Landgericht Verden
Beschl. v. 26.04.2012, Az.: 3 T 23/12

Rechtmäßigkeit einer Abschiebungshaft nach unerlaubter Einreise bei Leben des Kindes und der Frau in Deutschland und bei Fehlen des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft

Bibliographie

Gericht
LG Verden
Datum
26.04.2012
Aktenzeichen
3 T 23/12
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2012, 33940
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGVERDN:2012:0426.3T23.12.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BGH - 21.06.2012 - AZ: V ZB 102/12

Fundstelle

  • InfAuslR 2012, 425-426

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Betroffenen werden der Beschluss des Amtsgerichts Verden vom 07.02.2012 und der Berichtigungsbeschluss des Amtsgerichts Verden vom 07.02.2012 aufgehoben.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen Aufwendungen des Betroffenen trägt der Landkreis Verden.

Beschwerdewert: 3.000,00 €

Gründe

I.

1

Der Betroffene ist mit bestandskräftiger Verfügung der Stadt Frankfurt am Main vom 28.11.2007 für dauernd aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen worden. Die Abschiebung in die Türkei erfolgte am 21.04.2008 aus der Abschiebungshaft heraus.

2

Vor Ausreise des Betroffenen war es wegen einer Körperverletzung zum Nachteil seiner damaligen Lebensgefährtin sowie wegen Erschleichens von Leistungen ("Schwarzfahren" in der U-Bahn in Frankfurt) jeweils zu Verurteilungen zu Geldstrafen gekommen. Diese wurden auf eine Gesamtgeldstrafe von 125 Tagessätzen zu je 10,00 € zurückgeführt, von denen der Betroffene zwischenzeitlich 100,00 € (= 10 Tagessätze) gezahlt hatte. Wegen der weiteren 115 Tagessätze erließ die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main als zuständige Vollstreckungsbehörde einen Haftbefehl über 115 Tage Ersatzfreiheitsstrafe.

3

Der Betroffene hatte nach seiner Abschiebung in der Türkei die in ... lebende Frau ... kennengelernt. Zwischen ihnen entwickelte sich eine Paarbeziehung. Am ... 2011 gebar Frau ... ein Kind namens .... Der Betroffene hat zwischenzeitlich (am 20.02.2012) die Vaterschaft zu diesem Kind anerkannt.

4

Am 07.02.2012 wurde der Betroffene - nach Einreise in die Bundesrepublik Deutschland am 05.01.2012 - festgenommen. Die Ausländerbehörde beantragte die Anordnung von Sicherungshaft als Überhaft zu der angeordneten Ersatzfreiheitsstrafe von 115 Tagen für die Dauer von 4 Wochen.

5

Nach Anhörung am 07.02.2012 beschloss das Amtsgericht zunächst - mit sofortiger Wirksamkeit - in Anwesenheit des Betroffenen die Anordnung von Sicherungshaft bis einschließlich 06.03.2012, da der Betroffene unerlaubt eingereist sei.

6

Offenbar auf Intervention der Ausländerbehörde erließ das Amtsgericht am selben Tage einen Berichtigungsbeschluss wegen offensichtlicher Unrichtigkeit und änderte den vorangegangenen Beschluss dahingehend ab, dass die Sicherungshaft für die Dauer von 4 Wochen ab Entlassung aus der Ersatzfreiheitsstrafe angeordnet wird. Zugleich wurde die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit aufgehoben. Wann dieser Beschluss dem Betroffenen zugegangen ist, lässt sich der Akte nicht entnehmen.

7

Gegen beide Beschlüsse legte der Betroffene mit Schreiben seiner Verfahrensbevollmächtigten vom 22.02.2012 und vom 12.03.2012 sofortige Beschwerde ein.

8

Nachdem der Betroffene die restliche Geldstrafe gezahlt hatte und eine für sofort wirksam erklärte Haftentscheidung nicht (mehr) vorlag, wurde der Betroffene am 19.04.2012 auf der Haftanstalt entlassen. Zur Anhörung vor der Kammer erschien er am 26.04.2012 in Anwesenheit von Frau ... und des gemeinsamen Kindes.

