Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 18.10.2012, Az.: 1 UF 158/12

Zurechnung fiktiven Einkommens bei vollschichtiger Erwerbstätigkeit des Unterhaltpflichtigen

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
18.10.2012
Aktenzeichen
1 UF 158/12
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2012, 38985
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGBS:2012:1018.1UF158.12.0A

Amtlicher Leitsatz

1. Geht der Kindern gegenüber gesteigert Unterhaltspflichtige einer vollen Erwerbstätigkeit nach, kann ihm daraus ein über den erzielten Verdienst hinausgehendes fiktives Einkommen nur dann zugerechnet werden, wenn er unterhalb seiner Qualifikation oder Fähigkeiten arbeitet. Es ist Sache des Unterhaltsgläubigers, dies dazulegen; erst bei ausreichender Darlegung liegt die Beweislast beim Unterhaltsschuldner.

2. Bei Ausübung einer Vollzeittätigkeit kann dem gesteigert Unterhaltspflichtigen nicht schematisch eine Nebentätigkeit im Umfang der nach der Arbeitszeitverordnung zulässigen Höchstzeit abverlangt werden. Ob und inwieweit dem Unterhaltsschuldner eine Nebentätigkeit zuzumuten ist und welche Einkünfte daraus erzielt werden können, bestimmt sich vielmehr nach den Umständen des Einzelfalls.

Tenor:

Den Antragstellern wird für das Beschwerdeverfahren Verfahrenskostenhilfe bewilligt, soweit sie über zuerkannte 32,71 € monatlich ab Dezember 2011 weitere 22,94 € monatlich für die Zeit von Dezember 2011 bis 14.08.2012 und soweit der Antragsteller zu 2. über zu erkannte 32,71 € monatlich ab 15.08.2012 weitere 78,59 € im Monat beansprucht.

Der weitergehende Verfahrenskostenhilfeantrag der Antragsteller wird zurückgewiesen.

Im Umfang der Verfahrenskostenhilfebewilligung wird den Antragstellern Rechtsanwältin W. beigeordnet.

Raten auf die Verfahrenskosten sind nicht zu zahlen.

Gründe

Den Antragstellern kann nur in dem aus dem Beschlusstenor ersichtlichen Umfang Verfahrenskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren bewilligt werden, weil die weitergehende Beschwerde nach dem derzeitigen Stand kein hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§§ 113 Abs. 1 FamFG, 114 ZPO). Soweit die Antragsteller weitergehenden Unterhalt beanspruchen, ist der Antragsgegner nicht leistungsfähig. Überdies ist der Antragsteller zu 1. am 15.08.2012 volljährig geworden und seitdem nachrangig gegenüber dem Antragsteller zu 2.; auch müsste sich die Mutter des Antragstellers zu 1. an dessen Unterhalt beteiligen.

1.

Da die Antragsteller im Schriftsatz vom 25.09.2012 grundsätzliche Fragen angesprochen haben, soll hierauf vorweg eingegangen werden.

Grundsätzlich trägt der Unterhaltspflichtige für behauptete volle oder teilweise Leistungsunfähigkeit die Darlegungs- und Beweislast, wie sich aus § 1603 Abs. 1 BGB ergibt. Dies gilt jedoch nicht für jede Komponente der Leistungsfähigkeit in gleicher Weise.

Geht ein Unterhaltspflichtiger keiner Erwerbstätigkeit nach oder arbeitet er weniger als es einer Vollzeittätigkeit entspricht, so muss der Unterhaltspflichtige darlegen und beweisen, dass es ihm auch bei ausreichenden Bemühungen nicht möglich ist, eine entsprechende Vollzeittätigkeit zu finden. Gelingt dieser Beweis nicht, ist dem Unterhaltspflichtigen ein fiktives Erwerbseinkommen aus einer Vollzeittätigkeit zuzurechnen.

Die Höhe des fiktiven Einkommens ist aber nach den gegebenen Verhältnissen des Einzelfalls realistisch zu schätzen. Es ist zu prüfen, welche Art von Tätigkeit der Unterhaltspflichtige nach seinem Lebenslauf, seiner Qualifikation und seinen Berufserfahrungen würde ausüben können und welchen Verdienst er hieraus erfahrungsgemäß erzielen könnte; keineswegs muss etwa der Unterhaltspflichtige beweisen, dass er kein Einkommen erzielen kann, welches ihn zur Zahlung des Mindestunterhalts befähigt (vgl. BVerfG FamRZ 2012, 1283; FamRZ 2010, 626).

