Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 23.11.2020, Az.: 7 B 3149/20
Armenien; Homosexualität; Inländische Fluchtalternative; Interner Schutz; Medizinische Versorgung; Schutzfähig- und -willigkeit des Staates
Bibliographie
- Gericht
- VG Oldenburg
- Datum
- 23.11.2020
- Aktenzeichen
- 7 B 3149/20
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2020, 71864
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Zur Lage in Armenien.
Homosexualität ist kein Abschiebungshindernis.
Tenor:
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die außergerichtlichen Kosten des
gerichtskostenfreien Verfahrens.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Gründe
Der Antrag, die nach § 75 AsylG ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der am 19. November 2020 erhobenen Klage des
Antragstellers (Az.: 7 A 3148/20) nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO iVm § 36 Absätze 3 und 4 AsylG anzuordnen, über den gemäß § 76 Abs. 4 AsylG der Berichterstatter als Einzelrichter entscheidet, ist unbegründet, weil ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes (Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Oldenburg, vom 11. November 2020) nicht bestehen (Art. 16a Abs. 4 GG, § 36 Abs. 4 AsylG), insbesondere nicht, soweit die Klage auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und Abs. 7
AufenthG gerichtet ist.
Gegenstand des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens ist gemäß § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG (zunächst) die unter Setzung einer Ausreisefrist von einer Woche (§ 36 Abs. 1 AsylG) ausgesprochene Abschiebungsandrohung, wobei das Gericht die Einschätzung der Antragsgegnerin, dass der Anspruch auf Asylanerkennung bzw. auf Feststellung der Flüchtlingseigenschaft und auf subsidiären Schutz offensichtlich nicht besteht, zum Gegenstand seiner Prüfung zu machen hat.
Eine solche Offensichtlichkeit ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1, Abs. 2 bis 5 oder des § 29a AsylG erfüllt sind oder wenn nach vollständiger Erforschung des Sachverhalts an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen keine Zweifel bestehen und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung (nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre) eine Ablehnung des Antrages geradezu aufdrängt (BVerfG, Beschlüsse vom 20. April 1988 - 2 BvR 1506/87 -, NVwZ 1988, 717, und vom 8. November 1991 - 2 BvR 1351/91 -, InfAuslR 1992, 72 [BVerfG 04.12.1991 - 2 BvR 657/91]). Dies wird bei Geltendmachung einer kollektiven Verfolgungssituation in der Regel nur bei gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung in Betracht kommen und ausnahmsweise bei Erkenntnissen, die auf regelmäßig eindeutigen und widerspruchsfreien Auskünften und Stellungnahmen sachverständiger Stellen beruhen (BVerfG, Beschlüsse vom 12. Juli 1983 - 1 BvR 1470/82 -, BVerfGE 65, 76, und vom 13. Oktober 1983 - 2 BvR 888/93 -, InfAuslR 1993, 390 [BVerfG 13.10.1993 - 2 BvR 888/93]). Bei der Geltendmachung von Einzelverfolgungsmaßnahmen kann sich eine Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich aufdrängen, wenn die im Einzelfall geltend gemachte Gefährdung des Asylsuchenden den von Art. 16a Abs. 1 GG vorausgesetzten Grad der Verfolgungsintensität nicht erreicht, die behauptete Verfolgungsgefahr allein auf nachweislich gefälschten oder widersprüchlichen Beweismitteln beruht oder sich das Vorbringen des Asylbewerbers insgesamt als unglaubhaft oder unschlüssig erweist (BVerfG, Beschlüsse vom 12. Juli 1983, a.a.O., und vom 27. Februar 1990 - 2 BvR 186/89 -, InfAuslR 1990, 199).
Ausgesetzt werden darf die Aussetzung der Abschiebung nur dann, wenn ernstliche Zweifel an dem Offensichtlichkeitsurteil oder an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung bestehen (§ 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG). Dies ist dann zu bejahen, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Abschiebungsandrohung einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1516/93 -, BVerfGE 94,166).
