Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 12.01.1978, Az.: 5 U 10/77

Streit um einen Anspruch auf Schmerzensgeld nach einem Verkehrsunfall unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung der Aufsichtspflicht; Anforderungen an die Aufsichtspflicht von Eltern im Straßenverkehr; Beweislastverteilung hinsichtlich einer verschärften Aufsichtspflict von Eltern

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
12.01.1978
Aktenzeichen
5 U 10/77
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1978, 16609
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:1978:0112.5U10.77.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Lüneburg - 16.11.1976 - AZ: 4 O 181/75

Verfahrensgegenstand

Schadensersatz

...

hat der 5. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die mündliche Verhandlung vom 1. Dezember 1977
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht H.,
den Richter am Oberlandesgericht Dr. D. und
den Richter am Landgericht Dr. H.
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das am 16. November 1976 verkündete Urteil des Einzelrichters der 4. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Berufung fallen dem Kläger zur Last.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf jedoch die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 5.000 DM abwenden, es sei denn, daß die Beklagten ihrerseits Sicherheit in gleicher Höhe leisten. Als Sicherheit ist auch die unbedingte und unbefristete selbstschuldnerische Bürgschaft einer deutschen Großbank oder öffentlichen Sparkasse zulässig.

Wert der Beschwer des Klägers: 42.500,00 DM.

Tatbestand

1

Am 3.2.1974, einem Sonntag, gegen 17.20/30 Uhr überquerte die damals 5 Jahre und 8 Monate alte Tochter W. der Beklagten auf dem Wege nach Hause die Landesstraße 219 in H. (Krs. L.). Dabei lief sie gegen das Kleinkraftrad des Klägers, der sich - aus ihrer Sicht - von rechts auf der Landesstraße näherte. Der Kläger kam zu Fall und zog sich schwere Verletzungen zu.

2

Mit der Klage hat der Kläger die Beklagten auf Zahlung von Schmerzensgeld (in Kapital- und Rentenform) in Anspruch genommen. Er hat ihnen vorgeworfen, W. nicht gehörig beaufsichtigt zu haben. Diese habe mit ihrer Zwillingsschwester M. ständig auf der Straße gespielt. Schon häufig hätten Kraftfahrzeuge scharf bremsen müssen, um die beiden Kinder nicht zu überfahren. Bei der Landesstraße 219 handele es sich auch um eine wichtige Durchgangsstraße, die insbesondere an Sonntagen stark befahren werde.

3

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, ihm

  1. 1.

    ein der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestelltes angemessenes Schmerzensgeld nebst 4 % Zinsen ab Zustellung der Klage,

  2. 2.

    eine der Höhe

    nach in das Ermessen des Gerichts gestellte angemessene monatliche Schmerzensgeldrente zu zahlen.

4

Die Beklagten haben beantragt,

die Klage abzuweisen.

5

Sie haben eine Schadensersatzpflicht verneint und insbesondere behauptet, ihrer Aufsichtspflicht voll nachgekommen zu sein. Die Zwillinge W. und M. seien schon im Alter von 3 Jahren an den Straßenverkehr und seine Gefahren gewöhnt worden. Die Beklagte zu 2) habe sie angehalten, die Straße zügig zu überqueren und zuvor nach rechts und links zu schauen. Das hätten sie auch begriffen, so daß sie bereits mit 4 Jahren imstande gewesen seien, allein über die Straße zu gehen. Unkorrektheiten seien dabei nicht vorgekommen, wie Beobachtungen vom Garten und vom Fenster aus ergeben hätten.

6

Das Landgericht hat nach Beweiserhebung eine Verletzung der Aufsichtspflicht durch die Beklagten verneint und mit Urteil vom 16.11.1976 die Klage abgewiesen.

7

Mit der Berufung gegen dieses Urteil wiederholt und vertieft der Kläger sein erstinstanzliches Vorbringen. Außerdem stützt er sich darauf, der Beklagte zu 1) habe zu seinem Vater gesagt: "Der Junge bekommt sein Geld, und wenn ich es aus eigener Tasche bezahlen müßte." Er beantragt, das angefochtene Urteil abzuändern und dem in erster Instanz gestellten Antrag stattzugeben.

8

Die Beklagten beantragen,

die Berufung - zurückzuweisen.

9

Sie halten das angefochtene Urteil für richtig und bestreiten, daß die vorstehend genannte Äußerung hinsichtlich der Zahlungsbereitschaft gefallen sei.

10

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf das angefochtene Urteil (samt seinen Verweisungen) sowie auf die in der Berufungsinstanz gewechselten Schriftsätze der Parteien Bezug genommen.

