Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 16.01.2018, Az.: 2 U 105/17

Umfang der Verkehrssicherungspflicht des Veranstalters einer Speedway-Rennveranstaltung

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
16.01.2018
Aktenzeichen
2 U 105/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2018, 15050
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Oldenburg - 29.09.2013 - AZ: 13 O 293/16

Fundstellen

  • NJW-RR 2018, 406-407
  • VersR 2018, 955

Amtlicher Leitsatz

1. Ein Verein, der im Rahmen einer von ihm organisierten Speedwayrennveranstaltung den Zuschauerbereich des Rundkurses lediglich durch eine 1,2 m hohe Betonmauer mit einem davorliegenden Luftkissenwall sowie einem 3 Meter hinter der Betonmauer entfernt gespannten Seil abgrenzt, verletzt seine Verkehrssicherungspflicht.

2. Er ist für den Schaden, der einem hinter dem Seil stehenden elfjährigen Zuschauer dadurch entsteht, dass ein Fahrer die Kontrolle über sein Motorrad verliert, dieses abhebt, über die Betonwand hinweg fliegt und auf den Zuschauer aufprallt voll einstandspflichtig.

3. Für die Einhaltung der Verkehrssicherungspflicht bei Speedwayrennveranstaltungen ist es erforderlich, zusätzlich zu oder auf der Betonwand bzw. statt ihrer einen motorsportspezifischen Fangzaun zu montieren, der geeignet ist, in den Zuschauerraum ausbrechende Motorräder aufzuhalten

4. Unerheblich ist, ob sich im Einzelfall die Sicherheitsvorkehrungen des Veranstalters im Rahmen des Üblichen halten, die Vorschriften des Rennsportverbandes sowie die Auflagen der Behörden eingehalten worden sind, weil der Verkehrssicherungspflichtige eigenverantwortlich zu prüfen hat, welche Vorkehrungen zu treffen sind, damit niemand einen Schaden erleidet (vgl. BGH, VersR 1966, 165, 166 [BGH 07.12.1965 - VI ZR 149/64]; NJW 1975, 533 [BGH 26.11.1974 - VI ZR 164/73]).

Tenor:

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil der Einzelrichterin der 13. Zivilkammer des Landgerichts Oldenburg vom 29. September 2013 geändert.

Das Versäumnisurteil des Landgerichts Oldenburg vom 13. Juli 2016 bleibt aufrechterhalten.

II. Die Beklagte trägt auch die weiteren Kosten des Rechtsstreits einschließlich der Kosten der Berufung.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I.

Die Klägerin, eine Krankenversicherung, begehrt von dem beklagten Verein, der u.a. Speedwayrennen veranstaltet, Schadensersatz aus übergegangenem Recht wegen der Verletzung einer bei ihr versicherten Person im Rahmen einer Rennveranstaltung.

Der Beklagte veranstaltete am 04.05.2013 auf seinem Vereinsgelände das Speedwayrennen "Master of Speedway" als Sandbahnrennen auf einem Rundkurs. Der Zuschauerbereich war von diesem Rundkurs durch eine 1,20 Meter hohe Betonmauer (116) getrennt, an deren Innenseite ein Luftkissenwall errichtet war. Ein wenige Meter von der Betonmauer entfernt gespanntes Seil - die Beklagte behauptet eine Entfernung von 3 Metern, die Klägerin bestreitet diese Distanz mit Nichtwissen - sollte den Abstand der Zuschauer zu der Betonmauer wahren. Der am 15.04.2002 geborene Versicherungsnehmer der Klägerin, B... J..., war Zuschauer der Rennveranstaltung. Er befand sich unmittelbar hinter dem Absperrungsseil. Um 21.10 Uhr begann ein Rennen, bei dem zwei Motorräder unmittelbar nach dem Start kollidierten. Ein dritter Fahrer konnte dem Unfallgeschehen nicht ausweichen und prallte mit seinem Motorrad auf die liegenden Motorräder. Dadurch hob das auffahrende Motorrad ab und flog über die Betonwand in Richtung Zuschauer. Es verfing sich in dem Seil unmittelbar vor dem Versicherungsnehmer der Klägerin und prallte dennoch gegen dessen Oberschenkel. Der Geschädigte erlitt eine dislozierte, subtrochantäre Femurfraktur linksseitig, Gelenkfunktionsstörungen, Bewegungsstörungen und Kontrakturen. Die Behandlungskosten, welche die Klägerin übernahm, beliefen sich auf 5.850,19 €.