Im gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts liegen hier die Voraussetzungen für die Asylanerkennung, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und subsidiären Schutzes (§ 3 Abs. 1 und 4, §§ 3a - 3e, 4 AsylG) offensichtlich nicht (§ 30 Abs. 1 und 2 AsylG) und für die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 - 5 und 7 AufenthG (Letzteres allein ist im gerichtlichen Verfahren angewachsen) sowie auf einen Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland nicht vor.
Insoweit wird auf die zutreffende Begründung des angegriffenen Bescheides Bezug genommen, der das Gericht folgt (Feststellung gem. § 77 Abs. 2 AsylVfG). Ergänzend hält das Gericht Folgendes fest.
Der angegriffene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Oldenburg, vom 11. November 2020 erweist sich insgesamt als rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO. Die Voraussetzungen der von dem Antragsteller geltend gemachten Ansprüche (§ 60 Abs. 5, 7 AufenthG) sind nicht erfüllt. Er hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf subsidiären Schutz und insbesondere die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG (nur diese Ansprüche insbesondere macht er klageweise im Hauptsacheverfahren 7 A 3148/20 geltend), § 113 Abs. 5 VwGO, und insoweit nicht auf einen weiteren Verbleib in Deutschland.
So ist nichts dafür ersichtlich,
- dass Leben oder Freiheit des Antragstellers wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung in Armenien bedroht sind (§ 3 Abs. 1 AsylVfG),
- ihm in Armenien ein ernsthafter Schaden gemäß § 4 Abs. 1 AsylVfG droht (Satz 2 Nr. 1: Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Satz 2 Nr. 2: Folter oder menschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder Satz 2 Nr. 3: eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts),
- und insbesondere nicht, dass die Abschiebung unzulässig ist, weil
- sich dies aus der Anwendung der MRK ergibt (§ 60 Abs. 5 AufenthG), oder
- ihm Ansprüche auf Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG zustehen könnten.
Die Ablehnung aller Begehren (auch als offensichtlich unbegründet) ist gerechtfertigt. Dies drängt sich auf. Der angegriffene Bescheid begründet dies im Einzelnen sachgerecht und zutreffend. Dem folgt das Gericht. Dies gilt insbesondere für die im gerichtlichen Verfahren nur allein noch maßgebliche Frage des Vorliegens von Abschiebungshindernissen bzw. -verboten nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 AufenthG, die das Gericht mit den Gründen des Bescheids verneint, § 77 Abs. 2 AsylG.
Die Annahmen und Wertungen der Beklagten im angegriffenen Bescheid sind gedeckt durch den Inhalt der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel (vgl. insbesondere Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 22. März 2016, 21. Juni 2017, 7. April 2019 und 27. April 2020). Danach ergibt sich:
Armenien ist ein Binnenstaat im Kaukasus im Bergland zwischen Georgien, Aserbaidschan, Iran und der Türkei und entspricht dem nordöstlichen Teil des früheren, ehemals viel größeren armenischen Siedlungsgebietes. Die Bevölkerungszahl beträgt etwa drei Millionen. Mit dem Zerfall der Sowjetunion im Jahre 1991 erlangte die vormalige Armenische Sozialistische Sowjetrepublik ihre Unabhängigkeit. Innerhalb der seitherigen demokratischen Verfassung nach westlichen Muster hat die Republik Armenien als Staatsoberhaupt einen Präsidenten (derzeit: Sersch Sargsjan) und als Regierungschef einen Premierminister (derzeit: Karen Karapetjan).