11

Der Senat hat den Vater des Klägers, den Arbeiter H. P., als Zeugen und die Beklagten als Partei vernommen. Es wird insoweit auf das Sitzungsprotokoll vom 1.12.1977 verwiesen.

Entscheidungsgründe

12

Die Berufung hat keinen Erfolg.

13

Ein voller Erfolg der Berufung verbietet sich schon deshalb, weil der Kläger die Betriebsgefahr seines Kleinkraftrades (§ 7 Abs. 1 StVG) zu vertreten hat und deshalb auch bei Annahme einer Haftung der Beklagten einen Teil seines Schadens selbst tragen müßte. Wie hoch dieser Anteil zu bemessen wäre, bedarf allerdings keiner Prüfung, denn nach der Überzeugung des Senats haben die Beklagten der Verpflichtung, ihr Kind W. zu beaufsichtigen, genügt, so daß sie für den Schaden, den der Kläger durch den Unfall vom 3.2.1974 erlitten hat, gar nicht verantwortlich sind.

14

Nach den Angaben der Zeugin I. S., der Mutter bzw. Schwiegermutter der Beklagten, wurden W. und ihre Zwillings schwester M. immer wieder auf die Gefahren des Straßenverkehrs aufmerksam gemacht; so wurde ihnen gesagt, sie sollten nach rechts und links gucken, bevor sie über die Straße gingen, und sie sollten hierbei vorsichtig sein. Die Kinder waren auch im Verkehr nicht nur sich selbst überlassen. Wenn sie - vor allem zum Besuch der Großeltern - die Dorfstraße überquerten, wurden sie vielmehr meistens von einem der Beklagten oder von anderen Angehörigen bis zum Straßenrand begleitet und sodann hinübergeschickt.

15

Diese Darstellung ist glaubhaft. Zwar ist die Zeugin I. S. als nahe Angehörige der Beklagten naturgemäß am Ausgang des Verfahrens interessiert. Der gesamte Inhalt ihrer Aussage läßt jedoch erkennen, daß sie um Zurückhaltung und Objektivität bemüht gewesen ist und auch Umstände nicht verschwiegen hat, die möglicherweise für die Beklagten ungünstig sind, z.B. daß ihr einmal berichtet worden war, ein Wagen habe heftig gebremst, um die beiden auf die Straße gelaufenen Kinder nicht zu überfahren. Ihr Verwandtschaftsverhältnis gibt daher keinen Grund zu der Befürchtung, sie könnte eine unzutreffende Schilderung gegeben haben.

16

Es kommt hinzu, daß ihre Angaben auch mit den Aussagen anderer Zeugen in Einklang stehen. So hat die Zeugin B. die Kinder der Beklagten als ziemlich sicher im Verkehr bezeichnet. Vor allem aber hat der Kaufmann G. R. der im übrigen vom Kläger als Zeuge benannt worden war, Beobachtungen gemacht, die dafür sprechen, daß die Kinder in der Tat zu ordnungsgemäßem Verhalten im Straßenverkehr erzogen worden sind. Er hat nämlich bekundet, sie seien immer, wenn er sie gesehen habe, nicht einfach über die Straße gegangen; sie hätten diese "Hand in Hand" und im rechten Winkel überquert.

17

Durch die von der Zeugin I. S. bekundeten Erziehungsmaßnahmen haben die Beklagten ihrer elterlichen Aufsichtspflicht genügt. Sie haben damit das getan, was von ihnen billigerweise verlangt werden konnte. Zu einer weitergehenden Beaufsichtigung wären sie nicht verpflichtet. Insbesondere war es ihnen nicht verwehrt, W. auch einmal ohne Begleitung eines Erwachsenen über die Straße gehen zu lassen. Wie der Senat bereits in einem früheren Urteil ausgeführt hat (VersR 1969, 333), wäre eine derartige Überwachung nicht nur für den Aufsichtsführenden untragbar; sie würde auch eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung des Kindes behindern. Daran ist festzuhalten. Das gilt vor allem für den letztgenannten Gesichtspunkt, da Kinder, die demnächst eingeschult werden sollen, lernen müssen, sich (als Fußgänger) selbständig im Verkehr zu bewegen. Die damit verbundene Gefahr, daß, sie trotz aller Belehrungen und Ermahnungen immer wieder einmal die Verkehrsregeln nicht beachten und dadurch möglicherweise Unfälle heraufbeschwören, muß in Kauf genommen werden und ist nicht durch überspitzte Anforderungen an die Aufsichtspflicht der Eltern auszuräumen.

