Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 14.02.2022, Az.: 1 Ss 221/21

Aufhebung eines Urteils und Zurückverweisung bei Entscheidung durch unzuständiges Gericht; Keine Anwendung von § 20a ZustVO-Justiz bei bereits angeordneter Hauptverhandlungshaft; Unwirksame Einstellung des Verfahrens durch unzuständiges Gericht; Reichweite des seit 1. November 2020 geltenden § 20a ZustVO-Justiz

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
14.02.2022
Aktenzeichen
1 Ss 221/21
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 15954
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Oldenburg - 01.09.2021 - AZ: 14 Ns 10/21

Redaktioneller Leitsatz

1. Eine Einstellung des Verfahrens nach § 260 Abs. 3 StPO ist unwirksam, wenn sie durch das unzuständige Gericht erfolgt ist. Das Urteil ist aufzuheben und das Verfahren an das zuständige Gericht zu verweisen.

2. § 20a ZustVO-Justiz, wonach ausschließlich das Gericht am Sitz der Staatsanwaltschaft zuständig ist, kommt nicht zur Anwendung, wenn bereits eine Hauptverhandlungshaft nach § 417 StPO angeordnet worden ist.

Tenor:

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil der 14. kleinen Strafkammer des Landgerichts Oldenburg vom 1. September 2021 aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Oldenburg zurückverwiesen.

Gründe

I.

Gegen den bei der Begehung eines Ladendiebstahls in einem Lebensmittelgeschäft in Ort4 am 30. Oktober 2020 betroffenen Angeklagten war wegen dieser Tat auf Antrag der Staatsanwaltschaft Oldenburg vom 31. Oktober 2020 noch mit Beschluss vom selben Tag durch das Amtsgericht Oldenburg (Zentraler Bereitschaftsdienste der Amtsgerichte) die Hauptverhandlungshaft nach § 127b StPO angeordnet worden. Auf den am 2. November 2020 gestellten und am gleichen Tag beim Amtsgericht Westerstede eingegangenen Antrag der Staatsanwaltschaft auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren nach §§ 417 ff. StPO war der Angeklagte in der daraufhin am 5. November 2020 angesetzten Hauptverhandlung vom Amtsgericht Westerstede zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt worden.

Auf die Berufung des Angeklagten hat das Landgericht Oldenburg das Verfahren mit Urteil vom 1. September 2021 gemäß § 260 Abs. 3 StPO eingestellt und dies damit begründet, dass aufgrund des am 1. November 2020 in Kraft getretenen § 20a der Verordnung zur Regelung von Zuständigkeiten in der Gerichtsbarkeit und der Justizverwaltung (ZustVO-Justiz) der vorliegende, am 2. November 2020 gestellte Antrag im beschleunigten Verfahren ausschließlich an das Amtsgericht Oldenburg als dem am Sitz des Landgerichts belegenen Amtsgericht und nicht (mehr) an das Amtsgericht Westerstede zu richten gewesen wäre.

Mit der hiergegen gerichteten Revision erstrebt die Staatsanwaltschaft die Aufhebung des Berufungsurteils. Sie vertritt unter Hinweis auf einen Begleiterlass des Niedersächsischen Justizministeriums vom 15. Juli 2020 die Auffassung, dass die Neuregelung des § 20a ZustVO-Justiz nur für den Fall gelte, dass der Haftbefehl nach § 127b StPO und der Antrag nach § 417 StPO zugleich zur Entscheidung vorgelegt werden (sog. kombinierter Antrag), nicht indes in der hiesigen Fallkonstellation, in der zunächst lediglich der Erlass des Haftbefehls und erst nachfolgend gesondert die Entscheidung im beschleunigten Verfahren beantragt worden ist. Von daher sei unter Fortgeltung der allgemeinen Regeln das Amtsgericht Westerstede örtlich zuständig gewesen, so dass die Berufungskammer kein Verfahrenshindernis habe annehmen dürfen.

Die Generalstaatsanwaltschaft ist der Revision beigetreten.

II.

1.

Die Revision ist zulässig.

