Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 09.06.2020, Az.: 3 Ws 97/20 (MVollz)
Fernstudium als zuwendungsfähige Teilnahme an beruflicher Eingliederungsmaßnahme
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 09.06.2020
- Aktenzeichen
- 3 Ws 97/20 (MVollz)
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2020, 25599
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2020:0609.3WS97.20MVOLLZ.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Hannover - AZ: 71 StVK 139/19
- LG Hannover - AZ: 71 StVK 143/19
Rechtsgrundlagen
- § 116 Abs. 1 StVollzG
- § 138 Abs. 3 StVollzG
Amtlicher Leitsatz
Die Teilnahme einer im Maßregelvollzug nach § 63 StGB untergebrachten Person an einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme ist nicht bereits deshalb von dem Zuwendungstatbestand nach § 12 Abs. 1 Satz 2 Nds. MVollzG ausgeschlossen, weil es sich um ein Fernstudium handelt.
Tenor:
- 1.
Auf die Rechtsbeschwerde des Antragstellers werden
a) der Beschluss der 1. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover vom 27. Februar 2020, soweit der Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zurückgewiesen worden ist, und
b) der Bescheid der Antragsgegnerin vom 25. Oktober 2019
aufgehoben.
- 2.
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden.
- 3.
Die Kosten der Rechtsbeschwerde und der ersten Instanz sowie die notwendigen Auslagen des Antragstellers hat die Landeskasse zu tragen.
- 4.
Der Streitwert wird für beide Instanzen auf bis zu 500 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller befindet sich im Vollzug einer Maßregel nach § 63 StGB. Am 13. Januar 2017 genehmigte die Antragsgegnerin die Teilnahme des Antragstellers an einer Umschulung zum Medienbetriebswirt an einer Fernschule. Der Antragsteller nimmt seit dem 23. Januar 2017 an der insgesamt 30 Monate dauernden Umschulung teil. Seitdem streiten die Parteien darüber, ob dem Antragsteller hierfür eine Ausbildungsbeihilfe gezahlt wird.
Bescheide, mit denen die Antragsgegnerin die Bewilligung einer Ausbildungsbeihilfe zunächst ablehnte und sodann eine Ausbildungsbeihilfe in Höhe von 25 € monatlich bewilligte, hob das Landgericht Hannover jeweils auf. Mit Beschluss vom 31. Juli 2019 - 71 StVK 30/19 - hob das Landgericht Hannover den Bescheid vom 29. Januar 2019, mit dem die Antragsgegnerin die Bewilligung einer Ausbildungsbeihilfe wieder ablehnte, auf und verpflichtete die Antragsgegnerin zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Landgerichts.
Daraufhin erließ die Antragsgegnerin am 25. Oktober 2019 einen neuen Bescheid, mit dem sie die Bewilligung einer Ausbildungsbeihilfe erneut ablehnte. Zur Begründung führte sie aus, dass ein Fernstudium von der Regelung des § 12 Abs. 1 Satz 2 Nds. MVollzG nicht erfasst werde. Den dort genannten Tätigkeiten sei gemein, dass sie werktags zu den "üblichen" Arbeitszeiten stattfänden und damit einer beruflichen Tätigkeit im Sinne wirtschaftlicher Arbeit gleichgestellt seien. Ein Fernstudium unterscheide sich von den dort genannten Möglichkeiten dadurch, dass es grundsätzlich so angelegt sei, dass es berufsbegleitend in der arbeitsfreien Zeit durchführbar sei. Dies belege auch der durch den Antragsteller beschriebene Zeitaufwand von 10 bis 12 Stunden wöchentlich für sein Fernstudium.
Hierauf stellte der Antragsteller mit Schreiben vom 28. Oktober 2019, das am 30. Oktober 2019 beim Landgericht Hannover einging, Antrag auf gerichtliche Entscheidung und beantragte zugleich die Festsetzung eines Zwangsgeldes gegen die Antragsgegnerin.
Mit Beschluss vom 27. Februar 2020 hat die Strafvollstreckungskammer den Antrag auf gerichtliche Entscheidung und den Antrag auf Festsetzung eines Zwangsgeldes als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass die Zahlung von Zuwendungen nach § 12 Abs. 1 Satz 2 Nds. MVollzG im Ermessen der Antragsgegnerin stehe und diese mit dem Bescheid vom 25. Oktober 2019 von ihrem Ermessen in nicht zu beanstandender Art und Weise Gebrauch gemacht habe. Dem Bescheid sei zu entnehmen, dass sich die Antragsgegnerin des "eröffneten Ermessens bewusst" gewesen sei und ihre Entscheidung "logisch und inhaltlich nachvollziehbar begründet" habe.
Gegen diesen - dem Antragsteller am 9. März 2020 zugestellten - Beschluss wendet sich der Antragsteller mit seiner Rechtsbeschwerde vom 25. März 2020, soweit der Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zurückgewiesen worden ist.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist nach §§ 116 Abs. 1, 138 Abs. 3 StVollzG zulässig, weil es geboten ist, die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung zur Fortbildung des Rechts zu ermöglichen. Der Streitfall gibt Anlass, Leitsätze für die Auslegung von § 12 Abs. 1 Satz 2 Nds. MVollzG aufzustellen.
