Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 29.06.2010, Az.: 1 Ws 324/10
Unterbrechung der Strafvollstreckung wegen unheilbarer Erkrankung des Verurteilten
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 29.06.2010
- Aktenzeichen
- 1 Ws 324/10
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 18804
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2010:0629.1WS324.10.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Hannover - 05.05.2010 - AZ: 83 StVK 13/10
Rechtsgrundlage
- § 455 Abs. 4 StPO
Fundstelle
- StraFo 2010, 351
Amtlicher Leitsatz
In begründeten Ausnahmefällen kann eine Strafunterbrechung auch über die Voraussetzungen des § 455 Abs. 4 StPO hinaus in Betracht kommen (vgl. hierzu BVerfG, 9. März 2010, 2 BvR 3012/09). Eine entsprechende - auch ablehnende - Entscheidung darf die Menschenwürde des Verurteilten nicht außer Acht lassen und kann nur auf einer zureichenden Tatsachenfeststellung getroffen werden.
Tenor:
Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Deggendorf vom 14. April 2010 sowie der Beschluss des Landgerichts Hannover vom 5. Mai 2010 werden aufgehoben.
Die Sache wird zu erneuter Entscheidung über den Antrag des Verurteilten vom 25. März 2010 an die Staatsanwaltschaft Deggendorf zurückgegeben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die hierdurch verursachten notwendigen Auslagen des Verurteilten fallen der Landeskasse zur Last.
Gründe
1. Der Verurteile verbüßt derzeit wegen Mordes eine lebenslange Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Deggendorf vom 30. Oktober 1987, deren Mindestverbüßungsdauer auf 18 Jahre festgesetzt wurde. Dieser Zeitpunkt war am 7. Mai 2005 erreicht.
Unter dem 25. März 2010 hat der Verurteilte - erneut - beantragt, die Vollstreckung dieser lebenslangen Freiheitsstrafe gem. § 455 Abs. 4 StPO sofort zu unterbrechen. Zur Begründung wird ausgeführt, der Verurteilte, dessen Vollzug ohne Beanstandungen sei, sei unheilbar an Zungen als auch an Lungenkrebs erkrankt und könne Wegstrecken nur noch unter Zuhilfenahme eines Rollators bewältigen. Die Justizvollzugsanstalt sehe keine Gefahr durch den Verurteilten, weshalb von dort eine Unterbrechung der Vollstreckung und nachfolgend ein Aufenthalt in einer betreuten Wohnform befürwortet werde. Diesen Antrag hat die Staatsanwaltschaft Deggendorf mit Bescheid vom 14. April 2010 abgelehnt mit der Begründung, die Voraussetzungen des § 455 Abs. 4 StPO lägen nicht vor, vielmehr befinde der Verurteilte sich in einem schlechten Gesundheitszustand. Überdies stehe einer Unterbrechung nach Maßgabe von § 455 Abs. 4 Satz 2 StPO entgegen, dass von dem Verurteilten ausweislich einer gutachterlichen Stellungnahme vom 25. April 2007 eine mittlere Gefahr des Begehens neuer Sexualstraftaten ausgehe. Den gegen diesen Bescheid mit Einwendungen gerichteten Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat die Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 5. Mai 2010 zurückgewiesen. Auch die Kammer hat ausgeführt, dass keine der in§ 455 Abs. 4 StPO benannten Voraussetzungen vorlägen undüberdies ausweislich des Gutachtens vom 25. April 2007 in Verbindung mit der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt H. vom 24. Juni 2009 ein mittleres Risiko einer erneuten Sexualstraftat bestehe. die Entscheidung der Staatsanwalt Deggendorf lasse hiernach Ermessensfehler nicht erkennen. Gegen diese Entscheidung wendet sich der Verurteilte mit seiner sofortigen Beschwerde und rügt das Vorliegen einer ermessensfehlerhaften Entscheidung auf der Grundlage einer unzureichend ermittelten Tatsachengrundlage, die zudem Belange der Menschenwürde außer Acht lasse. Letztlich sei die Entscheidung des Landgerichts auch in sich widersprüchlich.
2. Dem nach §§ 462 Abs. 3 Satz 1, 311 Abs. 2 StPO statthaften und zulässig erhobenen Rechtsmittel kann ein zumindest vorläufiger Erfolg nicht versagt bleiben. Zu Recht rügt der Verurteilte, dass die von ihm angefochtene Entscheidung der Staatsanwaltschaft auf einer unzureichend ermittelten Tatsachengrundlage beruht und überdies das Recht auf Freiheit und Belange der Menschenwürde außer Acht gelassen hat.
