Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 11.04.1986, Az.: 1 Ss (OWi) 418/85
Gewährleistung einer ausreichenden Kompensation von Messfehlern bei der in Niedersachsen angewandten Variante des Spiegelmeßverfahrens bei Geschwindigkeiten über 130 km/h
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 11.04.1986
- Aktenzeichen
- 1 Ss (OWi) 418/85
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1986, 20341
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:1986:0411.1SS.OWI418.85.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- StA Göttingen - AZ: 86 Js 3473/85
- AG Duderstadt - 12.06.1985
Rechtsgrundlagen
- § 24 StVG
- § 49 Abs. 1 Nr. 3 StVO
- § 49 Abs. 3 Abs. 3 Nr. 2c StVO
Fundstelle
- NJW 1987, 967-968 (Volltext mit amtl. LS)
Verfahrensgegenstand
Verkehrsordnungswidrigkeit
Amtlicher Leitsatz
Eine ausreichende Kompensation von Meßfehlern ist bei der in Niedersachsen angewandten Variante des Spiegelmeßverfahrens (rechnerische Verkürzung der Meßstrecke um 4 Meter und gleichbleibender Sicherheitsabschlag von 5 km/h von der ermittelten Geschwindigkeit) bei Geschwindigkeiten über 130 km/h nicht mehr gewährleistet.
In der Bußgeldsache
...
hat der 1. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Celle
am 11. April 1986
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht M. sowie
die Richter am Oberlandesgericht Dr. K. und S.
beschlossen:
Tenor:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Duderstadt vom 12. Juni 1985 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Duderstadt zurückverwiesen.
Gründe
Das Amtsgericht hat den Betroffenen "wegen fahrlässiger Zuwiderhandlung gegen die Straßenverkehrsordnung", nämlich einer Verkehrsordnungswidrigkeit nach § 24 StVG i.V.m. mit §§ 49 Abs. 1 Nr. 3, 3 Abs. 3 Nr. 2 c StVO zu einer Geldbuße von 150 DM verurteilt. Es ist davon ausgegangen, daß der Betroffene mit seinem Pkw am 17. Oktober 1984 gegen 12.18 Uhr die Bundesstraße 27 in der Gemarkung Wollbrandshausen mit einer Geschwindigkeit von 133 km/h statt der dort außerörtlich zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h befuhr. Diese Feststellungen hat das Amtsgericht im wesentlichen den Ausüberschreitenden Meßeinsatz - könnten durch die vorstehend dargelegten Korrektive nicht ausgeglichen werden.
Die mit Senatsbeschluß vom 6. Dezember 1985 zugelassene Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Bei der hier angewendeten Variante des Spiegelmeßverfahrens werden insbesondere im Bereich höherer Geschwindigkeiten mögliche Fehlerquellen bei der Geschwindigkeitsmessung durch die rechnerische Verkürzung der Meßstrecke um 4 Meter und den gleichbleibenden Sicherheitsabschlag von 5 km/h nicht ausreichend ausgeglichen.
Das Spiegelmeßverfahren ist allerdings als prinzipiell zuverlässig anerkannt (vgl. OLG Karlsruhe DAR 1970, 137 ff; OLG Hamm DAR 1972, 82; BayObLG VRS 40, 285 ff; OLG Koblenz VRS 68, 58 f; VRS 69, 302 ff; Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 28. Aufl., Rdnr. 61 zu § 3 StVO; ständige Rechtsprechung dieses Gerichts, vgl. z.B. Senatsbeschluß vom 17. Oktober 1984 - 1 Ss (OWi) 559/84 -). Daran ändert der Umstand nichts, daß das Spiegelmeßverfahren von den Polizeibehörden in Hamburg, Bremen, Berlin und Hessen nicht mehr angewandt wird, nach Auskunft des Hessischen Ministers des Inneren vom 7. Januar 1986, weil zum Ausgleich denkbarer Meßungenauigkeiten vom Meßergebnis relativ hohe Toleranzwerte abzuziehen waren.
Als wesentliche Fehlerquellen bei diesem Vorfahren kommen Fehler bei der Zeitnahme infolge Verwendung von Stoppuhren ungenügender Genauigkeit und Meßfehler der Polizeibeamten bei der Zeitnahme in Betracht.