Die Klägerin hat vor dem Landgericht die Auffassung vertreten, der Beklagte hafte dem Geschädigten gegenüber für die entstandenen Heilbehandlungskosten unter dem Gesichtspunkt der Verletzung ihrer Verkehrssicherungspflicht, so dass die Klägerin die Behandlungskosten aus übergegangenem Recht verlangen könne.

Nachdem das Landgericht ein Versäumnisurteil erlassen hat, mit dem der Beklagte verurteilt worden ist, an die Klägerin 5.850,19 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu zahlen sowie diese von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten ihrer Prozessbevollmächtigten in Höhe von 571,44 € freizustellen, hat die Klägerin erstinstanzlich beantragt,

das Versäumnisurteil des Landgerichts Oldenburg vom 13.07.2016 aufrecht zu erhalten.

Der Beklagte hat beantragt,

das Versäumnisurteil des Landgerichts Oldenburg vom 13.07.2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Er hat die Auffassung vertreten, eine Verkehrssicherungspflichtverletzung läge angesichts der getroffenen Maßnahmen nicht vor, jedenfalls sei eine solche angesichts der Unvorhersehbarkeit des Unfalls nicht schuldhaft erfolgt.

Das Landgericht, auf dessen tatsächliche Feststellungen im Übrigen verwiesen wird, hat die Klage nach Inaugenscheinnahme eines Videos des Unfallgeschehens abgewiesen. Eine Verkehrssicherungspflichtverletzung der Beklagten sei nicht gegeben, weil die getroffenen Sicherheitsvorkehrungen unter Abwägung aller Interessen ausreichend gewesen seien. Außerdem habe der Beklagten mit dem Unglücksfall nicht rechnen müssen. Die Klägerin sei für die Behauptung, es würden nicht nur in Ausnahmefällen Motorräder in die Menge fliegen, beweisfällig geblieben. Ferner habe sie zu ihrem Nachteil ihre Behauptung nicht bewiesen, dass ein Fangnetz geeignet gewesen wäre, das Motorrad aufzuhalten, weil sie den Vorschuss für den Sachverständigen nicht eingezahlt habe.

Gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung und greift es mit der Begründung an, dass unter Berücksichtigung des unstreitigen Sachverhaltes eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht hätte angenommen werden müssen. Der Beklagte wäre verpflichtet gewesen, einen Fangzaun zu errichten. Dass dieser geeignet gewesen wäre, den Unfall zu verhindern, bedürfe auch nicht der Einholung eines Sachverständigengutachtens. Zumindest sei der Beklagte beweispflichtig. Im Übrigen vertieft sie ihren erstinstanzlichen Vortrag.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 29. September 2017 abzuändern und das Versäumnisurteil vom 13.07.2016 aufrecht zu erhalten.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Sie vertieft ihren erstinstanzlichen Vortrag insbesondere unter den Gesichtspunkten, dass es nahezu kein Unfallrisiko bei Speedwayrennveranstaltungen gebe, die Sicherheitsvorkehrungen sich bei der streitgegenständlichen Bahn im Rahmen des Üblichen hielten und den Vorschriften des Rennsportverbandes sowie den Auflagen der Behörden entspreche.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

II.

Die zulässige Berufung hat auch in der Sache Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des landgerichtlichen Urteils vom 29.09.2017 und zur Aufrechterhaltung von dessen Versäumnisurteils vom 13.07.2016.