Ob angesichts der Rüge, das Landgericht habe die erstinstanzliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Westerstede verkannt und damit zu Unrecht ein Verfahrenshindernis angenommen, die Erhebung einer Verfahrensrüge erforderlich ist, kann dahinstehen. Denn aus dem Rügevorbringen ergibt sich unzweifelhaft, dass die Revision auf spezifische, das Verfahren betreffende Zuständigkeitsvorschriften abzielt. Da sich die Revision gegen den Inhalt des Urteils wendet, sind dem Senat zur Beurteilung des Verfahrensmangels auch die umfassenden tatsächlichen Urteilsfeststellungen der Berufungskammer zu den tragenden Gründen seines Einstellungsurteils zur Beurteilung der Rüge zugänglich, so dass das Fehlen weiterer Ausführungen unschädlich ist (sog. unsubstantiierte Verfahrensrüge, vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 22.02.2005 - 2 Ss 236/04, NStZ-RR 2005, 208 [209]).

2.

Die Revision ist auch begründet.

a)

Das angefochtene Urteil unterliegt schon deshalb der Aufhebung, weil das Landgericht unzutreffender Weise eine Einstellungsentscheidung nach § 260 Abs. 3 StPO getroffen hat. Das Urteil beruht somit auf einer Gesetzesverletzung gemäß § 337 StPO, namentlich auf der Nichtanwendung des § 328 Abs. 2 StPO (vgl. BayObLG, Urteil vom 26.03.1987 - RReg. 3 St 43/87, NJW 1987, 3091 [3092]). Denn hat - wie hier nach Auffassung des Landgerichts - das Gericht des ersten Rechtszuges zu Unrecht seine Zuständigkeit angenommen, so ist nach dieser Vorschrift für das Berufungsgericht die Verweisung an das zuständige Gericht unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils zwingend vorgeschrieben, zumal hier der Angeklagte über seinen Verteidiger sowohl in erster als auch zweiter Instanz den Einwand der örtlichen Unzuständigkeit nach § 16 Abs. 1 Satz 3 StPO rechtzeitig geltend gemacht hat (vgl. Quentin, in MüKo-StPO, 1. Aufl., § 328 Rn. 13 m.w.N.). Dem steht auch nicht der Umstand entgegen, dass der Angeklagte der Berufungshauptverhandlung ferngeblieben ist, da die Verweisung nach § 328 Abs. 2 StPO der Berufungsverwerfung nach § 329 Abs. 1 StPO wegen unentschuldigten Ausbleibens des Angeklagten vorgeht (vgl. BGH, Beschluss vom 13.12.2000 - 2 StR 56/00, BGHSt 46, 230 = NJW 2001, 1509 [1510]; OLG Celle, Beschluss vom 26.01.1994 - 3 St 92/93, NStZ 1994, 298; Gössel, in LR-StPO, 26. Aufl., § 329 Rn. 64; a.A. Meyer-Goßner, NStZ 1994, 402; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 328 Rn. 5).

b)

Darüber hinaus ist das Landgericht zu Unrecht vom Vorliegen eines Verfahrenshindernisses ausgegangen. Denn entgegen dessen Ansicht war das Amtsgericht Westerstede und nicht das Amtsgericht Oldenburg zur erstinstanzlichen Entscheidung berufen.

Die verfahrensgegenständliche Tat soll in Ort4 begangen worden sein, so dass gemäß § 7 Abs. 1 StPO die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Westerstede gegeben ist. Diese Zuständigkeit wird auch durch den seit dem 1. November 2020 geltenden und nachfolgend zitierten § 20a ZustVO-Justiz (Nds. GVBl. 2020, S. 360) nicht berührt, welcher lautet:

"Beschleunigtes Verfahren nach der Strafprozessordnung

1Für beschleunigte Verfahren nach den §§ 417 bis 420 der Strafprozessordnung (StPO) ist ausschließlich das Amtsgericht am Sitz des Landgerichts zuständig, wenn der Antrag der Staatsanwaltschaft nach § 417 StPO eine nach § 127 Abs. 1 oder 2 oder § 127b Abs. 1 StPO vorläufig festgenommene Person betrifft. 2§ 20 Abs. 1 bleibt unberührt."