Die maximale Gangungenauigkeit einer geeichten Stoppuhr entspricht nach den Anforderungen der Eichordnung dem kleinsten Skalenwert (i.d.R. 0,1 sec) der Stoppuhr (= Eichfehlergrenze), allerdings nur soweit bestimmte Temperaturen nicht unter- oder überschritten werden (5° Celsius/35° Celsius) und die Lage der Stoppuhr um nicht mehr als 30° von den Lagen 'Krone oben' oder 'Zifferblatt oben' abweicht (vgl. Löhle in DAR 1984, 394 ff (400)). Beim Einsatz einer Stoppuhr soll nach Löhle (a.a.O.) indes nicht auf die Eichfehlergrenze, sondern auf die Verkehrsfehlergrenze abgestellt werden, die in der Regel das Doppelte der Eichfehlergrenze beträgt. Somit kann bei einer Stoppuhr mit der kleinsten Skaleneinheit von 0,1 sec, wie sie in Niedersachsen bei Geschwindigkeitsmessungen nach dem Spiegelmeßverfahren Verwendung findet, beim derzeitigen Erkenntnisstand eine maximale Gangungenauigkeit von 0,2 Sekunden auftreten.
Aus der menschlichen Unzulänglichkeit, Stoppuhren exakt am Beginn bzw. am Ende eines bestimmten Vorganges zu betätigen, resultierende Fehler bei der Zeitnahme - selbst durch erfahrene, wiederholt getestete und bei der Messung konzentrierte und nicht über einen längeren ununterbrochenen Zeitraum als eine Stunde eingesetzte Beamte - betragen nach Untersuchung von Löhle (a.a.O.) etwa 0,1 bis 0,3 Sekunden und können sich bei Konzentrationsmangel - etwa bei zu langem Einsatz - bis auf 0,6 Sekunden erhöhen.
Die bisherige niedersächsische Praxis der Polizeibehörden, die 154 Meter lange Meßstrecke rechnerisch um 4 Meter (= 2,6 %) zu verkürzen und von der hiervon ausgehend errechneten Geschwindigkeit einen gleichbleibenden Sicherheitsabschlag von 5 km/h vorzunehmen, ist - im Ergebnis - prinzipiell nicht zu beanstanden. So bewirkt schon die Verlängerung der tatsächlichen Meßstrecke um 4 Meter einen dem Betroffenen zugutekommenden Zeitfaktor von ca. 0,15 Sekunden (bei einer Geschwindigkeit von 100 km/h), der sich bei einem 4 Meter langen Fahrzeug bis auf 0,3 Sekunden erhöhen kann, wenn es tatsächlich gelingt, den Meßvorgang in dem Augenblick auszulösen, in dem das Fahrzeug mit der Vorderfront in die Meßstrecke einfährt. Die Verkehrsfehlergrenze der Stoppuhren kann damit in etwa als kompensiert erachtet werden. Zeitnahmefehler der Meßbeamten werden in der Größenordnung von jedenfalls ca. 0,2 Sekunden ausgeglichen durch Zugrundelegung der zeitlängsten Messung, Abzug einer Meßfehlertoleranz von 5 km/h und Abrundung auf volle km/h. Insofern sieht der Senat keine Veranlassung, von seiner bisherigen Rechtsprechung abzurücken.
In letzter Zeit sind dem Senat jedoch gehäuft Fälle zur Entscheidung vorgelegt worden, bei denen Messungen außerhalb geschlossener Ortschaften erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitungen durch hohe Geschwindigkeiten ergaben. Deshalb ist nunmehr zu prüfen, ob ab einer bestimmten Geschwindigkeit die Meßfehlertoleranz von 5 km/h (neben der rechnerischen Verkürzung der Meßstrecke) geeignet ist, Meßfehler ausreichend zu berücksichtigen. Dabei ist insbesonders zu bedenken, daß ein von der ermittelten Geschwindigkeit unabhängiger Sicherheitsabschlag von 5 km/h in Abzug gebracht wird und bei dem auf diese Weise vorgenommenen Ausgleich Fehler bei der Zeitnahme (und der Streckenvermessung) in die Proportion eingehen, die der Geschwindigkeitsberechnung zugrundeliegt, und dieser Fehler bei zunehmender Geschwindigkeit proportional ansteigt. Nach der bisher angewandten Methode der Geschwindigkeitsermittlung wirkt sich der Sicherheitsabschlag proportional umso geringer aus, je höher die gefahrene Geschwindigkeit ist.
