Sozialgericht Aurich
Beschl. v. 07.11.2008, Az.: S 15 AS 783/08 ER

Vorliegen einer wirksamen Antragstellung im Sinne von § 37 Abs. 1 SGB II durch mündlichen Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II

Bibliographie

Gericht
SG Aurich
Datum
07.11.2008
Aktenzeichen
S 15 AS 783/08 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2008, 54539
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGAURIC:2008:1107.S15AS783.08ER.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
LSG Niedersachsen-Bremen - AZ: 13 AS 239/08 ER

Tenor:

Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller für den Zeitraum November 2008 bis März 2009 vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von 382.- Euro monatlich zu zahlen. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

I.

Streitig ist im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

Der am 01.10.1985 geborene Antragsteller stand zuletzt in der Zeit vom 01.09.2005 bis zum 28.02.2006 im Leistungsbezug nach dem SGB II und bewohnt mit seiner Lebenspartnerin D. die Oberwohnung in dem Haus "E." in F ... Das Haus gehörte ursprünglich seinen Eltern, ist jedoch im Wege der Zwangsversteigerung in das Eigentum von Frau G. übergegangen. Frau G. hat mit den Eltern des Antragstellers einen Mietvertrag über die Wohnung im Erdgeschoss und mit dem Antragsteller und seiner Lebensgefährtin einen Mietvertrag über die Wohnung im Obergeschoss abgeschlossen. Danach zahlt der Antragsteller 250,- Euro Kaltmiete, auf die Betriebskosten werden keine Abschläge gezahlt. Die Eltern des Antragstellers zahlen die Abschläge für das gesamte Haus. Da es sich ursprünglich um ein Einfamilienhaus handelte, sind die Anschlüsse nicht getrennt, über die Nebenkosten soll jeweils am Jahresende abgerechnet werden.

Die Lebensgefährtin des Antragstellers steht in einem Ausbildungsverhältnis und bekommt eine Ausbildungsvergütung in Höhe von 511,58 Euro netto monatlich sowie eine monatliche Halbwaisenrente in Höhe von 170,87 Euro. Der Antragsteller ist gelernter Tischler und war als Produktionshelfer bei der Firma H. beschäftigt, das Arbeitsverhältnis endete zum 12.10.2008. Der Septemberverdienst aus dieser Beschäftigung in Höhe von 859,83 Euro wurde am 14.10.2008 auf sein Konto überwiesen. Der Antragsteller sprach nach seinen Angaben am 16.10.2008, nach Angaben der Antragsgegnerin am 14.10.2008 bei der Antragsgegnerin vor, um Leistungen nach dem SGB II zu beantragen. Anlässlich der Vorsprache ist dem Antragsteller ein Vorstellungsgespräch bei der Firma I. vermittelt sowie eine Bewerbung bei der Firma J. in K. empfohlen worden.

Mit dem am 23.10.2008 bei Gericht eingegangenen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz trägt der Antragsteller vor, die Antragsgegnerin habe die Entgegennahme seines Antrags auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II mit den Worten abgelehnt, er sei Handwerker und Handwerker würden immer Arbeit finden. Außerdem habe man sich geweigert ihm ein Formular für den Arbeitslosengeld II-Antrag auszuhändigen. Er trägt weiter unter Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung vor, dass er keine Rücklagen mehr habe und nicht wisse, wie er seinen Lebensunterhalt bestreiten solle.

Der Antragsteller beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,

der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben ihm Leistungen nach dem SGB II zur vollen Höhe zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,

den Antrag abzulehnen.

Sie führt aus, ihre Aufgabenstellung bestehe nicht in erster Linie in der Entgegennahme von Leistungsanträgen und der Gewährung von Leistungen. Sie habe dem Antragsteller aufgrund seiner handwerklichen Fähigkeiten noch am Tage der ersten Vorsprache Arbeitsmöglichkeiten nachweisen können, so dass sie ihrem Auftrag nach § 3 SGB II nachgekommen sei. Natürlich sei sie bereit bei vorliegender Bedürftigkeit über einen noch vorzulegenden Antrag zu entscheiden.

Verwaltungsunterlagen der Antragsgegnerin konnten nicht beigezogen werden; dem Gericht wurde trotz Anforderung keine Verwaltungsakte übersandt.

II.

Der Antrag ist zulässig, inhaltlich ist er auch begründet.

Das Gericht kann auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, das durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (§ 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG). Der Anordnungsanspruch, also die Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren beabsichtigt ist, sowie der Anordnungsgrund, die Eilbedürftigkeit der begehrten vorläufigen Regelung, sind glaubhaft zu machen (§ 86 Abs. 2 SGG i.V.m. § 920 Abs. 3 ZPO). Für beide Voraussetzungen reicht eine überwiegende Wahrscheinlichkeit aus (vgl. Krodel, Die Begründetheit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, NZS 2002, Seite 234 ff; Grieger, Vorläufiger Rechtsschutz in Angelegenheiten der Sozialhilfe und der Grundsicherung für Arbeitsuchende, ZFSH/SGB 2004, 579). Bei der Entscheidung sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu beachten; steht dem Antragsteller der geltend gemachte Anspruch mit Wahrscheinlichkeit zu, ist eine einstweilige Anordnung zu erlassen, sofern ihm das Abwarten des Hauptsacheverfahrens nicht zumutbar ist. Ist der Anspruch dagegen offensichtlich unbegründet, wird kein einstweiliger Rechtsschutz gewährt. Bei offener Hauptsachelage ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (Keller in Meyer-Ladewig, Rn 29, 29a zu § 86b SGG).

Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in der tenorierten Höhe glaubhaft gemacht.

Leistungen nach dem SGB II erhalten Personen, die u.a. hilfebedürftig sind (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II). Hilfebedürftig ist, wer u.a. seinen Lebensunterhalt und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit oder aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält (§ 9 Abs. 1 SGB II), wobei auch das Einkommen und Vermögen eines Partners zu berücksichtigen sind (§ 7 Abs. 3 Nr. 3c i.V.m. § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II). Die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende werden auf Antrag erbracht (§ 37 Abs. 1 SGB II).

Entgegen der Rechtsauffassung der Antragsgegnerin hat der Antragsteller hier einen Leistungsantrag gestellt.

Der Antrag nach § 37 Abs. 1 SGB II ist an keine bestimmte Form gebunden, er kann sowohl mündlich, als auch schriftlich oder fernmündlich oder per E-Mail gestellt werden, auch eine konkludente Antragstellung ist möglich (vgl. etwa Urteil des BSG vom 26.01.1983 - 1 RA 11/82 in ZfSH/SGB 1983, S. 261). Selbst das in eine Frage gekleidete Leistungsbegehren kann als Antrag zu werten sein und ist im Zweifel entsprechend zu behandeln (vgl. Gemeinschaftskommentar zum SGB II, Rn 8 zu § 37). Die Wirksamkeit der Antragstellung ist insbesondere nicht davon abhängig, ob der Hilfebedürftige einen vom Verwaltungsträger herausgegebenen Vordruck ausgefüllt hat (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 30.05.1978 - 7/12 RAr 100/76, veröffentlicht in BSGE 46,218 [BSG 30.05.1978 - 7/12 RAr 100/76]; Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 22.12.2006 - L 10 B 1217/06 AS ER).

Der Antragsteller hat vorliegend nach seinen #von der Antragsgegnerin nicht bestrittenen Angaben bei dieser vorgesprochen und mündlich um die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II gebeten. Das reicht für eine wirksame Antragstellung im Sinne von § 37 Abs. 1 SGB II aus, mehr ist zunächst nicht erforderlich.

Nunmehr wäre es Aufgabe der Antragsgegnerin gewesen das Leistungsbegehren des Antragstellers weiter aufzuklären. Dazu wäre ein ordnungsgemäßes Verwaltungsverfahren durchzuführen gewesen (zu dessen Grundsätzen siehe die Ausführungen am Ende der Entscheidung). Die Antragsgegnerin wird dies nachzuholen haben.

Für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes hat der Antragsteller auch hinreichend glaubhaft gemacht, dass er hilfebedürftig ist.

Zwar hat er für den Monat Oktober 2008 voraussichtlich keinen Leistungsanspruch, da ihm in diesem Monat nach eigenen Angaben der noch ausstehende Lohn für den Monat September 2008 zugeflossen ist. Sein diesbezüglicher Antrag war daher abzulehnen. Für die Zeit ab Oktober 2008, für die der Antragsteller und seine Lebensgefährtin einen Bedarf in Höhe von jedenfalls 881,80 Euro glaubhaft gemacht hat (jeweils die Regelleistung gemäß § 20 Abs. 3 zzgl. der Unterkunftskosten in Höhe von 250,- Euro), stehen ihm dagegen Leistungen zu. Unter Berücksichtigung der Ausbildungsvergütung und der Halbwaisenrente der Lebensgefährtin sowie nach Abzug der Freibeträge nach § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II und § 11 Abs. 2 Nr. 6 SGB II i.V.m. § 30 SGB II ergibt sich ein anzurechnendes Einkommen von 500,13 Euro und damit unter Beachtung von § 41 Abs. 2 SGB II ein Leistungsanspruch in Höhe von 382,- Euro. Dabei sind weder evtl. Lohnzahlungen für den Monat November noch die bislang nicht angefallenen Abschläge auf die Mietnebenkosten berücksichtigt.

Die Hilfebedürftigkeit des Antragstellers wird entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass ihm ein Vorstellungsgespräch und eine Bewerbungsadresse vermittelt worden ist.

