicherung als Behandlungspflege zu gelten haben (siehe hierzu Höfler, Kassler Kommentar, § 37 SGB V Rn. 23f). Dies bedarf im Hinblick auf die hier streitige Maßnahme jedoch keiner weiteren Erörterung, weil sie zum unbestrittenen Kernbereich der Behandlungspflege zählt. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass dem Kläger häusliche Krankenpflege in Form von Einreibungen ärztlich verordnet worden ist. Der (vertrags)ärztliche Behandler des Klägers macht durch seine Verordnung deutlich, dass er eine häusliche Krankenpflege zur Sicherung des Behandlungserfolges für erforderlich hält. Auch wenn die Beklagte nach § 27 Abs. 3 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) nicht ohne weiteres an eine solche Verordnung gebunden ist, reicht der Hinweis auf "Einreibungen als Bestandteil der Grundpflege" nicht aus, Zweifel an der medizinischen Notwendigkeit der verordneten Maßnahme zu wecken (siehe hierzu Urteil des BSG vom 30. März 2000 - B 3 KR 23/99 R - ). Hinzu kommt, dass der MDK N.... in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 1. April 2003 ausdrücklich ausführt, dass der Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum mit "wirkstoffhaltigen, teilweise hochpotenten (Betametason)-Präparaten" versorgt werden musste. Dies stellte nach Ansicht des Gutachters keine Pflegebehandlung mehr dar. Vor diesem Hintergrund bestand für die Kammer keine Veranlassung, der nicht näher substantiierten Behauptung der Beklagten nachzugehen, die täglichen Einreibungen des Klägers seien Bestandteil seiner Grundpflege.

18

Weiter schließen die von der Beklagten angeführten Richtlinien über die Verordnung häuslicher Krankenpflege vom 16. Februar 2000 (BANZ Nr. 91) häusliche Krankenpflege in Form von Einreibungen nicht aus. In diesem Zusammenhang ist zwischen den Beteiligten die Auslegung des Begriffs "akut" in der Nummer 26 der Anlage zu den Richtlinien streitig. Dort ist geregelt, dass Einreibungen bei akutem posttraumatischen Zuständen, akuten entzündlichen Gelenkerkrankungen, akuten wirbelsäulenbedingten Symptomen sowie akuten dermatologischen Erkrankungen als häusliche Krankenpflege verordnet werden kann. Die Beklagte ist der Auffassung, dass sich aus der Bezeichnung einer akuten dermatoiogischen Erkrankung ergibt, dass häusliche Krankenpflege bei chronischen Erkrankungen - beispielsweise die Schuppenflechte des Klägers - ausgeschlossen ist. Dem vermag sich die Kammer nicht anzuschließen.

19

Zunächst folgt ein solcher Umkehrschluss entgegen der Auffassung der Beklagten keineswegs aus dem Wortlaut der Anlage Nummer 26 zu den Richtlinien über die Verordnung häuslicher Krankenpflege. Akut bedeutet hier eine unvermittelt auftretende, heftig verlaufende Krankheit (so der Duden, 21. Auflage 1996). Dies schließt eine Behandlung bei chronischen Erkrankungen nicht aus, weil auch bei einem solchen Krankheitsbild plötzlich und unvermittelt in sogenannten Schüben eine Behandlungsbedürftigkeit iSv § 27 SGB V auftreten kann. Dies hat die Vertreterin der Beklagten in der mündlichen Verhandlung am 29. Juli 2003 ausdrücklich eingeräumt. Entscheidend ist somit nach dem Wortlaut der Richtlinie nicht die Art des Krankheitsverlaufs, abzustellen ist vielmehr auf die akute Behandlungsbedürftigkeit nach § 27 SGB V bei der Verordnung häuslicher Krankenpflege. Im Falle des Klägers aber weisen alle vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen bzw Befundberichte darauf hin, dass dessen Schuppenflechte seit mehreren Jahren in diesem Sinne akut behandlungsbedürftig ist. Der MDK hat in seiner gutachterlichen Stellungnahme vom 1. April 2003 beispielsweise ausgeführt, dass "gemäß der Befunde [...] - zumindest seit 1997 - die Psoriasis bei dem Versicherten derart ausgeprägt [war], dass es einer ständigen Behandlung bedurfte. Ich verweise hier auf die jeweils unterschiedlichen Therapieempfehlungen im Rahmen von dermatologischen Konsilen bei sonstigen stationären Krankenhausaufenthalten des Versicherten." Bestätigt wird dies durch den vom Gericht eingeholten Befundbericht des klägerischen Hausarztes. Danach handelt es sich bei der Schuppenflechte des Klägers zwar um eine chronische, aber auch ständig akute behandlungsbedürftige Erkrankung. Diese Diagnose wird zudem durch die dem Befundbericht beigefügten zahlreichen Behandlungsunterlagen untermauert. Vor diesem Hintergrund hat die Kammer keinen Zweifel daran, dass die Schuppenflechte des Klägers auch bei einem möglicherweise chronischen Krankheitsverlauf zumindest für den hier streitgegenständlichen Zeitraum akut behandlungsbedürftig iSv § 27 SGB V war und demzufolge ein entsprechender Anspruch auf Gewährung häuslicher Krankenpflege bestand.

20

Weiter führt das in diesem Verfahren geäußerte Verständnis der Beklagten hinsichtlich der Anlage Nr. 26 zu den Richtlinien über die Verordnung häuslicher Krankenpflege dazu, dass eine solche Pflege bei chronischen Erkrankungsformen nicht mehr zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden kann. Eine solche Leistungseinschränkung aber lässt sich dem geltenden Krankenversicherungsrecht nicht entnehmen und stellt im Ergebnis eine unzulässige Einschränkung des Krankheitsbegriffs aus § 27 SGB V dar (siehe hierzu bereits die SKAT-Entscheidung des BSG vom 30. September 1999 - B 8 KN 9/98  KR R -). Danach obliegt es allenfalls dem Gesetzgeber und nicht dem jeweiligen Bundesausschuss, darüber zu entscheiden, ob er die Behandlung von einzelnen Gesundheitsstörungen beispielsweise wegen vermuteter Unwirtschaftlichkeit auf Kosten der Versichertengemeinschaft untersagen bzw einschränken will.

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2. Auch der weitere, in die Zukunft gerichtete Leistungsantrag des Klägers ist begründet. Er hat bei einer weiterhin akut behandlungsbedürftigen Schuppenflechte unter Berücksichtigung der gesetzlichen Vorschriften einen Anspruch auf Häusliche Krankenpflege in Form von Einreibungen.

22

3. Der vorangestellt dargelegte Kostenerstattungsanspruch des Klägers ist gemäß § 44 SGB I zu verzinsen. Nach Auffassung der Kammer zählt der Anspruch aus § 13 Abs. 3 2. Alternative SGB V bei ungerechtfertigter Leistungsablehnung selbstbeschaffter Sach- oder Dienstleistungen zu den in § 44 SGB I angesprochenen Ansprüchen auf Geldleistungen. Zwar handelt es sich hierbei um ein Sachleistungssurrogat und nicht um einen reinen Anspruch auf Geldleistung, allerdings kann nicht den Versicherten das (Zins-)Risiko dafür übertragen werden, dass eine öffentliche Körperschaft bestehendes Recht unrichtig anwendet.

Dr. Blöcher
Frau Icken
Herrn Köhler