Daß - wie dargelegt - in Niedersachsen zur tatsächlichen Meßstrecke von 154 Metern faktisch noch weitere rund 4 Meter hinzugezählt werden, weil die Stoppuhren in Gang gesetzt werden sollen, wenn das Fahrzeug mit der Frontseite in die Meßstrecke einfährt, die Zeitmessung aber erst endet, wenn es mit dem Heck die Meßstrecke verläßt, hält der Senat für ungeeignet, um Meßfehler auszugleichen. Denn zum einen sind Fahrzeuge unterschiedlich lang. Zum anderen spricht einiges dafür, daß der Reaktionsverzug der Polizeibeamten bei Beginn der Messung größer als am Ende der Messung ist und somit durchaus nicht gewährleistet ist, daß die Stoppuhren bereits in Gang gesetzt werden, wenn das Fahrzeug mit der Vorderfront in die Meßstrecke einfährt. Ein Reaktionsverzug am Meßstreckenende, analog zu jenem am Meßbeginn, der diesen zu kompensieren geeignet wäre, kann andererseits nicht zugrundegelegt werden, da der Meßbeamte das Fahrzeug durch Blickzuwendung bis zum Ende der Meßstrecke verfolgen kann und dadurch den Zeitpunkt des Überquerens der Markierung in etwa vorauskalkulieren kann. Das "Überraschungsmoment", das beim Auftreten des "negativen Blitzes" am Meßbeginn gegeben ist, tritt beim Meßende deshalb nicht mehr in gleicher Weise auf. Schließlich wird nicht unbeachtet bleiben können, daß Meßungenauigkeiten umso häufiger sein dürften, je höher die zu messende Geschwindigkeit ist.
So bleibt neben der rechnerischen Verkürzung der Meßstrecke von 154 auf 150 Meter als Korrektiv nur noch, daß von der gestoppten Geschwindigkeit gleichmäßig 5 km/h abgezogen werden. Da sich nach dieser Berechnungsmethode der Sicherheitsabschlag umso weniger auswirkt, je höher die gefahrene Geschwindigkeit ist, ist hierbei eine ausreichenden Kompensation von Meßfehlern i.d.R. ab einer - nach der Durchfahrtzeit von 4,1 Sekunden errechneten - Geschwindigkeit von 131,7 km/h nicht mehr sicher gewährleistet. Angelastet wird einem Kraftfahrer in diesem Falle eine Geschwindigkeit von 131,7 km/h (abgerundet: 131 km/h) abzüglich 5 km/h = 126 km/h, während bei - wie noch auszuführen sein wird - ausreichender Berücksichtigung von Meßfehlern dem Kraftfahrer maximal eine Geschwindigkeit von 120 km/h zuzurechnen ist. Bei einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 km/h ergibt dies einmal eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 26 km/h, die nach dem bundeseinheitlichen Bußgeldkatalog mit einer Geldbuße von 100 DM zu ahnden ist, während bei ausreichender Meßfehlerkompensation die Geschwindigkeitsüberschreitung 20 km/h beträgt und dann in der Regel auf eine Geldbuße von 40 DM zu erkennen ist.
Der errechnete Wert von 120 km/h ist wie folgt ermittelt worden: Zur Meßzeit von 4,1 Sekunden sind zur Kompensation von Meßfehlern 0,5 Sekunden hinzugezählt worden, so daß der Geschwindigkeitsberechnung eine Durchfahrtszeit von 4,6 Sekunden zugrundegelegt worden ist. Die weitere Berechnung ist dann - ohne Berücksichtigung möglicher Fehler bei der Vermessung der überwachten Meßstrecke - auf der Basis der tatsächlichen Länge der Meßstrecke von 154 Metern erfolgt, weil nach Löhle (a.a.O.) Fehler bei der Vermessung derüberwachten Strecke in aller Regel nicht gegeben sind.
Auf der Basis einer fiktiven Länge der Meßstrecke von 150 Metern hingegen würde sich sogar nur eine Geschwindigkeit von 117 km/h ergeben. Bei dieser Art der Geschwindigkeitsberechnung wäre die in Niedersachsen praktizierte Meßfehlerkompensation in aller Regel bereits ab einer gestoppten Geschwindigkeit von 112,5 km/h nicht mehr ausreichend. Indes hält der Senat im Falle eines Sicherheitszuschlags von 0,5 Sekunden zur gestoppten Zeit zum Ausgleich von Meßungenauigkeiten (bei der Zeitnahme) zumindest einen weiteren relativ großen Sicherheitszuschlag von 2,5 % zur Meßstrecke zum Ausgleich möglicher Fehler bei der Streckenvermessung derzeit für nicht notwendig. So haben z.B. das OLG Braunschweig (DAR 1961, 290) - allerdings für das verwandte Funkstoppmeßverfahren - und das OLG Schleswig (VM 1970, 32) - ebenfalls für das Funkstoppmeßverfahren - einen Zuschlag von 1 % auf die (dort 300 bzw. 400 m lange) Meßstrecke für ausreichend erachtet.