Nach den Verfassungsänderungen von 2005 ist die Gewaltenteilung in der Verfassung der Republik Armenien formell gestärkt. Insoweit lässt sich allerdings in der Realität auch anderes feststellen. Die Unabhängigkeit der Gerichte leidet noch unter Korruption und Nepotismus (sog. Vetternwirtschaft). Im Dezember 2015 kam es zur Billigung weitreichender Verfassungsänderungen durch ein Referendum und damit zur Ausweitung des Grundrechtekatalogs, zur Umwandlung von einem semi-präsidialen zu einem parlamentarischen System und gleichzeitig auch zur Stärkung der Rechte der Opposition. Der Staatspräsident billigte im Februar 2015 den Strategieplan 2014 bis 2016 zur Umsetzung der internationalen Verpflichtungen Armeniens im Bereich der Menschenrechte durch die zuständigen Staatsorgane. Es kommt dennoch in Armenien zu politisch motivierten strafrechtlichen Verurteilungen und auch Haftstrafen. Friedensverhandlungen zur Beilegung des Bergkarabach-Konflikts mit Aserbaidschan werden geführt, eine Beilegung des Konfliktes ist aber derzeit nicht ersichtlich. Zuletzt kam es im Jahr 2016 zu Konflikten. Defizite sind im Bereich der Medien-und Informationsfreiheit weiterhin zu verzeichnen. Demonstrationen werden regelmäßig genehmigt; die verfassungsmäßig garantierte Versammlungsfreiheit wird allerdings durch das Gesetz über administrative Haft und das Versammlungsgesetz reglementiert. Auch im Laufe des Jahres 2015 ging die Polizei teilweise hart gegen verschiedene Demonstrationen vor. Die Proteste richteten sich beispielsweise gegen Strompreiserhöhungen oder gegen das Referendum zur Verfassungsreform (s.o.). Die Religionsfreiheit wird durch die Verfassung prinzipiell gewährt, unterliegt allerdings in der Praxis gewissen Einschränkungen. Die armenisch-apostolische Kirche genießt eine privilegierte Stellung, was in der Praxis zuweilen zu einer Zurücksetzung anderer Religionsgemeinschaften führen kann. Einvernehmliche homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen sind seit 2003 nicht mehr strafbar. Männer und Frauen sind gleichberechtigt; eine rechtliche Diskriminierung von Frauen gibt es nicht; die Rolle der Frau ist durch die traditionelle patriarchalische Gesellschaftsstruktur geprägt. Es gibt nur wenige Frauen in wichtigen Ämtern, schlechtere Bezahlung und mangelnde Aufstiegschancen sind die Regel. Die medizinische Versorgung ist grundsätzlich gewährleistet.
Die Erkenntnisse, die Grundlage der voranstehenden Einschätzung der Lage in Armenien sind, werden bestätigt durch den
„Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der
Republik Armenien (Stand: Februar 2017)“
des Auswärtigen Amtes vom 21. Juni 2017,
dessen ‚Zusammenfassung‘ (S. 5 ebd.) wörtlich wie folgt lautet:
- Die im Dezember 2015 durch Referendum gebilligten weitreichenden Verfassungsänderungen sehen zum einen die Ausweitung des Grundrechtekatalogs, zum anderen die Umwandlung von einem semi-präsidialen zu einem parlamentarischen System bei gleichzeitiger Stärkung der Rechte der Opposition vor.
- Die Menschenrechtslage bleibt jedoch trotz Fortschritten in einigen Teilbereichen weiterhin unbefriedigend.
-Grundsätzlich ist keine staatliche Beschränkung der Aktivitäten von Vertretern der Zivilgesellschaft oder eine Einschränkung der Meinungsfreiheit festzustellen. Gleichwohl sind Defizite im Bereich der Medien- und Informationsfreiheit zu verzeichnen. Die verfassungsmäßig garantierte Versammlungsfreiheit ist in der Praxis durch das Gesetz über administrative Haft und das Versammlungsgesetz eingeschränkt. Auch geht die Polizei weiterhin gelegentlich unangemessen hart gegen Demonstranten vor.
- Obwohl in der armenischen Verfassung das Verbot von Folter sowie von unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung festgeschrieben ist, kommen körperliche Misshandlungen in Polizeigewahrsam weiter vereinzelt vor. Das armenische Strafgesetzbuch steht weiterhin nicht in Übereinstimmung mit der VN Konvention gegen Folter. Die Situation in den Strafanstalten des Landes entspricht größtenteils nicht den internationalen Mindeststandards der Häftlingsbetreuung.
