Sozialgericht Osnabrück
Urt. v. 15.07.2004, Az.: S 11 RJ 294/00
Beginn der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit und Vollendung des 60. Lebensjahres im Hinblick auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch
Bibliographie
- Gericht
- SG Osnabrück
- Datum
- 15.07.2004
- Aktenzeichen
- S 11 RJ 294/00
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2004, 37646
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGOSNAB:2004:0715.S11RJ294.00.0A
Rechtsgrundlagen
- § 99 Abs. 1 SGB VI
- § 237 Abs. 2 SGB VI
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über den Beginn der dem Kläger zustehenden Altersrente wegen Arbeitslosigkeit.
Der am 5. August 1938 geborene, ledige Kläger, der zuletzt im Jahre 1994 für ca. drei Wochen als Schweißer beschäftigt gewesen war, hatte nachfolgend (allerdings mit Unbrechungen) Arbeitslosenhilfe bezogen; der Leistungssatz betrug zuletzt 260,40 DM wöchentlich. Mit Schreiben vom 16. Juli 1998 forderte das Arbeitsamt I. den Kläger nach § 202 Abs. 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (SGB III) sodann auf, innerhalb eines Monats nach Zugang dieses Schreibens einen Antrag auf Gewährung von Altersrente beim zuständigen Rentenversicherungsträger zu stellen; komme der Kläger dieser Aufforderung nicht nach, werde die Leistung "entzogen". Nachdem der Kläger mitgeteilt hatte, er werde Altersrente nicht beantragen, weil er mit einer Montagefirma wegen der Aufnahme einer Tätigkeit als Mag-Schweißer in Verbindung stünde, und nachdem der Kläger ferner eine Bescheinigung der Landesversicherungsanstalt (LVA) J. vom 2. September 1998 vorgelegt hatte, wonach er eine Altersrente wegen Arbeitslosigkeit ab 1. September 1998 ohne Minderung des Zugangsfaktors in Anspruch nehmen könne und dass die Voraussetzungen des § 237 Abs. 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) in seiner Person vorlägen, hob das Arbeitsamt I. die Entscheidung über die Bewilligung von Arbeitslosenhilfe an den Kläger mit Bescheid vom 5. August 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Oktober 1998 mit Wirkung vom 10. August 1998 ganz auf. Die hiergegen am 27. November 1998 erhobene Klage des Klägers blieb endgültig ohne Erfolg (klageabweisendes Urteil des Sozialgerichts - SG - Osnabrück vom K., zurückweisendes Berufungsurteil des Landessozialgerichts - LSG - Niedersachsen vom L.).
Am 18. November 1999 stellte der Kläger sodann bei der AuB-Stelle der LVA J. in I. einen Antrag auf Zuerkennung von Altersrente wegen Arbeitslosigkeit und Vollendung des 60. Lebensjahres. Die Beklagte arbeitete zunächst das Versicherungskonto des Klägers auf und bewilligte ihm sodann mit Bescheid vom 20. Januar 2000 Altersrente wegen Arbeitslosigkeit (oder nach Altersteilzeit) ab 1. November 1999. Nachdem der Kläger unter dem 20. Februar 2000 eine Rentenzahlung bereits ab August 1998 begehrt hatte, bewilligte ihm die Beklagte zunächst mit Bescheiden vom 23. Mai 2000 einen Zuschuss zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung ab 1. November 1999; mit dem weiteren Bescheid vom 23. Mai 2000 berechnete sie ferner die ihm ab 1. November 1999 zustehende Altersrente neu. Mit Widerspruchsbescheid vom 4. Oktober 2000 wies sie sodann den wegen des Rentenbeginns eingelegten Widerspruch des Klägers zurück. Zur Begründung führte die Beklagte dort im wesentlichen aus, gemäß § 99 Abs. 1 SGB VI werde eine Rente aus eigener Versicherung von dem Kalendermonat an geleistet, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen für die Rente erfüllt seien, wenn die Rente bis zum Ende des dritten Kalendermonats nach Ablauf des Monats beantragt werde, indem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt seien. Bei späterer Antragstellung werde eine Rente aus eigener Versicherung von dem Kalendermonat an geleistet, indem die Rente beantragt werde. Wenn der Kläger in diesem Zusammenhang darauf hinweise, dass die Anspruchsvoraussetzungen für die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit und Vollendung des 60. Lebensjahres in seinem Falle bereits im August 1998 erfüllt gewesen seien, so ende die dreimonatige Antragsfrist im Sinne des§ 99 Abs. 1 S. 1 SGB VI am 30. November 1998. Da der Kläger seinen Antrag auf Altersrente jedoch erst im November 1999 gestellt habe, könne die Altersrente nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut erst mit dem 1. November 1999, also am Anfang des Rentenantragsmonats, beginnen. Ein früherer Rentenbeginn lasse sich auch im Wege eines sogenannten sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht begründen. Denn insoweit fehle es schon an einer ihr - der Beklagten - zuzurechnenden Pflichtverletzung. Der Kläger sei nämlich seinerzeit vom Arbeitsamt I. ausdrücklich darauf hingewiesen worden, er möge doch einen Antrag auf Altersrente stellen. Dieser Aufforderung des Arbeitsamtes sei er jedoch nicht nachgekommen, unter anderem weil er die Auffassung vertreten habe, eine Rentenantragsstellung zum gegenwärtigen Zeitpunkt werde zu einer geringeren Rentenzahlung führen als zum Zeitpunkt der Vollendung des 65. Lebensjahres.
