Oberlandesgericht Braunschweig
Urt. v. 26.06.2015, Az.: 1 Ss 30/15
Festsetzung der Tagessatzhöhe bei Bezug von Leistungen nach dem SGB II
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 26.06.2015
- Aktenzeichen
- 1 Ss 30/15
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2015, 20952
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:2015:0626.1SS30.15.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Braunschweig - 17.02.2015
Rechtsgrundlagen
- StGB § 40
- SGB II § 20
- SGB II § 22
Fundstellen
- StRR 2015, 322
- StRR 2016, 14-15
- ZAP EN-Nr. 886/2015
- ZAP 2015, 1235
Amtlicher Leitsatz
Bei der Bemessung der Tagessatzhöhe ist in der Regel vom Nettoeinkommen auszugehen (Nettoeinkommensprinzip); etwaige Abweichungen vom Nettoeinkommensprinzip sind in einer einzelfallorientierten Erörterung der Gesamtbelastung eines Angeklagten (Vermögen, Verbindlichkeiten etc.) nachvollziehbar zu begründen.
Bei Empfängern von Leistungen nach dem SGB II besteht zwar Anlass, eine Herabsetzung der Tagessatzhöhe sorgsam zu prüfen. Allein der Bezug solcher Leistungen ersetzt die für eine Herabsetzung der Tagessatzhöhe erforderliche Erörterung der Gesamtbelastung indes nicht.
Tenor:
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 17. Februar 2015 im Ausspruch über die Höhe des Tagessatzes mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Braunschweig zurückverwiesen.
Gründe
I.
Der Angeklagte ist durch das Urteil des Amtsgerichts Braunschweig vom 8. Januar 2015 wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln mit einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu je 10 € belegt worden. Durch das angefochtene Urteil vom 17. Februar 2015 hat das Landgericht Braunschweig die Berufung der Staatsanwaltschaft, die ihr Rechtsmittel zuvor auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt hatte und damit die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe erreichen wollte, mit der Maßgabe verworfen, dass der Angeklagte zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 12,- € verurteilt worden ist.
In den Urteilsgründen hat das Landgericht festgestellt, dass der Angeklagte geschieden sei, keine Kinder habe und an Kehlkopfkrebs leide. Der Angeklagte habe - so die weiteren Feststellungen - den Beruf des Dachdeckers erlernt, sei jedoch derzeit arbeitslos und beziehe Leistungen nach dem SGB II. Für seinen Lebensunterhalt erhalte er monatlich 392,- €. Außerdem übernehme der Sozialleistungsträger die Kosten für die Unterkunft in Höhe von 250 € monatlich und Heizkosten in Höhe von 90 € monatlich. Insgesamt erhalte der Angeklagte staatliche Zuwendungen von 732 € pro Monat. Die Tagessatzhöhe sei vor diesem Hintergrund auf 12,- € festzusetzen. Bei der Bemessung des Nettoeinkommens seien zwar grundsätzlich neben dem Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts auch die Kosten für Unterkunft und Heizung einzubeziehen. Die Kammer habe die Höhe des Tagessatzes im konkreten Fall jedoch abgesenkt, weil nahe am Existenzminimum Lebende durch das Nettoeinkommensprinzip "systembedingt härter getroffen werden als Normalverdienende". Eine weitere Begründung zur Absenkung der Tagessatzhöhe enthält das Urteil nicht.
Die Staatsanwaltschaft hat am 17. Februar 2015 Revision eingelegt und diese nach Zustellung des Urteils (am 23. Februar 2015) am 18 März 2015 (Eingang bei Gericht) mit der Verletzung materiellen Rechts begründet. In ihrer Stellungnahme vom 27. April 2015 hat die Generalstaatsanwaltschaft die Revision auf den Ausspruch über die Höhe des einzelnen Tagessatzes beschränkt und das weitergehende Rechtsmittel zurückgenommen. Die Höhe des Tagessatzes sei zu beanstanden, weil die Kammer die vom Nettoeinkommensprinzip abweichende Herabsenkung des Tagessatzes rechtsfehlerhaft allein mit dem Bezug von Leistungen nach dem SGB II begründet habe.
Der Angeklagte beantragt, die Revision als unbegründet zu verwerfen. Er verteidigt das angefochtene Urteil und verweist auf seine beengten Vermögensverhältnisse.
II.
Die Revision der Staatsanwaltschaft ist statthaft und auch sonst zulässig; sie ist insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Das Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg und führt zur Aufhebung des Ausspruchs über die Tagessatzhöhe.
Nach wirksamer Beschränkung der Revision ist vom Senat nur die Frage der Tagessatzhöhe zu prüfen (§ 352 StPO). Die Bemessung der Höhe eines Tagessatzes ist ein abgrenzbarer Beschwerdepunkt, der in der Regel - so auch hier - losgelöst vom übrigen Urteilsinhalt geprüft werden kann (BGH, Beschluss vom 3.11.1976, 1 StR 319/76, juris, Rn. 2, BGH, Urteil vom 10.01.1989, 1 StR 682/88 = NStZ 1989, 178; OLG Braunschweig, Beschluss vom 19.05.2014, 1 Ss 18/14, juris, Rn. 5 = NdsRpfl 2014, 258; Fischer, StGB, 62. Aufl., § 40 Rn. 26).