Der Verurteilte stützt sein Rechtsmittel zu Recht auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. März 2010 (Az.: 2 BvR 3012/09), nach der in Fällen wie dem Vorliegenden von folgenden Grundsätzen auszugehen ist:
Das Gebot zur Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs wird durch das Grundrecht des Gefangenen auf Leben und körperliche Unversehrtheit begrenzt. Die Interessen des Gefangenen überwiegen jedenfalls dann, wenn im Hinblick auf dessen Gesundheitszustand ein schwerwiegender Gesundheitsschaden zu erwarten ist. Die gebotene und grundsätzlich auch realisierbare Chance auf Wiedererlangung der Freiheit darf hiernach nicht auf einen von Siechtum und Todesnähe gekennzeichneten Lebensrest reduziert werden. Bei der Auslegung von § 455 Abs. 4 StPO hat die Vollstreckungsbehörde Bedeutung und Tragweite des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art 1 GG in Rechnung zu stellen. Das Bundesverfassungsgericht folgert hieraus zugleich, dass diese Auslegung im Einzelfall eine Strafunterbrechung auch über den Wortlaut von § 455 Abs. 4 StPO hinaus gebieten könne. Hiermit setzt sich die Entscheidung der Staatsanwaltschaft nicht auseinander, wenn diese lediglich darauf gestützt wird, bereits die in § 455 Abs. 4 StPO niedergelegten Vorrausetzungen lägen nicht vor. Vor diesem Hintergrund ist bereits die rechtliche Prämisse der Entscheidung der Staatsanwaltschaft nicht zutreffend.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (aaO. m.w.N.) müssen Entscheidungen über den Entzug der persönlichen Freiheit überdies auf zureichender Sachaufklärung beruhen. Das Bundesverfassungsgericht folgert hieraus das Bedürfnis, bei Fällen wie dem vorliegenden Einzelheiten zum aktuellen Gesundheitszustand, zur fraglichen Lebenserwatung und zur Gefährlichkeit des Gefangenen zu klären und hierzu unter Umständen ärztliche Stellungnahmen oder ein Sachverständigengutachten einzuholen (aaO.). Auch hieran fehlt es. Der aktuelle Gesundheitszustand des Verurteilten (nicht nur die Diagnose) wird nicht beleuchtet, ebenso wenig wie die Frage der Lebenserwartung. Der aktuelle Gesundheitszustand des Verurteilten ist vorliegend auch deshalb von Bedeutung, weil hieraus tragfähige Rückschlüsse auch im Hinblick auf die Gefährlichkeit des Verurteilten hergeleitet werden können. Der Verurteilte hat hierzu vorgetragen, er könne sich nur noch unter Zuhilfenahme eines Rollators fortbewegen. Auch hiermit setzt sich die Entscheidung der Staatsanwaltschaft nicht auseinander. Die Entscheidung zur Gefährlichkeit des Verurteilten im Sinne von § 455 Abs. 4 Satz 2 StPO schließlich stützt sich im Wesentlichen auf eine gutachterliche Stellungnahme vom April 2007. auch die ergänzende Einschätzung vom 24. Juni 2009 - die mittlerweile ebenfalls ein Jahr alt ist - nimmt hierauf Bezug. Eine aktuelle Gefährlichkeitsprognose kann hierauf zumal in Anbetracht des maßgeblichen, aktuellen Gesundheitszustands - jedenfalls nicht gestützt werden. In diesem Zusammenhang bemerkt der Senat ergänzend, dass nach der Zusammenfassung des Gutachtens vom 25. April 2007 der Sachverständige trotz einer allenfalls mittelgradigen Prognosegefahr kein Anlass zu der Annahme gesehen hat, dass der Verurteilte Lockerungsmaßnahmen missbrauchen würde (vgl. Bl. 237 d.A.). Auch hiermit setzt sich die angefochtene Entscheidung nicht auseinander.
Aufgrund der schon unzutreffenden rechtlichen Prämisse und mangels zureichender Sachverhaltsaufklärung kam es auf die Frage, ob die angefochtene Entscheidung Ermessensfehler aufweist, nicht mehr entscheidend an. Zu einer eigenen - vor allem zeitnahen - abschließenden Sachentscheidung war der Senat - trotz der Vorschriften der §§ 308 Abs. 2, 309 Abs. 2 StPO - nicht imstande. Denn die Vorschrift des § 455 Abs. 4 StPO eröffnet Ermessen der Vollstreckungsbehörde, die im Wege der Anfechtung nach § 458 StPO und auch auf das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde vom Gericht deshalb nur begrenzt überprüft werden kann (vgl. Woynar in HKStrafprozessordnung, 4. Aufl., § 455 Rn. 10). Der Senat kann das der Vollstreckungsbehörde zustehende Ermessen nicht durch sein eigenes ersetzen. Auch eine Entscheidung unter Annahme einer Ermessungsreduzierung ´auf null´ kann nicht angenommen werden, da es bereits an zureichender Sachverhaltsaufklärung fehlt, die einer Ermessensentscheidung zugrunde zu legen ist. Die Staatsanwaltschaft wird vielmehr Gelegenheit haben, über den Antrag des Verurteilten vom 25. März 2010 auf der Grundlage eines vollständig ermittelten, aktuellen Sachverhalts und unter Berücksichtigung der aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hervorgehenden Grundsätze frei von Ermessensfehlern und mit zureichender Begründung erneut zu entscheiden.
Nur zur Klarstellung weist der Senat abschließend darauf hin, dass die Justizvollzugsanstalt sich zwar für ein Unterbringen des Verurteilten in einer betreuten Wohnform ausgesprochen hat, dies indessen unter der Annahme einer von dort befürworteten Strafunterbrechung.
4. Da der Verurteilte mit seiner Beschwerde Erfolg hatte, folgt nach Abschluss des Beschwerdeverfahrens die Kostenentscheidung auf § 467 Abs. 1 StPO in entsprechender Anwendung.
5. Ein Rechtsmittel gegen den vorliegenden Beschluss ist nach § 304 Abs. 4 StPO nicht eröffnet.