Mit seiner hiergegen am 1. November 2000 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Ziel auf Gewährung von Altersrente wegen Arbeitslosigkeit und Vollendung des 60. Lebensjahres bereits ab August 1998 weiter. Er ist der Auffassung, die tatbestandlichen Voraussetzungen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs seien in seinem Falle sehr wohl als erfüllt anzusehen.
Mit Bescheid vom 7. Juni 2004 hat die Beklagte die Altersrente des Klägers (erneut) neu festgestellt.
Der Kläger dürfte hiernach beantragen wollen,
- 1.
den Bescheid der Beklagten vom 20. Januar 2000 in der Fassung des Bescheids vom 23. Mai 2000 - jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. Oktober 2000 - sowie den weiteren Bescheid der Beklagten vom 7. Juni 2004 abzuändern,
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Altersrente wegen Arbeitslosigkeit und Vollendung des 60. Lebensjahres bereits ab 1. September 1998 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält an ihrer in den angefochtenen Bescheiden vertretenen Rechtsauffassung fest.
Beide Beteiligte haben einer Entscheidung der Kammer ohne mündliche Verhandlung durch Urteil zugestimmt. Neben den Verwaltungsakten der Beklagten (drei Bände) haben die Verfahrensakten S M. des Sozialgerichts I. / L N. des Landessozialgerichts Niedersachsen vorgelegen. Auf diese Akten sowie die Prozeßakten wird wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Sachvortrags der Beteiligten ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage, über die die Kammer mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden konnte, ist nicht begründet. Dem Kläger steht Altersrente wegen Arbeitslosigkeit und Vollendung des 60. Lebensjahres erst ab 1. November 1999 zu, wie die Beklagte mit Bescheid vom 20. Januar 2000 in der Fassung des Bescheids vom 23. Mai 2000 - jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. Oktober 2000 - sowie dem weiteren Bescheid vom 7. Juni 2004, welcher gemäß § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des laufenden Verfahrens geworden ist, ohne Rechtsfehler entschieden hat.
Die Kammer macht sich zunächst die zutreffenden rechtlichen Ausführungen der Beklagten insbesondere im mitangefochtenen Widerspruchsbescheid vom 4. Oktober 2000 zu eigen, so dass gemäß § 136 Abs. 3 SGG von einer umfassenden Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen werden kann. Aus gegebenem Anlaß sei allerdings noch auf folgendes hingewiesen:
Zwischen den Beteiligten sollten eigentlich nicht streitig sein, dass die vom Kläger bezogene Altersrente wegen Arbeitslosigkeit und Vollendung des 60. Lebensjahres in Ansehung der Beginnsvorschrift des § 99 Abs. 1 SGB VI und der Tatsache, dass der Kläger den entsprechenden Rentenantrag erst am 18. November 1999 gestellt hat, grundsätzlich (frühestens) am 1. November 1999 beginnen kann. Zutreffend ist ferner, dass ein früherer Rentenbeginn angesichts dessen nur bei Anwendung des von der Rechtsprechung entwickelten Rechtsinstituts des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs in Betracht kommen kann. Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieses Rechtsinstituts sind indessen nach den Gesamtumständen des vorliegenden Falles nicht als nachgewiesen anzusehen; dies geht nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast (vgl. z.B. Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG 7. Aufl., RdNr. 19 a zu § 103 SGG) zu Lasten des Klägers.