III.
Die Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg.
1. Der angefochtene Beschluss hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Der Ablehnungsbescheid der Antragsgegnerin vom 25. Oktober 2019 ist rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten.
a) Abgesehen von den zwingend zu gewährenden Zuwendungen für wirtschaftlich ergiebige Arbeit nach § 12 Abs. 1 Satz 1 Nds. MVollzG "können" der untergebrachten Person nach Satz 2 der Vorschrift vom Träger der Einrichtung "auch Zuwendungen für eine sonstige Tätigkeit im Rahmen einer Arbeitstherapie, für die Teilnahme an beruflicher Eingliederung, am Unterricht oder an heilpädagogischer Förderung" gewährt werden. Das Gesetz begründet in § 12 Abs. 1 Satz 2 Nds. MVollzG also nicht einen Anspruch auf die Bewilligung von Zuwendungen, sondern lediglich auf ermessensfehlerfreie Entscheidung hierüber. Insoweit ist die gerichtliche Überprüfung gemäß §115 Abs. 5 StVollzG darauf beschränkt, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist.
b) Es begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken, dass die Antragsgegnerin ihren Ablehnungsbescheid allein damit begründet hat, ein "Fernstudium" sei nicht von § 12 Abs. 1 Satz 2 Nds. MVollzG "erfasst". Damit hat die Antragsgegnerin bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Bewilligung der beantragten Zuwendung verneint und von ihrem Ermessen gar nicht erst Gebrauch gemacht. Das ist mit Wortlaut und Zweck des Gesetzes nicht vereinbar.
Das Gesetz nennt als Zuwendungstatbestand "die Teilnahme an beruflicher Eingliederung". Eine Anknüpfung daran, in welcher Form diese "berufliche Eingliederung" stattfindet, und ein Ausschluss von Fernkursen, Fernschulen oder Fernstudiengängen, ist dem Gesetz nicht zu entnehmen. Er lässt sich auch nicht aus einem Vergleich mit den anderen Zuwendungstatbeständen mit der Erwägung ableiten, diesen sei "gemein, dass sie werktags zu den 'üblichen' Arbeitszeiten stattfinden und damit einer beruflichen Tätigkeit im Sinne wirtschaftlicher Arbeit gleichgestellt sind".
Aus § 9 Nds. MvollzG ergibt sich, dass auch Umschulungen unter "berufliche Eingliederung" im Sinne des Gesetzes fallen. Denn unter der Überschrift "Ausbildung, berufliche Eingliederung" schreibt das Gesetz dort vor, dass der untergebrachten Person Gelegenheit zur Schulausbildung, zur Berufsausbildung, zur Umschulung, zur Teilnahme an berufsfördernden Maßnahmen oder zur Förderung in einer arbeitstherapeutischen Einrichtung gegeben werden soll. Die Funktion der Zuwendungen nach § 12 Abs. 1 Satz 2 Nds. MVollzG besteht nun darin, einen "Ausgleich für entgangene Entschädigung für wirtschaftlich ergiebige Arbeit zu schaffen" und dadurch etwaige Vorbehalte gegenüber der "für den Rehabilitationsauftrag wichtigen Beteiligung an pädagogischer und beruflicher Förderung" auszuräumen (LT-Drucks. 9/2605, S. 35). Hieraus kann jedoch nicht mit der Begründung, dass daneben auch wirtschaftlich ergiebige Arbeit geleistet werden könne, der generelle Ausschluss von Fernkursen, Fernschulen oder Fernstudiengängen aus dem Zuwendungstatbestand abgeleitet werden. Diese verallgemeinernde Betrachtung wird weder dem Förderungsziel noch dem Charakter der Maßnahme gerecht. So kann auch ein Fernstudium als Vollzeitstudium betrieben werden mit der Folge von Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung (Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 8. Juni 2016 - L 16 R 397/14, juris). Und auch der Besuch einer Fernschule kann als Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht einen Anspruch auf Kostenübernahme nach § 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII begründen (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 5. Februar 2018 - 12 C 17.2563, juris).
Um dem Zweck der gesetzlichen Regelung gerecht zu werden, ist eine Abwägung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls vorzunehmen. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, inwieweit die untergebrachte Person nach ihrem Krankheitsbild und ihren individuellen Fähigkeiten neben beruflicher Eingliederung und sonstigen Therapiemaßnahmen in der Lage ist, auch wirtschaftlich ergiebige Arbeit zu leisten, ohne das Behandlungsziel nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nds. MVollzG zu gefährden. An einer solchen Abwägung fehlt es hier.
2. Hiernach waren angefochtene Beschluss und - aufgrund von Spruchreife der Sache (§ 119 Abs. 4 Satz 2 StVollzG) - auch der Ablehnungsbescheid der Antragsgegnerin aufzuheben. Die Antragsgegnerin war gemäß § 115 Abs. 4 Satz 2 StVollzG zu verpflichten, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden.
IV.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 121 Abs. 4 StVollzG, 467 StPO entsprechend.
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 1 Abs. 1 Nr. 8, 52, 60, 65 GKG.