- Die Verfassung gewährt prinzipiell Religionsfreiheit. Diese unterliegt in der Praxis jedoch gewissen Einschränkungen. Die privilegierte Stellung der armenisch-apostolischen Kirche führt in der Praxis zuweilen zu einer Zurücksetzung anderer Religionsgemeinschaften.
Vor diesem Hintergrund beurteilt der angegriffene Bescheid die Lage in Armenien und die Situation des Antragstellers zutreffend. Er würdigt dazu zutreffend, dass ihm gegenüber keine Maßnahmen ergriffen worden sind, die relevant sein könnten, soweit es die geltend gemachten Ansprüche anbelangt. Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a AsylG lagen nicht vor und drohen auch bei gedachter Rückkehr nicht. Entsprechendes gilt auch mit Blick auf § 4 AsylG; es droht kein ernsthafter Schaden in Armenien. Dies gilt insgesamt auch unter Berücksichtigung der sexuellen Orientierung (siehe auch oben zur Abschaffung einer Strafbarkeit). Schließlich ist die medizinische Versorgung gewährleistet. Damit liegen Abschiebungshindernisse im Sinne von § 60 Abs. 5, Abs. 7 AufentG nicht vor.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese ist u.a. dann gegeben, wenn mit überwiegender Wahrscheinlichkeit alsbald nach der Rückkehr ins Heimatland die wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlimmerung einer Krankheit zu erwarten ist (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG; vgl. BVerwG, Urteil vom 25. November 1997
- 9 C 58.97 - BVerwGE 105, 383 <387> juris), wobei in zeitlicher Hinsicht ein Prognosezeitraum von etwa einem Jahr angemessen ist (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 22. März 2006 - 10 LA 287/05 - <Seite 6>). Zu berücksichtigen ist dabei, ob dem Ausländer die erforderlichen therapeutischen Maßnahmen individuell zugänglich sind, insbesondere finanziert werden können (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2002 - 1 C 1.02 - NVwZ-Beilage 2003, 53, juris). Es ist aber nicht erforderlich, dass die Versorgung
im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist
(§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Die Gefahr muss zudem nicht nur im Heimatort des Betroffenen, sondern landesweit
bestehen (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG; vgl. BVerwG, Urteil vom 15. April 1997 - 9 C 38.96 - BVerwGE 104, 265 <267>). Diese Voraussetzungen decken sich insoweit mit der bisherigen ständigen Rechtsprechung in der Kammer (vgl. Urteil vom 8. November 2016 - 7 A 3449/16 -, Vnb., Beschlüsse vom 9. April 2015 - 7 B 1548/15 -, vom 27. Januar 2016 - 7 B 283/16 -, vom 1. Juni 2016 - 7 B 1888/16 -, und Urteil vom 25. November 2016 - 7 A 5498/16 -, jeweils juris; siehe auch OVG Lüneburg, Beschluss vom 19. August 2016 - 8 ME 87/16 - juris).
Selbst für den Fall, dass man auf eine Behandlung in Armenien länger warten müsste als in Deutschland und deren Standard hinter dem hiesigen zurückbleibt, genügt dies nicht, um von einer konkreten, d.h. alsbald eintretenden und erheblichen Verschlechterung der gesundheitlichen Situation auszugehen, vgl. § 60 Abs. 7 AufenthG (n. F.). Zur Überbrückung der Zeit bis zum Beginn der Behandlung in Armenien ist es zudem möglich, die ggf. in Deutschland erhaltenen Medikamente zu gebrauchen. Denn die Gewährung von Abschiebungsschutz gem. § 60 Abs. 7 AufenthG dient nicht dazu, eine bestehende Erkrankung optimal zu behandeln oder ihre Heilungschancen zu verbessern. Schließlich könnte man eventuell benötigte Medikamente auch in Armenien erhalten. Die gesetzliche Pflichtversicherung umfasst auch die Versorgung mit den notwendigen Medikamenten.