Folgende Beispiele zeigen, daß nach der bisher angewandten Methode der Geschwindigkeitsermittlung der Sicherheitsabschlag umso geringer wird, je höher die Geschwindigkeit ist:
Durchfahrtszeit durch 154 m lange Strecke in sec | angelastete Geschwindigkeit nach bisheriger Methode in km/h | vorwerfbare Geschwindigkeit bei Zeitzuschlag von 0,5 sec bei 154 m tats. Meßstrecke |
---|---|---|
5,1 | 100 | 99 |
4,3 | 120 | 115 |
4,1 | 126 | 120 |
3,7 | 140 | 132 |
3,2 | 163 | 149 |
Auf welche Weise und in welchem Umfang die aufgezeigten möglichen Fehlerquellen bei der Ermittlung der Geschwindigkeit eines Fahrzeugs angemessen zu berücksichtigen sind, entscheidet der Tatrichter. Hierfür kommen neben der vom Senat aufgezeigten und für ausreichend erachteten durchaus mehrere andere Möglichkeiten in Betracht. So wird z.B. nach den einschlägigen Dienstvorschriften in Schleswig-Holstein der längsten der gestoppten Zeiten eine Meßtoleranz von 0,8 Sekunden (0,5 Sekunden für Gangungenauigkeiten der Stoppuhren und 0,3 Sekunden für mögliche Meßfehler), in Baden-Württemberg im Vorgriff auf einen in Ausarbeitung befindlichen Erlaß eine solche von 0,5 Sekunden hinzugezählt. Nach Auffassung des BayObLG (NJW 1952, 234 [BayObLG 27.06.1951 - RevReg. Nr. III 160/51]) und das OLG Braunschweig (a.a.O.) sowie des OLG Hamm (VRS 44, 143) ist - allerdings für das mit größeren Fehlermöglichkeiten behaftete Funkstoppmeßverfahren - ein Sicherheitszuschlag von 1 Sekunde zur gemessenen Zeit für erforderlich gehalten worden, nach Auffassung des OLG Hamburg (VRS 55, 373 [OLG Hamburg 07.03.1978 - 1a Ss 246/76]) ebenfalls für das Funkstoppmeßverfahren ein solcher von 0,5 Sekunden. Dem OLG Koblenz (VRS 68, 58) erscheint offenbar ein Abzug von 5 % der gemessenen Geschwindigkeit ausreichend, während sich das OLG Karlsruhe (DAR 1970, 137) mit einer nach den Untersuchungen von Löhle (a.a.O.) auf Bedenken stoßenden gleichbleibenden Meßfehlertoleranz von 3 km/h begnügt hat. Zu bedenken ist allerdings, daß bei Erlaß der zitierten Entscheidungen die Untersuchungen von Löhle nicht bekannt waren. Mit ihnen wird sich der Tatrichter auseinanderzusetzen haben. Dieser hat die Höhe des gebotenen Sicherheitsabschlags unter Berücksichtigung der im jeweiligen Einzelfall in Betracht kommenden Fehler eigenverantwortlich zu bemessen; seine Festsetzung ist nicht Sache des Rechtsbeschwerdegerichts (vgl. Senatsbeschluß VRS 52, 58). Das Rechtsbeschwerdegericht hat lediglich nachzuprüfen, ob Meßfehler in ausreichender und unangreifbarer Weise berücksichtigt worden sind. Diese Prüfung kann hier nicht vorgenommen werden, da die Gründe des angefochtenen Urteils sich nicht mit möglichen Fehlerquellen bei der Geschwindigkeitsmessung im Bereich höherer Geschwindigkeiten auseinandersetzen. Deshalb war das Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung zurückzuverweisen.
Im Hinblick auf eine weitere Beanstandung des Betroffenen bemerkt der Senat allerdings, daß eine mögliche Übermüdung der die Zeit messenden Polizeibeamten vom Amtsgericht hier ausreichend erörtert und als zusätzliche Fehlerquelle in nicht angreifbarer Weise ausgeschlossen worden ist.