Geht der Unterhaltspflichtige einer vollen Erwerbstätigkeit nach, so erfüllt er grundsätzlich seine Erwerbsobliegenheit. Lediglich wenn feststünde, dass der Unterhaltspflichtige unterhalb seiner Qualifikation und seiner Fähigkeiten arbeitet, wäre die Zurechnung eines höheren fiktiven Erwerbseinkommens möglich. Insoweit liegt die Beweislast jedoch nur beim Unterhaltspflichtigen, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen, unter denen auch einem Vollerwerbstätigen ein fiktives höheres Einkommen zugerechnet werden könnte, konkret dargelegt sind und nicht aufgeklärt werden können.

Ähnlich ist die Sachlage auch, wenn es um die Obliegenheit geht, neben einer vollen Erwerbstätigkeit noch zusätzliche Einkünfte durch eine Nebentätigkeit zu erzielen. Das Gericht muss in solchen Fällen anhand der Umstände des Einzelfalls prüfen, ob dem Erwerbstätigen die Ausübung einer weiteren Tätigkeit unter Berücksichtigung der damit verbundenen zeitlichen und physischen Belastung und unter Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes überhaupt zuzumuten ist (vgl. die von den Antragstellern zitierte Entscheidung BVerfG FamRZ 2003, 661; BGH FamRZ 2009, 626).

Letztlich dürfte dies eher die Ausnahme als die Regel sein (vgl. auch Klinkhammer in Wendl/Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 8. Aufl. 2011, § 2 Rdnr. 370 Absatz 2). Der Unterhaltsberechtigte kann keineswegs in jedem Fall schematisch verlangen, dass der Unterhaltspflichtige im Rahmen der Vorschriften der Arbeitszeitverordnung die zulässige Höchstzeit voll ausschöpft. Bei Tätigkeiten, die mit besonderer körperlicher oder seelischer Belastung verbunden sind, wird im Allgemeinen eine Nebentätigkeit neben einer Vollzeiterwerbstätigkeit kaum in Betracht kommen.

2.

In Ausfüllung dieser Grundsätze ist zunächst festzuhalten, dass der Antragsteller einer vollen Erwerbstätigkeit nachgeht, diese jedoch nicht die überwiegend übliche Arbeitszeit von ca. 40 Stunden wöchentlich erreicht.

Wenn das Amtsgericht zu der Auffassung gelangt ist, der Antragsteller arbeite im Durchschnitt 162,53 h im Monat, so erschließt sich dies weder aus der vorgelegten Bescheinigung über die Arbeitszeiten noch aus der telefonischen Auskunft der Firma A. zweifelsfrei. Vielmehr besteht zwischen der vorgelegten Arbeitszeitbescheinigung und den telefonischen Angaben von Frau P. von der Firma A. ein Widerspruch, der bislang nicht aufgeklärt ist. Von daher wird zugunsten der Antragsteller zunächst davon ausgegangen, dass der Antragsgegner im Jahr 2011 tatsächlich nur 157,57 h monatlich im Durchschnitt gearbeitet hat; im Jahr 2012 scheint die durchschnittliche Arbeitszeit, wenn man die für die ersten Monate vorgelegten Verdienstbescheinigungen zugrunde legt, eher noch niedriger geworden zu sein. Gleichwohl entspricht dies immer noch einer 35-Stunden-Woche, die in manchen Branchen als Umfang einer Vollzeittätigkeit tariflich vereinbart ist.

Dass der Antragsgegner seine Erwerbsobliegenheit schon dadurch verletzt, dass er überhaupt bei einer Zeitarbeitsfirma arbeitet und deshalb ein vergleichsweise niedriges Einkommen erzielt, ist nicht ersichtlich. Der Antragsgegner arbeitet offenbar erst wieder seit Mai 2011 in einer Vollzeitbeschäftigung. Der gesetzlichen Vertreterin des Antragstellers zu 2., die immerhin mit dem Antragsgegner verheiratet gewesen ist, müsste es bekannt sein, wenn dieser berufliche Erfahrungen und Qualifikationen hätte, die die derzeit ausgeübte Tätigkeit als Gabelstaplerfahrer als weit unter seinen Möglichkeiten liegend erscheinen ließen. Derartiges ist jedoch nicht vorgetragen. Der Senat muss deswegen zunächst davon ausgehen, dass der Antragsgegner, soweit es um die Art der Tätigkeit und auch die Höhe des Entgelts dafür geht, einer angemessenen Erwerbstätigkeit nachgeht.