18

Daß sich der Unfall des Klägers bei beginnender Dunkelheit ereignet hat, gibt dem Senat - jedenfalls in der vorliegenden Sache - keinen Anlaß zu einer abweichenden Beurteilung.

19

Dasselbe gilt für den Umstand, daß die Dorfstraße in H. als Landesstraße eingestuft ist, denn hinreichende Anhaltspunkte dafür, der Verkehr sei zur Zeit des Unfalls so dicht gewesen, daß ein 5jähriges Kind ohne Begleitperson in jedem Falle überfordert gewesen wäre, sind seitens des Klägers nicht dargelegt worden.

20

Eine verschärfte Beaufsichtigung des Kindes W. wäre nach allem nur erforderlich gewesen, wenn es schon vor dem Unfall laufend durch Unbesonnenheit im Verkehr aufgefallen wäre und auch die Beklagten hiervon gewußt hätten (oder hätten wissen müssen). Das läßt sich indessen nicht feststellen. Der Zeuge H. R. hat sich nur an einen einzigen Fall erinnern können, in dem die Kinder der Beklagten vor dem Unfall des Klägers einen Kraftfahrer zum scharfen Bremsen veranlaßt hatten. Desgleichen hat Frau I. S., wie bereits oben angedeutet worden ist, nur von einem einzigen Vorkommnis dieser Art gehört. Lediglich die Mutter des Klägers, Frau O. P. will mehrfach gesehen haben, daß die Kinder der Beklagten auf der Fahrbahn waren und daß Fahrzeuge zur Vermeidung eines Unfalls heftig bremsten. Dieser Aussage folgt der Senat jedoch wegen der engen Beziehungen dieser Zeugin zum Kläger nicht. Eine andere rechtliche Beurteilung könnte sich allerdings dann ergeben, wenn es Aufgabe der Beklagten wäre, die Behauptungen des Klägers über den Umfang des Verkehrs zur Zeit des Unfalls und über frühere Unbesonnenheiten W. zu widerlegen. So ist die Beweislast indessen nicht verteilt. Aus § 832 BGB folgt lediglich, daß die Beklagten die Erfüllung ihrer Aufsichtspflicht beweisen müssen. Der Nachweis, daß eine solche Aufsichtspflicht überhaupt besteht, obliegt dagegen dem Kläger als dem Geschädigten. Wenn er mithin behauptet, die Beklagten seien zu einer verschärften Aufsicht verpflichtet gewesen (also zu einer Aufsicht, die über das hinausgeht, was sich bei 5-jährigen Kindern aufgrund ihres Alters regelmäßig von selbst versteht), so muß er die tatsächlichen Grundlagen einer derartigen verschärften Pflicht im einzelnen darlegen und beweisen. Er kann nicht verlangen, daß die Beklagten sich ihrerseits entlasten. (Auch das Reichsgericht hat bereits ähnlich entschieden; vgl. die Entscheidungen vom 30.12.1901 in RGZ 50, 60 und vom 15.3.1920 in RGZ 98, 246).

21

Der Kläger kann sich schließlich auch nicht darauf stützen, der Beklagte zu 1) habe nach dem Unfall seine Zahlungsbereitschaft erklärt. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob eine derartige Äußerung tatsächlich gefallen ist. Der Zeuge H. P. der Vater des Klägers, hat nämlich vor dem Senat nur bekundet, der Beklagte zu 1) habe am 2. Tage nach dem Unfall nach dem Zustand seines Sohnes (des Klägers) gefragt und auf die Auskunft, sein Kreuz sei kaputt, erwidert: "Hoffentlich wird er wieder besser, und wenn ich etwas aus eigener Tasche zubezahlen muß." Damit hat er, die Richtigkeit dieser Aussage unterstellt, allenfalls seine Bereitschaft zu erkennen gegeben, sich an den Heilungskosten zu beteiligen. Irgendeine Verpflichtung zur Zahlung eines Schmerzensgeldes folgt daraus nicht. Desgleichen kann ihr nicht entnommen werden, der Beklagte zu 1) selbst habe eine Vernachlässigung seiner Aufsichtspflicht eingeräumt.

22

Da die Berufung ohne Erfolg bleibt, fallen ihre Kosten gemäß § 97 ZPO dem Kläger zur Last.

23

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils folgt aus den §§ 708 Nr. 10 und 711 ZPO, die Festsetzung des Beschwerdewerts aus den §§ 546 Abs. 2 Satz 1 und 9 ZPO.