II.

9

Die zulässige sofortige Beschwerde ist begründet. Jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt besteht kein Grund, gegen den Betroffenen Abschiebungshaft anzuordnen. Im Hinblick darauf, dass die Anordnung von Abschiebungshaft das letzte Mittel ist, um die Abschiebung des Betroffenen in sein Heimatland sicherzustellen (§ 62 Abs. 1 AufenthG), darf Sicherungshaft dann nicht angeordnet werden, wenn diese zur Durchführung der Abschiebung nicht erforderlich erscheint (siehe auch § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG).

10

Der Betroffene hat aber schon durch sein freiwilliges Erscheinen im Anhörungstermin gezeigt, dass er sich dem Verfahren stellt. Er hat im Anhörungstermin erklärt, dass er zwar grundsätzlich erreichen wolle, nicht abgeschoben zu werden. Ihm sei aber nach anwaltlicher Beratung bekannt, dass seine Einreise unerlaubt erfolgt sei und er deshalb zur Ausreise verpflichtet sei. Seiner Abschiebung würde er sich nicht widersetzen, wenn er dann auch versuchen wolle, ein Visum zur erlaubten Einreise in die Bundesrepublik Deutschland zu erlangen. Diese Einlassung hält die Kammer insbesondere vor dem Hintergrund für glaubhaft, dass der Betroffene nachvollziehbar wegen seiner in Deutschland lebenden Freundin und dem ebenfalls in Deutschland lebenden gemeinsamen Kind ein deutliches Interesse an einer positiven Aufenthaltsentscheidung durch die zuständige deutsche Ausländerbehörde hat. Eine solche durch Verursachung von Schwierigkeiten, z. B. durch erneutes Untertauchen zur Vermeidung einer Abschiebung, zu gefährden, würde den eigenen Interessen des Betroffenen massiv widersprechen, so dass dies nicht zu erwarten steht.

11

Ob die Entscheidungen des Amtsgerichts vom 07.02.2012 zum damaligen Zeitpunkt so hätten ergehen dürfen, kann daher dahinstehen, da sich der Betroffene zu keiner Zeit aufgrund dieser Entscheidungen in Haft befand. Die Kammer sieht sich - für künftige Fälle - insbesondere auch vor dem Hintergrund der Beschwerdebegründung vom 19.04.2012 allerdings zu folgenden Ausführungen veranlasst:

12

Nach Ansicht der Kammer darf Abschiebungshaft nicht - wie durch den Berichtigungsbeschluss vom 07.02.2012 geschehen - als Überhaft zu einer Ersatzfreiheitsstrafe, sondern nur parallel zu einer solchen für einen konkreten Zeitraum (wie durch den ursprünglichen Beschluss geschehen) angeordnet werden. Die Sicherungshaft ist unzulässig, wenn feststeht, dass aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann (§ 62 Abs. 3 Satz 4 AufenthG). Die entsprechenden Bemühungen zur Abschiebung dürfen also vom Zeitpunkt der Anordnung bzw. (wenn keine sofortige Wirksamkeit angeordnet wird) vom Zeitpunkt der Rechtskraft 3 Monate nicht übersteigen. Diese Bemühungen darf die Ausländerbehörde wegen des geltenden Beschleunigungsgebots in Haftsachen nicht erst nach Verbüßung der Ersatzfreiheitsstrafe in Angriff nehmen, sondern zu diesen ist sie ab Wirksamkeit der (Sicherungs-)Haftentscheidung verpflichtet. Würde man die Dauer der Ersatzfreiheitsstrafe nicht in die 3-Monats-Frist des § 62 Abs. 3 Satz 4 AufenthG hineinrechnen, könnte der Betroffene noch in Sicherungshaft genommen werden, obwohl seit Wirksamkeit der Anordnung der Sicherungshaft bereits mehr als 3 Monate (durch Verbüßung von Ersatzfreiheitsstrafe) vergangen sind. Wäre im vorliegenden Fall die Ersatzfreiheitsstrafe von 115 Tagessätzen vollständig vollstreckt worden, hätte der Betroffene seit dem 07.02.2012 mehr als 3 Monate in Haft gesessen. Dass daran anschließend noch bis zu 1 Monat Sicherungshaft nach § 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG vollstreckt werden soll, widerspricht der gesetzgeberischen Wertung, dass Sicherungshaft eben schon nicht angeordnet werden soll, wenn ersichtlich ist, dass die Abschiebung gar nicht innerhalb von 3 Monaten vollstreckt werden kann.