Die Antragsteller können auch nichts daraus herleiten, dass der Antragsgegner nur 151,57 Stunden im Monat bezahlt bekommt und die restlichen Stunden dem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben werden. Die Auffassung der Antragsteller, der Antragsgegner hätte sich die Überstunden ebenso gut auszahlen lassen können, trifft offenbar nicht zu. Die vom Antragsgegner vorgelegte Bescheinigung der Firma A. vom 07.05.2012 verweist auf eine tarifvertragliche Regelung, wonach alle über die vertragliche monatliche Arbeitszeit von 151,67 Stunden hinausgehenden geleisteten Arbeitsstunden dem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben und erst dann ausgezahlt werden, wenn sie die zulässige Höchstmenge von 150 Plusstunden übersteigen. Diese Beschränkung musste der Antragsgegner offenbar hinnehmen, als er begonnen hat, für die Firma A. zu arbeiten; die Behauptung, dass der Antragsgegner auch die Auszahlung der über der vereinbarten Arbeitszeit liegenden Arbeitsstunden hätte wählen können, ist durch die genannte Bescheinigung widerlegt.

Soweit der Antragsgegner danach mit seiner Erwerbstätigkeit nicht den vollen Umfang einer üblichen Vollzeitbeschäftigung erreicht, ist ihm allerdings, wie das Amtsgericht mit Recht ausgeführt hat, die Ausübung einer Nebentätigkeit wohl zuzumuten. Zugunsten der Antragsgegner soll weiterhin von einem im Rahmen dieser Nebentätigkeit zu erzielenden Einkommen von 148,00 € monatlich ausgegangen werden (wobei sich die Frage stellen würde, ob nicht hiervon noch pauschal ein gewisser Betrag für mögliche berufsbedingte Aufwendungen abgesetzt werden müsste).

Der Umstand, dass die Erwerbstätigkeit des Antragsgegners zeitlich möglicherweise einen geringeren Umfang hat als vom Amtsgericht angenommen und im Jahr 2012 wohl im zeitlichen Ausmaß noch weiter zurückgegangen ist, führt nicht dazu, dass ein noch höheres Nebentätigkeitsentgelt anzunehmen wäre. Das Amtsgericht hat nämlich eine Nebentätigkeit im vollen Umfang der nach der Arbeitszeitordnung zulässigen Wochenstunden zugrunde gelegt. Dem Senat erscheint dies im Ergebnis unangemessen viel. Denn auch wenn die Tätigkeit eines Gabelstaplerfahrers nicht ausgesprochen anstrengend sein mag, so ist zu bedenken, dass der Antragsgegner zumindest in Wechselschicht (zeitweise auch in Nachtschicht) arbeitet, was gerichtsbekannt zu besonderer Belastung führt. Weiterhin hat er erhebliche Fahrtzeiten zur Arbeit und auf dem Heimweg zurückzulegen, die in die Abwägung ebenfalls einfließen müssen. Dies gilt erst recht, wenn man ihm zumutet, öffentliche Verkehrsmittel in Anspruch zu nehmen statt mit dem Auto zu fahren (dazu weiter unten). Alles in allem kann dem Antragsgegner eine Nebentätigkeit, die hinsichtlich des zeitlichen Umfangs und des ihm fiktiv angerechneten Verdienstes über die Annahmen des Amtsgerichts hinausgeht, nicht zugemutet und ein höherer Verdienst aus Nebentätigkeit daher auch nicht fiktiv unterstellt werden.

3.

Für zweifelhaft hält der Senat auch die Begrenzung der dem Antragsteller erwachsenden Fahrtkosten auf 90,00 € monatlich. Denn die Annahme, er hätte eine Fahrgemeinschaft finden können, die auch noch mindestens vier Teilnehmer umfassen müsste, um auf den angegebenen Betrag zu kommen, lässt sich auf tatsächliche Anhaltspunkte nicht stützen. Dass mit Arbeitnehmern der Firma A. eine solche Fahrgemeinschaft nicht möglich ist, ergibt sich aus der Auskunft von Frau P. vom 11.06.2012, wonach nur zwei Mitarbeiter der Firma A. in Peine eingesetzt sind, die zudem in verschiedenen Schichten arbeiten. Dass mehrere Arbeitnehmer der Firma F. in Braunschweig wohnen, in den gleichen Schichten wie der Antragsgegner arbeiten und zudem noch bereit sind, mit ihm eine Fahrgemeinschaft zu bilden, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich; dies kann auch (anders als vielleicht bei Großunternehmen wie der Volkswagen AG) nicht ohne weiteres und ohne nähere Anhaltspunkte unterstellt werden.