Hinsichtlich der medizinischen Versorgung heißt es im o.a. „Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien (Stand: Februar 2017)“ des Auswärtigen Amtes vom 21. Juni 2017 im Wortlaut (Seite 18 - 19):
1.3. Medizinische Versorgung
Die medizinische Grundversorgung ist flächendeckend gewährleistet.
Die primäre medizinische Versorgung ist größtenteils noch immer wie zu Sowjet-Zeiten organisiert. Die Leistungen werden in der Regel entweder durch regionale Polikliniken oder ländliche Behandlungszentren/Feldscher-Stationen erbracht. Die sekundäre medizinische Versorgung wird von 37 (Stand: 2016) regionalen Krankenhäusern und einigen der größeren Polikliniken mit speziellen ambulanten Diensten übernommen, während die tertiäre medizinische Versorgung größtenteils den staatlichen Krankenhäusern und einzelnen Spezialeinrichtungen in Eriwan vorbehalten ist.
Die primäre medizinische Versorgung ist wie früher grundsätzlich kostenfrei. Anders als zu Zeiten der UdSSR gilt dies allerdings nur noch eingeschränkt für die sekundäre und die tertiäre medizinische Versorgung. Das Fehlen einer staatlichen Krankenversicherung erschwert den Zugang zur medizinischen Versorgung insoweit, als für einen großen Teil der Bevölkerung die Finanzierung der kostenpflichtigen ärztlichen Behandlung extrem schwierig geworden ist. Viele Menschen sind nicht in der Lage, die Gesundheitsdienste aus eigener Tasche zu bezahlen. Der Abschluss einer privaten Krankenversicherung übersteigt die finanziellen Möglichkeiten der meisten Familien bei weitem.
Ein Grundproblem der staatlichen medizinischen Fürsorge ist die nach wie vor bestehende Korruption auf allen Ebenen, ein weiteres Problem die schlechte Bezahlung des medizinischen Personals (für einen allgemein praktizierenden Arzt ca. 200,- Euro/ Monat). Dies führt dazu, dass die Qualität der medizinischen Leistungen des öffentlichen Gesundheitswesens in weiten Bereichen unzureichend ist. Denn hochqualifizierte und motivierte Mediziner wandern in den privatärztlichen Bereich ab, wo Arbeitsbedingungen und Gehälter deutlich besser sind.
Der Ausbildungsstand des medizinischen Personals ist zufriedenstellend. Die Ausstattung der staatlichen medizinischen Einrichtungen mit technischem Gerät ist dagegen teilweise mangelhaft. In einzelnen klinischen Einrichtungen – meist Privatkliniken - stehen hingegen moderne Untersuchungsmethoden wie Ultraschall, Mammographie sowie Computer- und Kernspintomographie zur Verfügung.
Insulinabgabe und Dialysebehandlung erfolgen grundsätzlich kostenlos: Die Anzahl der kostenlosen Behandlungsplätze ist zwar beschränkt, aber gegen Zahlung ist eine Behandlung jederzeit möglich. Die Dialysebehandlung kostet ca. 35 USD pro Sitzung. Selbst Inhaber kostenloser Behandlungsplätze müssen aber noch in geringem Umfang zuzahlen. Derzeit ist die Dialysebehandlung in 5 Krankenhäusern in Eriwan möglich, auch in den Städten Armawir, Gjumri, Kapan, Noyemberyan und Vanadsor sind die Krankenhäuser entsprechend ausgestattet.
Die größeren Krankenhäuser in Eriwan sowie einige Krankenhäuser in den Regionen verfügen über psychiatrische Abteilungen und Fachpersonal. Die technischen Untersuchungsmöglichkeiten haben sich durch neue Geräte verbessert. Die Behandlung von posttraumatischem Belastungssyndrom (PTBS) und Depressionen ist auf gutem Standard gewährleistet und erfolgt kostenlos.
Problematisch ist die Verfügbarkeit von Medikamenten: Nicht immer sind alle Präparate vorhanden, obwohl viele Medikamente in Armenien in guter Qualität hergestellt und zu einem Bruchteil der in Deutschland üblichen Preise verkauft werden. Importierte Medikamente (z.B. von Bayer, Gedeon Richter oder Solvay) sind dagegen überall erhältlich und ebenfalls billiger als in Deutschland; für die Einfuhr ist eine Genehmigung durch das Gesundheitsministerium erforderlich.