1. Der Klägerin steht der geltend gemachte und seiner Höhe nach unstreitige Zahlungsanspruch von 5.850,19 € als Schadensersatz aus übergegangenem Recht wegen der schuldhaften Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht durch den Beklagten aus den §§ 823 Abs. 1 BGB, 116, 199 SGB X zu.

a) Unstreitig hat die Klägerin als Krankenversicherer Kosten für Heilmittel und Behandlungen in Höhe von 5.850,19 € zugunsten ihres Versicherten B... J... aufgewendet, nachdem dieser im Rahmen der streitgegenständlichen Speedwayveranstaltung verletzt worden war. Entsprechend des aus den §§ 116, 199 SGB X resultierenden Forderungsüberganges ist sie berechtigt, dessen Ansprüche gegenüber dem Beklagten geltend zu machen.

b) Dem Versicherten steht wegen der im Rahmen des Speedwayrennens erlittenen Verletzungen ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB wegen einer schuldhaften Verkehrssicherungspflichtverletzung des Beklagten zu.

aa) Unstreitig ist der Versicherte in seiner körperlichen Unversehrtheit verletzt worden.

bb) Diese Verletzung geht darauf zurück, dass der Beklagte im Rahmen des von ihm veranstalteten Speedwayrennens am 04.05.2013 seine Verkehrssicherungspflicht verletzt hat.

(1) Es unterliegt keinem Zweifel, dass der Beklagte als Veranstalter des motorsportlichen Wettbewerbs Träger der Verkehrssicherungspflicht ist. Schließlich schwört er Gefahrenlagen herauf, die sich für am Rennen als Zuschauer beteiligte Personen ergeben können, indem er als Veranstalter des Rennens dieses organisiert sowie durchführt und dergestalt einen gefährlichen Zustand herbeiführt, der während des Rennens andauert (BGH, NJW 1962, 1245 [BGH 02.04.1962 - III ZR 15/61]; NJW 1975, 533 [BGH 26.11.1974 - VI ZR 164/73]; Staudinger - Hager, BGB, Neubearbeitung 2009, § 823 E Rn.320).

(2) Der Beklagte hat seine Verkehrssicherungspflicht verletzt, weil die Zuschauer, die sich hinter dem gespannten Seil an der Rennstrecke aufhielten, durch die 1,20 m hohe Betonwand sowie den zum Teil davor errichteten Luftkissenwall und den - nach dem Vortrag der Beklagten - 3 Meter breiten Auslauf bis zum Absperrseil gegen über die Wand und den Sicherheitsauslauf hinausschießende Motorräder, deren Fahrer die Gewalt über ihre Maschinen verloren hatten, nicht ausreichend gesichert waren.

In diesem Zusammenhang ist dem Beklagten zuzugeben, dass eine vollkommene Verkehrssicherheit, die jeden Unfall ausschließt, nicht zu erreichen ist. Deswegen sind die berechtigten Verkehrserwartungen nicht auf einen Schutz vor allen nur denkbaren Gefahren ausgerichtet, sondern die Verkehrssicherungspflicht beschränkt sich auf das Ergreifen solcher Maßnahmen, die nach den Gesamtumständen zumutbar sind, und die ein verständiger und umsichtiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig halten darf, um andere vor Schäden zu bewahren (vgl. BGH, NJW 1990, 1236, 1237 [BGH 19.12.1989 - VI ZR 182/89]; NJW 2010, 1967 [BGH 02.03.2010 - VI ZR 223/09]). Für die Frage, ob und gegebenenfalls welche Sicherungsmaßnahmen erforderlich sind, ist auf die von der Rennveranstaltung ausgehende Gefahr abzustellen. Je größer sie ist, desto höher sind die Sorgfaltsanforderungen an ihre Abwehr. Maßgebend für die konkrete Maßnahme ist ihre Erforderlichkeit für den Schutz von Leib und Leben der Zuschauer. Gerade weil das maßgebliche Kriterium die Erforderlichkeit der Sicherheitsvorkehrungen ist, kann aus hohen Finanzierungskosten nicht auf die Unzumutbarkeit der Sicherheitsvorkehrungen geschlossen werden, so dass finanzielle Erwägungen lediglich eine untergeordnete Rolle spielen (vgl. Gaisbauer, VersR 1975, 500 mit Verweis auf OLG Karlsruhe VersR 1954, 463).