13

Vor diesem Hintergrund war der ursprüngliche Beschluss vom 07.02.2012, durch den Sicherungshaft bis zum 06.03.2012 angeordnet worden war, auch nicht offensichtlich unrichtig. Der "Berichtigungsbeschluss", durch den der Betroffene hinsichtlich der Dauer der Haftzeit ersichtlich benachteiligt worden ist, hätte daher auch einer erneuten vorherigen Anhörung gem. § 420 Abs. 1 FamFG bedurft. Das Amtsgericht wird dabei auch stets zu beachten haben, ob die Ausländerbehörde den Antrag dem Betroffenen zur Gewährung rechtlichen Gehörs ausgehändigt hat und dies ggf. vor der Anhörung nachholen müssen. Andernfalls kann die Anordnung der Sicherungshaft allein schon wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör rechtswidrig sein (vgl. BGH, Beschluss vom 21.07.2011, Az. V ZB 141/11).

14

Zu Recht weist die Beschwerdebegründung auch darauf hin, dass die Anordnung von Sicherungshaft dann rechtswidrig sein kann, wenn das gem. § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderliche Einvernehmen der Staatsanwaltschaft nicht vorliegt. Nach dieser Vorschrift darf ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft ausgewiesen und abgeschoben werden. Im vorliegenden Fall hätte daher zwar nicht das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft Frankfurt eingeholt werden müssen, da die Sicherungshaft ja erst nach vollständiger Vollstreckung der Gesamtgeldstrafe und der deswegen vollstreckten Ersatzfreiheitsstrafe vollstreckt werden sollte. Da der Betroffene unerlaubt eingereist war, war gegen ihn allerdings auch ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren zu Az. 211 Js 5599/12 bei der Staatsanwaltschaft Verden gem. § 95 Abs. 1 AufenthG anhängig. Vor Anordnung von Sicherungshaft hat die Ausländerbehörde, spätestens aber das Amtsgericht das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft einzuholen und dem Betroffenen sodann - wenn dieses Einvernehmen nicht bereits im Antrag der Ausländerbehörde dargelegt worden ist - hierüber rechtliches Gehör zu gewähren (vgl. BGH, Beschluss vom 29.09.2011, Az. V ZB 173/11). Auf die im Anhörungstermin in Kopie vorgelegte Allgemeinverfügung des Leitenden Oberstaatsanwalts der Staatsanwaltschaft Verden vom 25.10.1994 kann sich die Ausländerbehörde dabei nicht berufen. Diese zitiert Vorschriften (§§ 64, 92 Ausländergesetz), die bereits seit längerem nicht mehr in Kraft sind. Vor Anhörung des Betroffenen sollte daher stets telefonisch beim zuständigen Dezernenten der Staatsanwaltschaft erfragt werden, ob das Einvernehmen gem. § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erteilt wird, dies im Antrag oder in einem gesonderten Vermerk aktenkundig gemacht werden, worüber der Betroffene dann zu informieren ist.

III.

15

Da die Beschwerde erfolgreich ist, hielt es die Kammer gem. § 81 FamFG für angemessen, die Kosten für das Beschwerdeverfahren insgesamt der Ausländerbehörde aufzuerlegen.

16

Die Wertfestsetzung folgt aus § 128c Abs. 2, § 30 Abs. 2 KostO.