Auch wenn der Wortlaut dieser Rechtsverordnung in hohem Maße die Gefahr missverständlichen Verständnisses in sich birgt, liegt nach diesem das auslösende Moment für eine Verlagerung der örtlichen Zuständigkeit nicht allein in der Stellung des - das beschleunigte Verfahren eröffnenden - Antrags nach § 417 StPO, sondern zugleich in dem Umstand, dass dieser Antrag eine auch zum Zeitpunkt der Antragstellung noch vorläufig festgenommene Person betrifft, nicht aber eine lediglich zunächst vorläufig festgenommene, gegen welche bereits ein Haftbefehl ergangen ist. Dass die Benennung der betroffenen Person als vorläufig festgenommene dahingehend zu verstehen ist, dass die Vorläufigkeit der Festnahme noch im Zeitpunkt der Antragstellung andauern muss, ergibt sich insbesondere aus der ansonsten kaum nachvollziehbaren expliziten Erwähnung der einzelnen, eine vorläufige Festnahme rechtfertigenden Normen. Diese Auslegung steht auch im Einklang mit dem Willen des Verordnungsgebers, wie er im ministeriellen Begleiterlass vom 15. Juli 2020 (Az.: 3130 - 102.1101) wie folgt zum Ausdruck kommt:

"[...] Nach § 20a ZuStVO-Justiz ist ausschließlich das Amtsgericht am Sitz der Staatsanwaltschaft für die Durchführung der Hauptverhandlung zuständig, wenn die Staatsanwaltschaft die Vorführung des Festgenommenen anordnet und zugleich den Antrag nach § 417 StPO stellt ("kombinierter Antrag"). Die Zuständigkeit des entsprechenden Amtsgerichts für die Vorführung ergibt sich aus § 129 StPO, da der Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren neben der Anklage eine weitere Form der Erhebung der öffentlichen Klage darstellt. § 20a ZuStVO-Justiz greift hingegen nicht, wenn der Beschuldigte nicht (mehr) festgenommen ist oder der Festgenommene aufgrund der Tat bereits inhaftiert worden ist und der Antrag nach § 417 StPO erst später gestellt wird ("isolierter Antrag"). [...]"

Ob die seitens des Verordnungsgebers intendierte Beschränkung auf kombinierte Anträge in vollem Umfang im Wortlaut der Norm, der auch Fälle, in welchen der Erlass des Haftbefehls vorab beantragt, zum Zeitpunkt des Antrages nach § 417 StPO aber noch nicht erlassen ist, erfasst, hinreichenden Niederschlag gefunden hat, muss der Senat vorliegend nicht entscheiden. Jedenfalls ergibt sich aus dieser eine Zuständigkeitsverlagerung ab dem 1. November 2020 für das beschleunigte Verfahren jedenfalls nicht in solchen Fällen, in denen im Zeitpunkt der Antragstellung nach § 417 StPO bereits Hauptverhandlungshaft angeordnet und insoweit nicht mehr eine - um mit den Worten der Verordnung zu sprechen - vorläufig festgenommene Person betroffen war.

So liegt es hier. Zwar ist bereits mit dem Haftbefehlsantrag vom 31. Oktober 2020 eine Antragstellung nach § 417 StPO angekündigt worden. Da aber auf Antrag der Staatsanwaltschaft Oldenburg vom 31. Oktober 2020 noch mit Beschluss vom selben Tag durch das Amtsgericht Oldenburg (Zentraler Bereitschaftsdienste der Amtsgerichte) die Hauptverhandlungshaft nach § 127b StPO angeordnet und nachfolgend erst am 2. November 2020 der Antrag gemäß § 417 StPO gestellt worden ist, ist § 20a ZuStVO-Justiz nicht einschlägig, mit der Folge, dass es bei dem nach § 7 Abs. 1 StPO begründeten Gerichtsstand des Tatortes, mithin bei der Zuständigkeit des Amtsgerichts Westerstede verbleibt.

3.

Nach alledem war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Oldenburg zurückzuverweisen, die auch über die Kosten der Revision zu entscheiden hat.