Danach (und nichts anderes gilt mit jüngeren Erkenntnismitteln, z.B. Lagebericht vom 7. April 2019) sind generell und bei grundsätzlicher Betrachtung weitgehend alle Krankheiten und Beschwerden bei gedachter Rückkehr nach Armenien dort behandelbar und erfüllen nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz. Daran hält das Gericht im und als Grundsatz fest. Auch insoweit ist dem angegriffenen Bescheid zu folgen.
Allerdings muss dabei berücksichtigt werden, dass die Annahmen des Auswärtigen Amtes zur Gesundheitsversorgung in Armenien insoweit kritisch zu betrachten gewesen sein sollen, wie es sich aus dem Gutachten von Savvidis, Tessa, ergeben konnte [vom 28. Juli 2011 an Hessen / Verwaltungsgericht <Gießen>, 18.02.2011, 7 K 5123/10.GI.A (Anfrage vom 18.02.2011 zu 7 K 5123/10.GI.A)], und außerdem, dass die Frage, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz angesichts einer Erkrankung bei dem jeweiligen Ausländer vorliegen, nur einer Beurteilung anhand der jeweiligen Fallumstände, insbesondere des konkreten Krankheitsbildes, der konkreten notwendigen medizinischen Behandlungen und deren individueller Verfügbarkeit im Herkunftsstaat zugänglich ist, die grundsätzlich nicht „abstrakt“ für eine Vielzahl von Fällen gleichsam vorab vorgenommen werden kann (Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichtes vom 11. August 2015 - 8 LA 145/15 -, V.n.b., m.w.N.). Die insoweit gebotene Einzelfallbetrachtung führt hier aber zu keinem anderen Ergebnis, zumal es auf die allgemeine COVID-19-Problematik nicht weiter ankommt (siehe VG Würzburg, Beschluss vom 17. August 2020 – W 8 S 20.30945 –, juris) und zudem die geltend gemachten psychischen Störungen (z.B. depressive Episode mit eventueller Suizidalität, siehe Schriftsatz vom 23. November 2020) hierbei nicht durchgreifen, sondern vielmehr behandelbar sind. Das Vorbringen hinsichtlich der Beeinträchtigungen seitens Dritter im Zusammenhang mit Homosexualität lässt schon eine innerstaatliche Fluchtalternative außer Betracht. Die Behandlung von PTBS und Depressionen ist in Armenien auf gutem Standard gewährleistet und kostenlos, so dass das diesbezügliche Vorbringen nicht genügende und zudem nicht einmal durch ein Attest o.ä. versucht wird zu belegen, so dass es auch kein Abschiebungshindernis begründet (so schon VG Arnsberg mit Urteil vom 18. Juni 2013 bereits, Aktenzeichen: 9 K 785/12.A, juris). Auch muss sich der Antragsteller staatlichen Schutzes vergewissern.