Deswegen muss dem Antragsgegner wenigstens ein Fahrtkostenbetrag in Höhe der Kosten einer Monatskarte im Verkehrsverbund Braunschweig zugebilligt werden. Für eine Drei-Zonen-Karte zwischen Braunschweig und Peine würden im Abonnement monatlich 111,40 € von ihm zu zahlen sein. Er behauptet zwar, dass er nicht zu allen Schichten mit öffentlichen Verkehrsmitteln seine Arbeitsstelle erreichen könne, hat allerdings bislang versäumt, seine genauen Arbeitszeiten vorzutragen, so dass dies derzeit nicht überprüfbar ist.

4.

Aus den vorliegenden Verdienstbescheinigungen lässt sich für die Zeit von Juni 2011 bis April 2012 ein Nettoeinkommen des Antragsgegners von 1.024,70 € monatlich ersehen. Zusammen mit dem dem Antragsgegner zugerechneten Einkommen aus einer Nebentätigkeit von 148,00 € monatlich errechnen sich 1.172,70 € im Monat. Zieht man hiervon die Kosten für eine Monatskarte in Höhe von 111,40 € ab, verbleiben 1.061,30 €.

Zu dem notwendigen Selbstbehalt von 950,00 € im Monat verbleibt eine Differenz von 111,30 €, die für den Unterhalt der Antragsteller bzw. ab Volljährigkeit des Antragstellers zu 1. nur noch für den Unterhalt des Antragstellers zu 2. eingesetzt werden kann. Für die Zeit bis zur Volljährigkeit entfallen damit auf jeden der Antragsteller 55,65 €, ab Volljährigkeit des Antragstellers zu 1. steht der volle Betrag von 111,30 € wegen Nachrangigkeit des Antragstellers zu 1. dem Antragsteller zu 2. zu.

Die Auffassung der Antragsteller, der notwendige Eigenbedarf des Antragsgegners sei herabzusetzen, weil er niedrigere Wohnkosten habe als im notwendigen Selbstbehalt pauschal enthalten, steht mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht in Einklang. Der Bundesgerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 23.08.2006 (FamRZ 2006, 1664, 1666 unter Rdnr. 22) ausdrücklich auf die Lebensgestaltungsautonomie des Unterhaltsberechtigten hingewiesen. Diesem sei es nicht verwehrt, seine Bedürfnisse anders als in den Unterhaltstabellen vorgesehen zu gewichten und sich mit einer preiswerteren Wohnung zu begnügen, um zusätzliche Mittel für andere Zwecke einsetzen zu können. Dieser Beschluss betrifft ausdrücklich einen Fall der gesteigerten Unterhaltspflicht für ein minderjähriges Kind. Soweit der Senat in der von den Antragstellern zitierten veröffentlichen Entscheidung (1 UF 83/06) eine andere Auffassung vertreten hat, ist darauf hinzuweisen, dass dem Senat der erst danach ergangene Beschluss des Bundesgerichtshofes damals nicht bekannt sein konnte. An seiner damaligen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entgegenstehenden Auffassung hält der Senat nicht fest.

5.

Soweit der Senat bei der Anregung zu einem Vergleich auf eine veröffentliche amerikanische Studie hingewiesen hat, sollte damit nur gesagt werden, dass es die Chancen der Realisierung von Unterhaltstiteln vergrößern kann, wenn sich die Titel an den tatsächlichen Einkünften des Unterhaltspflichtigen orientieren und keine überzogenen Beträge enthalten.

Wenn in Einzelrichterentscheidungen des Senats zur Erwerbsobliegenheit des Unterhaltspflichtigen strengere Anforderungen als vorliegend gestellt worden sind, wird es sich häufig um Beschwerdeentscheidungen gehandelt haben, in denen es um Verfahrenskostenhilfe für Unterhaltsgläubiger in der ersten Instanz ging (wie z.B. in dem der Antragsschrift beigefügten Beschluss). Beim Erstzugang zum Gericht ist die Erfolgsaussicht für den jeweils Verfahrenskostenhilfe Beantragenden jedoch großzügiger zu beurteilen als bei der Entscheidung über den Verfahrenskostenhilfeantrag für die zweite Instanz, wenn die maßgeblichen Fragen erstinstanzlich weitgehend geklärt sind.

Soweit den Beschwerdeanträgen nach den vorstehenden Ausführungen die hinreichende Erfolgsaussicht fehlt, ist der Verfahrenskostenhilfeantrag zurückzuweisen.