Dies berücksichtigend wäre es erforderlich gewesen, zusätzlich zu oder auf der Betonwand einen motorsportspezifischen Fangzaun zum Schutz der Zuschauer zu montieren. Denn der Unfallverlauf war im Rahmen eines Speedwayrennens nicht gänzlich ungewöhnlich, sondern vorhersehbar. Dieser Umstand folgt zunächst zwanglos aus dem von der Klägerin beigefügten und dem Senat in Anschauung genommenen Videomaterial. Denn im Rahmen einer Speedwayveranstaltung nahezu genau ein Jahr vor dem streitgegenständlichen Unfallereignis (Video abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=kBoAb8wk9yI) kam es in Deutschland zu einem nahezu gleichgelagerten Unfall, bei dem zwei Fahrer kollidierten, eine Maschine in den Zuschauerraum katapultiert wurde und einen Zuschauer schwer verletzte. Weitere unter der Videoplattform www.youtube.com unter den Stichworten "Speedwayrennen" und "Unfälle" abrufbare Videos legen anschaulich dar, dass Kollisionen mehrerer Motorräder bei Speedwayrennen immer wieder vorkommen können. Das ergibt sich im Übrigen schon daraus, dass mehrere Fahrer in enger Umgebung mit Geschwindigkeiten von mehr als 100 km/h auf einer Sandpiste fahren und dabei um Positionen konkurrieren. Bei allem fahrerischen Können und aller Sorgfalt bei der Ausübung des Motorsports sind Unfälle dergestalt, dass Maschinen aufeinander auffahren alles andere als lebensfern. In diesem Zusammenhang hängt es allein von Zufällen ab, ob die Motorräder derart außer Kontrolle geraten, dass eine Katapultwirkung entsteht, die sie eine Betonmauer von 1,2 Metern Höhe sowie einen Sicherheitsabstand von 3 Metern mühelos überqueren und zum lebensgefährlichen Geschoss für Zuschauer werden lassen. Damit entsteht für die Zuschauer eine realistische Gefahr, von einem Motorrad mit höchster Geschwindigkeit am ungeschützten Körper getroffen zu werden und schwere Verletzungen zu erleiden. Diese Gefahr rechtfertigt es auch dann, wenn sich derartige Unfälle nicht regelmäßig, sondern seltener ereignen, eine Sicherungsmaßnahme als erforderlich anzusehen, die es verhindert, dass Motorräder den Zuschauerraum erreichen, ohne dass die Kosten für die Errichtung eines motorsportspezifischen Fangzauns eine maßgebliche Rolle spielen dürfen. Ausreichend ist ein derartiger Fangzaun im Übrigen nur, wenn er geeignet ist, in den Zuschauerraum ausbrechende Motorräder aufzuhalten.

Unerheblich sind im Übrigen die Erwägungen der Beklagten, dass die Sicherheitsvorkehrungen sich bei der streitgegenständlichen Bahn im Rahmen des Üblichen gehalten haben, die Vorschriften des Rennsportverbandes sowie die Auflagen der Behörden eingehalten worden sind. Denn der Verkehrssicherungspflichtige hat eigenverantwortlich zu prüfen, welche Vorkehrungen zu treffen sind, damit niemand einen Schaden erleidet. Selbst wenn die Polizei oder andere Verwaltungsbehörden (z. B. Ordnungsamt, Gewerbeamt, Bauaufsichtsbehörde usw.) aus Gründen der Verkehrssicherung Überprüfungen vornehmen und daraufhin dem Sicherungspflichtigen auferlegen, bestimmte Vorkehrungen zu treffen, genügt dieser seinen Verpflichtungen nicht, wenn er lediglich diese Auflagen erfüllt, es aber unterlässt, selbständig zu prüfen, ob nicht darüber hinaus weitere Sicherungsmaßnahmen notwendig sind (vgl. BGH, VersR 1966, 165, 166 [BGH 07.12.1965 - VI ZR 149/64]; NJW 1975, 533 [BGH 26.11.1974 - VI ZR 164/73]). Genauso lag es hier. Der Beklagte hat lediglich die Auflagen Dritter umgesetzt, die darüber hinaus erforderlichen Maßnahmen, die ihm im Rahmen eigener Prüfung als notwendig hätten auffallen müssen, aber nicht ergriffen.

2. Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus den §§ 91, 708 Nr. 11, 711, 713 ZPO.