Der Antragsteller könnte zum einen wegen der Erlangung staatlichen Schutzes, zum anderen wegen sicherer Orte an anderer Stelle in Armenien ohne begründete Angst vor und frei von Verfolgung in Armenien leben (so schon VG München, Urteil vom 22. Juni 2001 - M 23 K 00.51963 -, juris). Dementsprechend hat auch das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen (VG Gelsenkirchen, Urteil vom 22. August 2014 - 6a K 2888/11.A -, juris) überzeugend darauf abgestellt, dass selbst dann, wenn die Angaben über angebliche Übergriffe Dritter bei gedachter Rückkehr nach Armenien zutreffen sollten, solche Übergriffe dem armenischen Staat nicht zuzurechnen wären, weil er Schutz vor Verfolgung bieten kann, wobei das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen (ebenda) zutreffend darauf abhebt, dass der Umstand allein, dass die staatlichen Organe trotz prinzipieller Schutzbereitschaft nicht immer in der Lage sind, die Betroffenen vor Übergriffen wirkungsvoll zu schützen, nicht dafür ausreicht, von Schutzunfähigkeit oder Schutzunwil-ligkeit auszugehen, und insoweit wörtlich festhält (VG Gelsenkirchen, Urteil vom 22. Au-gust 2014 - 6a K 2888/11.A -, juris, RNn 48ff.):
„Kein Staat vermag einen schlechthin perfekten, lückenlosen Schutz zu gewähren und sicherzustellen, dass Fehlverhalten, Fehlentscheidungen einschließlich sog. Amtswalterexzesse oder bei der Erfüllung der ihm zukommenden Aufgabe der Wahrung des inneren Friedens nicht vorkommen. Deshalb lässt weder eine Lückenhaftigkeit des Systems staatlicher Schutzgewährung überhaupt noch eine im Einzelfall von den Betroffenen erfahrene Schutzversagung als solche schon staatliche Schutzbereitschaft oder Schutzfähigkeit entfallen. Umgekehrt ist eine grundsätzliche Schutzbereitschaft des Staates zu bejahen, wenn die zum Schutz der Bevölkerung bestellten (Polizei-)Behörden bei Übergriffen Privater zur Schutzgewährung ohne Ansehen der Person verpflichtet und dazu von der Regierung auch landesweit angehalten sind.
Dies ist in Armenien der Fall. Im Falle von Straftaten gegen Angehörige der Jesidischen Bevölkerungsminderheit ermitteln die armenischen Behörden zwar häufig sehr lange, dies ist aber auch dann der Fall, wenn die Verfahren ausschließlich armenische Volkszugehörige betreffen. Vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu Armenien, Stand Januar 2012. Sofern eine Straftat vorliegt und von einem Jesiden zur Anzeige gebracht wird, wird die Polizei Ermittlungen einleiten und Maßnahmen zum Opferschutz treffen. Vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 30. Mai 2014 an das VG Schwerin. Daher ist nach den vorliegenden Erkenntnismitteln davon auszugehen, dass der armenische Staat willens und in der Lage ist, wirksamen - wenn auch nicht lückenlosen - Schutz vor Verfolgung zu bieten (§ 3d AsylVfG).“
Auch der armenische Staat vermag mithin keinen schlechthin perfekten, lückenlosen Schutz zu gewähren und kann nicht sicherstellen, dass Fehlverhalten nicht vorkommt (vgl. zum Ganzen Gerichtsbescheid vom 8. März 2018 – 7 A 803/18 – juris, und Urteil vom 22. November 2018 – 7 A 2626/18 – Vnb. – und vom 16. August 2019 – 7 A 2008/19 – juris). Deshalb lässt weder eine Lückenhaftigkeit des Systems staatlicher Schutzgewährung überhaupt noch eine im Einzelfall von den Betroffenen erfahrene Schutzversagung als solche schon die staatliche Schutzbereitschaft oder Schutzfähigkeit entfallen. Umgekehrt ist eine grundsätzliche Schutzbereitschaft des Staates zu bejahen, wenn die zum Schutz der Bevölkerung bestellten Behörden bei Übergriffen Privater zur Schutzgewährung ohne Ansehen der Person verpflichtet und dazu von der Regierung auch landesweit angehalten sind.
Dies ist in Armenien der Fall. Sofern eine Straftat vorliegt und zur Anzeige gebracht wird, leitet die Polizei Ermittlungen ein und trifft Maßnahmen zum Opferschutz. Dabei ermitteln die armenischen Behörden allerdings gelegentlich langsam und lange.