In der sozialrechtlichen Literatur ist unstrittig, dass § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB II nicht so zu verstehen ist, dass bei fehlender Arbeitsbereitschaft Leistungen nach dem SGB II nicht (mehr) erbracht werden können. Die Hilfebedürftigkeit entfällt erst bei tatsächlicher Aufnahme einer bedarfsdeckenden Beschäftigung, die bloße - ungenutzte - Möglichkeit zur Arbeitsaufnahme, die - aus welchen Gründen auch immer - ungenutzt geblieben ist, genügt dafür nicht (einhellige Meinung in der Literatur, vgl. etwa Schellhorn in Gemeinschaftskommentar zum SGB II, Rn 9 zu § 9; Mecke in Eicher/Spellbrink, Kommentar zum SGB II, Rn 14 zu § 9; Brühl/Schoch in LPK-SGB II, § 9 Rn 10; Peters in Estelmann, Kommentar zum SGB II, Rn 9 zu § 9; Berlit in InfoAlso 2003, S. 195 ff; Mrozynski, ZFSH/SGB 2004, 198ff, 216). Dies ergibt sich bereits aus dem Umkehrschluss zu § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1c SGB II, der für die Nichtaufnahme zumutbarer Arbeit empfindliche Sanktionen vorsieht. Es ist auch deshalb unmittelbar einleuchtend, weil der Arbeitslohn aus einer neu aufgenommenen Beschäftigung in der Regel erst im darauf folgenden Monat ausgezahlt wird. Jedenfalls für den dazwischen liegenden Zeitraum ist der Betroffene bei unterstellter Hilfebedürftigkeit existentiell auf Leistungen angewiesen.

Die Antragsgegnerin irrt des Weiteren, wenn sie der Auffassung ist, die Entgegennahme von Leistungsanträgen und die Gewährung von Leistungen gehöre nicht zu ihren vorrangigen Aufgaben. Selbstverständlich ist es eine der Antragsgegnerin nach dem SGB II obliegende wesentliche Aufgabe Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu bewilligen, wie sich unschwer aus den §§ 19 ff SGB II ergibt. Das SGB II ist gerade von dem Dualismus geprägt, dass es einerseits "aktive" Leistungen beinhaltet, die den Betroffenen bei der Aufnahme oder beim Erhalt einer Erwerbstätigkeit unterstützen sollen, andererseits aber durch "passive" Leistungen den notwendigen Lebensunterhalt des Betroffenen und der mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen durch pauschalierte bedarfsdeckende Leistungen und die Einbeziehung in die Sozialversicherung sichern soll (vgl. dazu Hohm in Gemeinschaftskommentar zum SGB II, Kapitel IV, Entstehung und Entwicklung des SGB II, Rn 6).

Die Antragsgegnerin hält es offenbar für einen Widerspruch, den Leistungsantrag eines Hilfebedürftigen zu bearbeiten und ihn parallel dazu kurzfristig wieder in Arbeit zu bringen. Diese Annahme ist unrichtig.

Die erfreuliche Tatsache, dass die Antragsgegnerin sich mit großem Einsatz um die Wiedereingliederung in Arbeit bemüht und damit eine ihrer Aufgaben nach dem Sozialgesetzbuch II wahrnimmt, befreit sie nicht von der Verpflichtung auch ihre übrigen Aufgaben nach dem Sozialgesetzbuch wahrzunehmen. Zu diesen Aufgaben gehören u. a. die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie die vorherige Durchführung eines korrekten Verwaltungsverfahrens.

Dieses beginnt nach Vorstellung des Gesetzgebers mit der Entgegennahme und ggf. Protokollierung des Leistungsantrages, der bei antragsabhängigen Leistungen (vgl. § 37 Abs. 1 SGB II) das Verwaltungsverfahren in Gang setzt (§§ 8, 18 Satz 2 Sozialgesetzbuch X -SGB X-). Sodann ermittelt die Behörde den Sachverhalt von Amts wegen (§ 20 Abs. 1 Satz 1 SGB X), wobei sie alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für die Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigen hat (§ 20 Abs. 2 SGB X). Dabei darf sie die Entgegennahme von Erklärungen oder Anträgen nicht deshalb verweigern, weil sie die Erklärung oder den Antrag in der Sache für unzulässig oder unbegründet hält (§ 20 Abs. 3 SGB X). Daneben ist sie verpflichtet darauf hinzuwirken, dass unverzüglich klare und sachdienliche Anträge gestellt und unvollständige Angaben ergänzt werden (§ 16 Abs. 3 Sozialgesetzbuch I -SGB I-) und dass jeder Berechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen in zeitgemäßer Weise umfassend und zügig erhält (§ 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I). Des Weiteren hat sie zu beachten, dass jeder Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach dem Sozialgesetzbuch (§ 14 Satz 1 SGB I) und auf Auskunft über alle sozialen Angelegenheiten nach dem Sozialgesetzbuch hat (§ 15 Abs. 1 SGB I), wobei sich die Auskunftspflicht auf alle Sach- und Rechtsfragen erstreckt, die für die Auskunftsuchenden von Bedeutung sein können und zu deren Beantwortung sie im Stande ist (§ 15 Abs. 2 SGB I). Für das Gericht ist nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin diesen Grundsätzen die erforderliche Aufmerksamkeit gewidmet hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Dabei war zu beachten, dass der Antragsteller zwar nicht in vollem Umfang mit seinem Leistungsbegehren durchgedrungen ist, das Verfahren insgesamt aber durch die rechtswidrige Verfahrensweise der Antragsgegnerin erforderlich geworden ist.

Frank Direktor des Sozialgerichts