Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 18.12.1995, Az.: 1 WS 208/95

Aufhebung eines Haftbefehls trotz Fluchtgefahr; Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
18.12.1995
Aktenzeichen
1 WS 208/95
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1995, 29061
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:1995:1218.1WS208.95.0A

Fundstelle

  • StV 1996, 388-389

Amtlicher Leitsatz

Bei der Entscheidung über die Fortdauer eines außer Vollzug gesetzten Haftbefehls ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen.

Gründe

1

Der Haftbefehl vom 2. 3. 1993 war analog § 120 Abs. 1 S. 1 StPO aufzuheben, weil die Aufrechterhaltung des Haftbefehls zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis stehen würde.

2

Die Freiheit der Person nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Daher darf eine Freiheitsentziehung nur angeordnet und aufrechterhalten werden, wenn überwiegende Belange des Allgemeinwohls dies zwingend gebieten. Zu solchen Belangen, gegenüber denen der Freiheitsanspruch eines Angeklagten u.U. zurücktreten muss, gehören die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafrechtspflege. Ein vertretbarer Ausgleich des Widerstreits dieser für den Rechtsstaat wichtigen Grundsätze lässt sich im Bereich des Rechts der Untersuchungshaft nur erreichen, wenn den Freiheitsbeschränkungen, die vom Standpunkt einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege aus erforderlich sind, ständig der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Angeklagten als Korrektiv entgegengehalten wird, wobei sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber den Interessen an einer wirksamen Strafverfolgung mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert. Diese Grundsätze gelten auch für einen außer Vollzug gesetzten Haftbefehl (BVerfGE 53, 152).

3

Eine Abwägung ergibt unter Berücksichtigung der vorgenannten Grundsätze Folgendes: Es besteht nach wie vor Fluchtgefahr. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass seine Zuckerkrankheit den Angeklagten an einer Flucht nach Südamerika hindern könnte.

4

Der Angeklagte ist weiterhin, auch unter Berücksichtigung des Schreibens des Mitangeklagten vom 28.6.1995, zumindest noch dringend verdächtig, einen PKW im Werte von 27.000,-- DM gestohlen, einen Betrag von 3.164,91 DM veruntreut und gegen das Waffengesetz verstoßen zu haben. Bei einer Verurteilung wegen dieser Delikte ist mit der Verhängung einer Freiheitsstrafe zu rechnen, deren Höhe allerdings zwei Jahre kaumübersteigen dürfte.

5

Zwar weist das Strafregister des Angeklagten eine Reihe von z.T. einschlägigen Vorverurteilungen auf. Hierbei kann aber nicht außer Acht bleiben, dass die letzte Tat im Jahre 1977 begangen worden ist.

6

Auf der anderen Seite ist zu berücksichtigen, dass der Angeklagte bereits fünf Monate Untersuchungshaft verbüßt hat. Durch Beschluss vom 2.8.1993 ist ihm sodann aufgegeben worden, in der Region ... Wohnung zu nehmen, jeden Wohnungswechsel unaufgefordert dem Gericht mitzuteilen, sich zwei Mal wöchentlich bei der Polizei zu melden, jeder Ladung des Gerichts Folge zu leisten und seinen Reisepass zu den Akten zu reichen. All diesen Auflagen ist der Angeklagte nachgekommen. Am 17.12.1993 ist die Meldeauflage aufgehoben worden. Die übrigen Auflagen dauern nach Aktenlage seither fort.

7

Nachdem die Kriminalpolizei am 25.5.1993 ihren Abschlussbericht erstellt hatte, ist am 18.4.1994 Anklage erhoben worden. Termin zur Hauptverhandlung ist auf den 1.12.1994 anberaumt worden.

8

Da der Mitangeklagte, der sich mittlerweile wieder an wechselnden Orten in Südamerika aufhielt, mitgeteilt hatte, er könne wegen einer Erkrankung nicht zur Verhandlung erscheinen, wurde der Termin aufgehoben. Am 28.6.1995 teilte ..... (der Mitangeklagte) sodann mit, er werde bis zum Ablauf der Verjährungsfrist nicht aus Südamerika nach Deutschland zurückkehren und sei auch nicht zu irgendwelchen Stellungnahmen gegenüber deutschen Botschaften, Konsulaten oder anderen amtlichen Stellen im Ausland bereit. Der zuständige Vorsitzende des Schöffengerichts hat in einem Vermerk vom 29.11.1994 die Auffassung vertreten, er könne die Sache ohne den Mitangeklagten nicht verhandeln. Es ist daher nicht absehbar, ob - geschweige denn wann - es zu einer Hauptverhandlung kommen wird.

9

Unter Abwägung der vorgenannten Umstände ist der Senat der Auffassung, dass eine weitere Aufrechterhaltung des Haftbefehls auf unbestimmte Zeit nicht mehr mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu vereinbaren ist. Der Haftbefehl war daher aufzuheben.