Die konkrete Festsetzung der Tagessatzhöhe auf 12,- € begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Zwar obliegt die Bemessung der konkreten Tagessatzhöhe (§ 40 Abs. 2 S. 1 StGB) als Akt der Strafzumessung grundsätzlich der Entscheidung des Tatrichters, die das Revisionsgericht bis zur Grenze des Vertretbaren hinzunehmen hat (BGHSt 27, 212, 215; BGHSt 27, 228, 230). Das angefochtene Urteil überschreitet indes diese Grenze, weil bei der Bemessung der Tagessatzhöhe "in der Regel" vom Nettoeinkommen auszugehen ist (§ 40 Abs. 2 S. 2 StGB) und etwaige Abweichungen vom Nettoeinkommensprinzip nachvollziehbar zu begründen sind (BGH, Urteil vom 10.01.1989, 1 StR 682/88 = NStZ 1989, 178 [Nettoeinkommen als "Richtlinie"]; OLG Hamm, Beschluss vom 21.11.2006, 3 Ss 356/06, juris, Rn. 4 = wistra 2007, 191[OLG Hamm 21.11.2006 - 3 Ss 356/06]; Häger in Leipziger Kommentar, StGB, 12. Aufl., § 40 Rn. 21, 53). Eine solche Begründung fehlt im angefochtenen Urteil, obgleich die festgesetzte Tagessatzhöhe von 12,- € nicht mit dem Nettoeinkommen korrespondiert:
Auf der Grundlage des Nettoeinkommens von 732,- € errechnet sich vielmehr eine Tagessatzhöhe von 24,- € (732,- € / 30), weil neben dem Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts (§ 20 SGB II in Verbindung mit der jeweiligen Bekanntmachung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales über die Höhe der Regelbedarfe) auch die Sachbezüge i.S.d. § 22 SGB II (Unterkunft und Heizung) zu berücksichtigen sind (OLG Braunschweig, Beschluss vom 19.05.2014, 1 Ss 18/14, juris, Rn. 7 = NdsRpfl 2014, 258 m.w.N.; Fischer, StGB, 62. Aufl., § 40 Rn. 11).
Dass Empfänger von Leistungen nach dem SGB II als nahe am Existenzminimum Lebende durch das Nettoeinkommensprinzip "systembedingt härter getroffen werden als Normalverdienende" ist zwar ebenfalls zutreffend und kann durchaus Anlass sein, ein Absenken der Tagessatzhöhe sorgsam zu prüfen (OLG Braunschweig, Beschluss vom 19.05.2014, 1 Ss 18/14, juris, Rn. 9 = NdsRpfl 2014, 258; OLG Hamm, Beschluss vom 02.02.2012, III-3 RVs 4/12, juris, Rn. 18; Fischer, StGB, 62. Aufl., § 40 Rn. 11 a). Der bloße Hinweis auf den Bezug von Leistungen nach dem SGB II, worin sich die Zumessungsentscheidung der Kammer hier erschöpft, ersetzt indes nicht die nach der Rechtsprechung (BGH, Urteil vom 10.01.1989, 1 StR 682/88 = NStZ 1989, 178; OLG Hamm, Beschluss vom 21.11.2006, 3 Ss 356/06, juris, Rn. 4 = wistra 2007, 191[OLG Hamm 21.11.2006 - 3 Ss 356/06]) bei einem Absenken der Tagessatzhöhe gebotene Darlegung der maßgeblichen Umstände. Denn ein Abweichen vom Nettoeinkommensprinzip kann nicht allein damit begründet werden, dass ein Angeklagter ein bestimmtes Nettoeinkommen - hier als Empfänger von Leistungen nach dem SGB II ein solches von 732, - € - erhält. Erforderlich ist vielmehr eine einzelfallorientierte Erörterung der Gesamtbelastung eines Angeklagten, die die konkrete Strafe mit den (vom Nettoeinkommen verschiedenen) übrigen wirtschaftlichen Verhältnissen eines Angeklagten (Vermögen, Verbindlichkeiten etc.) in Beziehung setzt (Häger in Leipziger Kommentar, StGB, 12. Aufl., § 40 Rn. 53 m.w.N.). Daran fehlt es.
Die bisherigen Feststellungen der Kammer zwingen nicht zu einer Herabsetzung der Tagessatzhöhe. Denn der Angeklagte hat nach den Urteilsfeststellungen keine Kinder und lebt nicht in einer Bedarfsgemeinschaft. Auch sind weder bestehende Verbindlichkeiten des Angeklagten noch außergewöhnliche Belastungen, die ihre Ursache beispielsweise in der Krebserkrankung haben könnten, festgestellt.
III.
Aufgrund der fehlerhaften Berechnung des einzelnen Tagessatzes ist das Urteil im Ausspruch über die Höhe des Tagessatzes mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben und die Sache insoweit gemäß 354 Abs. 2 StPO an eine andere Kammer des Landgerichts zurückzuverweisen.
Die neue Kammer wird für die gebotene Festsetzung der Tagessatzhöhe die aktuellen wirtschaftlichen Verhältnisse (Nettoeinkommen, Verbindlichkeiten, außergewöhnliche Belastungen, Vermögen) aufzuklären und bei der Ermittlung des Nettoeinkommens auch zu berücksichtigen haben, dass der Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts 399,- € beträgt (§ 20 SGB II in Verbindung mit der Nr. 1 der Bekanntmachung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales über die Höhe der Regelbedarfe vom 15.10.2014).