Insgesamt ist nach den vorliegenden Erkenntnismitteln davon auszugehen, dass der armenische Staat willens und in der Lage ist, wirksamen - wenn auch nicht lückenlosen - Schutz vor Verfolgung zu bieten (§ 3d AsylG). Selbst wenn sich die Geschehnisse wie vom Antragsteller behauptet zugetragen haben sollten, könnten er die geltend gemachten Ansprüche daraus nicht herleiten. Bei den angeblichen Übergriffen / Bedrohungen / Erpressungsversuchen / Nötigungen würde es sich um schlichtes kriminelles Unrecht handeln. Zudem scheidet die geltend gemachte Verfolgung durch Privatpersonen als nichtstaatliche Akteure auch aus, da die Polizei in Armenien nicht erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens ist, Schutz vor Verfolgung zu bieten, siehe oben. Möglicherweise - dies ist jedenfalls nie ganz auszuschließen - könnten zwar die staatlichen Bemühungen zur Prävention bzw. Ermittlung und Strafverfolgung bei (dro-henden) Angriffen Dritter bisweilen als nicht immer zureichend bewertet werden. Um hieraus aber den Schluss ziehen zu können, der armenische Staat sei erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, bedarf es zumindest dann, wenn eine generelle Schutzverweigerung des Staates behauptet wird, konkreter und gesicherter Anhaltspunkte dafür, dass der Staat keine zureichenden Vorkehrungen zur Eindämmung privater Gewalt gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen getroffen hat bzw. seine Machtmittel zur Ahndung gewaltsamer Übergriffe nicht ausreichten. Der Umstand allein, dass die staatlichen Organe trotz prinzipieller Schutzbereitschaft nicht immer in der Lage sind, die Betroffenen vor derartigen Übergriffen wirkungsvoll zu schützen, reicht hierfür jedenfalls nicht aus. Kein Staat vermag einen schlechthin perfekten, lückenlosen Schutz zu gewähren und sicherzustellen, dass Fehlverhalten, Fehlentscheidungen einschließlich sogenannter Amtswalterexzesse bei der Erfüllung der ihm zukommenden Aufgabe der Wahrung des inneren Friedens nicht vorkommen. Deshalb lässt weder eine Lückenhaftigkeit des Systems staatlicher Schutzgewährung überhaupt noch eine im Einzelfall von den Betroffenen erfahrene Schutzversagung als solche schon staatliche Schutzbereitschaft oder Schutzfähigkeit entfallen. Umgekehrt ist eine grundsätzliche Schutzbereitschaft des Staates zu bejahen, wenn die zum Schutz der Bevölkerung bestellten (Polizei-) Behörden bei Übergriffen Privater zur Schutzgewährung ohne Ansehen der Person verpflichtet und dazu von der Regierung auch landesweit angehalten sind, was in Armenien der Fall ist, auch wenn die Polizei eventuell nicht in allen Fällen mit der gebotenen Konsequenz gegen Übergriffe (beispielsweise etwa auf Minderheiten) vorgehen sollte. Jedoch führen Anzeigen (beispielsweise etwa von Minderheitsangehörigen) auch in der Praxis zu Gerichtsprozessen.
Zudem ist auf Grundlage der Angaben des Antragstellers festzustellen, dass er sich nicht hinreichend intensiv genug (bzw. überhaupt nicht) allgemein oder aber etwa an übergeordnete hohe Polizeidienststellen an anderer Stelle gewandt hat. Außerdem könnte er sich – was er (ebenfalls nach eigenen Angaben) allerdings wohl ebenfalls nicht versucht hat – unbehelligt an anderer Stelle in Armenien aufhalten, hatte und hätte mithin eine zumutbare inländische Fluchtalternative
Auch insoweit vermag das Gericht nicht das Vorliegen der Voraussetzungen eines (zielstaatsbezogenen) Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 5 oder § 60 Abs. 7 AufenthG festzustellen und liegt hier im Einzelfall keine Vergleichbarkeit mit z.B. dem vom VG Würzburg mit Urteil vom 6. Juli 2020 – W 8 K 19.31125 –, juris, entschiedenen Einzelfall vor.
Abschließend bezieht sich das Gericht zur weiteren Begründung des Beschlusses (erneut) entsprechend § 77 Abs. 2 AsylG auf die zutreffenden Gründe des angegriffenen Bescheides, die es sich auch zum maßgeblichen Zeitpunkt des Ergehens der Entscheidung gemäß § 77 Abs. 1 AsylG zu Eigen macht.