Zum Rechtsinstitut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs hat sich in den vergangenen Jahren in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) eine fast unübersehbare Kasuistik herausgebildet (vgl. z.B. Urteil vom 9. Dezember 1997 - 8 RKn 1/97 = SozRecht 3-2600 Nr. 2 zu § 115 SGB VI; Urteil vom 26. März 1998 - B 11 AL 5/98 B; Urteil vom 5. April 1999 - B 7 AL 38/98 R = SozRecht 3-4100 Nr. 1 zu § 128 Arbeitsförderungsgesetz - AFG; Urteil vom 5. April 2000 - B 5 RJ 50/98 R = SozRecht 3-1200 Nr. 29 zu § 14 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I); Urteil vom 1. Februar 2001 - B 13 RJ 1/00 R - sowie Urteil vom 22. März 2001 - B 12 RJ 2/00 R -). Einigkeit dürfte dabei darüber bestehen, dass dieses dem öffentlich-rechtlichen Nachteilsausgleich dienende Rechtsinstitut die Verletzung einer dem Sozialleistungsträger (bzw. einer dritten in den Verwaltungsablauf eingeschalteten Behörde) aus dem Sozialleistungsverhältnis obliegenden Haupt- oder Nebenpflicht (insbesondere zur Auskunft und Beratung) voraussetzt, wobei ein Verschulden des jeweiligen Mitarbeiters nicht erforderlich ist. Dieses (objektiv) fehlerhafte Verhalten muß ferner zu nachteiligen Folgen für die Rechtsansprüche des Betroffenen geführt haben, wobei zwischen der Pflichtverletzung und dem Nachteil ein ursächlicher Zusammenhang bestehen muß. Darüber hinaus müssen die eingetretenen nachteiligen Rechtsfolgen durch ein rechtmäßiges Verwaltungshandeln wieder beseitigt werden können und die Korrektur muß mit dem jeweiligen Gesetzeszweck in Einklang stehen (zum letzteren BSG, Urteil vom 1. April 2004 - B 7 AL 36/03 R). Eine Verletzung von Beratungs- und Aufklärungspflichten mit der Folge des sozial-rechtlichen Herstellungsanspruchs setzt ferner grundsätzlich ein vom Versicherten an den Sozialleistungsträger herangetragenes Auskunfts- und Beratungsbegehren voraus; allerdings wird ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch in der Spruchpraxis des BSG auch ohne ein derartiges Begehren anerkannt, wenn sich im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens ein konkreter Anlaß ergibt, den Versicherten spontan auf klar zutage tretende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, die sich als offenkundig zweckmäßig aufdrängen, so dass jeder verständige Versicherte sie mutmaßlich nutzen würde (zum Letzteren besonders deutlich BSG, Urteil vom 9. Dezember 1997 - 8 RKn 1/97, a.a.O.). Eine derartige Pflicht zur Spontanberatung soll den Sozialleistungsträger sogar dann obliegen, wenn und sobald es ihn - z.B. durch Mittel der EDV - möglich ist zu erkennen, dass bei typischen Sachverhalten die angehörigen einer abgrenzbaren Gruppe von Versicherten durch eine (rechtzeitige) Antragstellung Rechtsvorteile in nicht unerheblichem Ausmaß in Anspruch nehmen könnten (vgl. BSG, a.a.O.). Auch angesichts dieser - als sehr weitgehend, ja sogar großzügig zu bezeichnenden Rechtssprechung des BSG kann mit geltend gemachten Anspruch des Klägers auf Zuerkennung von Altersrente bereits zu einem früheren Zeitpunkt kein Erfolg beschieden sein.
Denn der Kläger hat von vornherein über sämtliche notwendigen Informationen verfügt, um zum frühest möglichen Zeitpunkt - hier in Ansehung des § 99 Abs. 1 S. 1 SGB VI: zum 1. September 1998 - eine Altersrente wegen Arbeitslosigkeit und Vollendung des 60. Lebensjahres ohne Kürzung des Zugangsfaktors beantragen und beziehen zu können. So ist er nicht nur mit Schreiben des Arbeitsamtes I. vom 16. Juli 1998 aufgefordert worden, innerhalb eines Monats nach Zugang dieses Schreibens den entsprechenden Rentenantrag zu stellen, sondern er befand sich zusätzlich im Besitz einer - offenbar selbst beschafften - Bescheinigung der LVA J. vom 2. September 1998, dass er von Beginn des besagten Monats an eine ungekürzte Altersrente nach § 237 Abs. 2 SGB VI beziehen könne, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen hierfür erfüllt seien. Wie angesichts dessen ein irgendwie geartetes Beratungs- und Auskunftsverschulden eines in den Verwaltungsablauf seinerzeit eingeschalteten Sozialleistungsträgers - welches der Beklagten zugerechnet werden könnte - vorgelegen haben soll, muß das Geheimnis des Klägers bleiben. Mangels Verletzung einer sich aus dem Gesetz bzw. dem Sozialleistungsverhältnis ergebenen Pflicht scheidet ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch des Klägers demgemäß von vornherein aus.
Der Klage musste nach alledem insgesamt der Erfolg versagt werden. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG. Gegen dieses Urteil ist die Berufung im Hinblick auf § 144 Abs. 1 SGG zulässig; auf die nachfolgende Rechtsmittelbelehrung wird Bezug genommen.