Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 06.03.2012, Az.: Ws 7/12

Zulässigkeitszeitpunkt der Anordnung einer unbefristeten Führungsaufsicht

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
06.03.2012
Aktenzeichen
Ws 7/12
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2012, 39927
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGBS:2012:0306.WS7.12.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Göttingen - 23.11.2011

Amtlicher Leitsatz

1. Die Anordnung einer unbefristeten Führungsaufsicht ist in der Regel nur gegen Ende einer befristeten Führungsaufsicht zulässig.

2. Eine Entscheidung schon ein Jahr vor Ablauf der Frist ist in der Regel deswegen verfrüht, weil der Verlauf der Führungsaufsicht bis Fristende unberücksichtigt bliebe. Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn schon früher ohne jeden Zweifel Veränderungen ausgeschlossen werden können, die noch Einfluss auf die Prognose nehmen könnten.

Tenor:

Auf die Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen vom 23. November 2011 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten der Beschwerde - an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen zurückverwiesen.

Gründe

Die Beschwerde hat Erfolg.

I.

Der Verurteilte wurde durch Urteil der 3. großen Strafkammer - Jugendschutzkammer - des Landgerichts Hildesheim vom 24. August 1998, das seit dem selben Tag rechtskräftig ist, wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 9 Fällen jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Daneben wurde seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.

Durch Beschluss der großen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen vom 8. Oktober 2007, der seit dem 21. November 2007 rechtskräftig ist, wurde die Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sowie des Restes der Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten aus dem Urteil des Landgerichts Hildesheim vom 24. August 1998 zur Bewährung ausgesetzt.

Die Dauer der Führungs- und Bewährungsaufsicht wurde auf 5 Jahre festgesetzt. Des Weiteren wurde der Verurteilte der Aufsicht und Leitung des für seinen Wohnsitz zuständigen Bewährungshelfers unterstellt.

Unter Ziffer 5. des Beschlusses wurde der Verurteilte angewiesen, die einzeltherapeutischen Gespräche mit dem Diplom-Psychologen K. im Rahmen der Forensischen Ambulanz für Sexualstraftäter des Maßregelvollzugszentrums (MRVZN) Moringen (ehemals Niedersächsisches Landeskrankenhaus Moringen) fortzusetzen und dieses Beratungs- und Therapieangebot so lange wahrzunehmen, wie dies aus therapeutischer Sicht erforderlich erscheint.

Des Weiteren wurde er angewiesen, sich für die Dauer der Bewährungs- und Führungsaufsichtszeit des Konsums von Alkohol und illegaler Drogen zu enthalten und seine Alkohol- und Drogenfreiheit durch regelmäßig im Rahmen der Forensischen Ambulanz für Sexualstraftäter des MRVZN Moringen durchgeführte Suchtmittelkontrollen nachzuweisen.

Der Verurteilte wurde sodann am 21. November 2007 entlassen. Im weiteren Verlauf der Bewährungs- und Führungsaufsichtszeit wurden die Suchtmittelkontrollen ausgesetzt und auch die regelmäßige Fortführung der einzeltherapeutischen Gespräche mit dem Diplom-Psychologen K. wurde nicht mehr für erforderlich gehalten.

Bis September 2011 verlief die Bewährungs- und Führungsaufsichtszeit unproblematisch. Dann allerdings wurde bekannt, dass der Verurteilte im Laufe des Jahres 2011 unbemerkt Alkohol konsumiert hatte. Auf Vorhalt in der mündlichen Anhörung durch die Strafvollstreckungskammer am 4. November 2011, dass die Tochter seiner Lebensgefährtin angegeben habe, dass er seit einem halben Jahr regelmäßig Alkohol trinke, hat der Verurteilte erklärt, dass er ab und zu was getrunken habe.

Darüber hinaus wurde bekannt, dass ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet wurde. Mittlerweile hat die Staatsanwaltschaft Göttingen Anklage gegen den Verurteilten erhoben. Mit der Anklage vom 13. Dezember 2011 (46 Js 35362/11) wird ihm zur Last gelegt, während einer verbalen Auseinandersetzung mit seiner Lebensgefährtin H. K. dieser eine halbgefüllte 1,5 Liter PET-Flasche Cola gegen ihre Stirn geworfen zu haben, wodurch sie Schmerzen erlitten und eine rote Stelle über dem linkem Auge gehabt habe. Des Weiteren wird ihm mit der Anklage zur Last gelegt, der Tochter seiner Lebensgefährtin den linken Arm auf deren Rücken gedreht und ihr in die Brust gekniffen zu haben, sodass sie einen blauen Fleck an der Innenseite ihres linken Unterarms und einen Kratzer erlitten habe. Darüber hinaus werden ihm ein Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und eine versuchte Körperverletzung sowie eine Beleidigung zum Nachteil der eingesetzten Polizeibeamten zur Last gelegt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Anklage der Staatsanwaltschaft Göttingen vom 13. Dezember 2011 (Blatt 216 bis 219 d. BewH) Bezug genommen.

Die Strafvollstreckungskammer hörte den Verurteilten im Hinblick auf den Verstoß gegen die Weisung, sich des Konsums von Alkohol zu enthalten und die bekannt gewordenen Vorfälle vom 11. September 2011 sowie zu der beabsichtigten unbefristeten Verlängerung der Führungsaufsicht mündlich an. Ausweislich der Anhörung werden nunmehr wieder regelmäßig Alkoholkontrollen durchgeführt. Darüber hinaus führt der Verurteilte wieder alle vierzehn Tage Gespräche mit dem Diplom-Psychologen K..

Mit dem angefochtenen Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen vom 23. November 2011 wurde die Führungsaufsicht aufgrund des Urteils des Landgerichts Hildesheim vom 24. August 1998 i. V. m. dem Beschluss der 51. großen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen vom 8. Oktober 2007 über die Höchstdauer hinaus nach § 68c Abs. 3 Nr. 1, 2 a) StGB unbefristet verlängert. Des Weiteren wurde angeordnet, dass die für die Dauer der Führungsaufsicht angeordnete Unterstellung unter die Aufsicht und Leitung des örtlich zuständigen Bewährungshelfers und die erteilten Weisungen aus dem Beschluss des Landgerichts Göttingen vom 8. Oktober 2007 fort gelten.

Gegen diese dem Verurteilten am 26. November 2011 und dem Verteidiger am 28. November 2011 zugestellte Entscheidung legte der Verurteilte durch Schriftsatz seines Verteidigers vom 5. Dezember 2011, der am selben Tag beim Landgericht Göttingen einging, "sofortige Beschwerde" ein, die sich gegen die unbefristete Verlängerung der Führungsaufsicht richtet.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Beschwerde des Verurteilten als unbegründet zu verwerfen.

II.

Das als einfache Beschwerde auszulegende Rechtsmittel des Verurteilten ist zulässig und begründet.

Gegen die unbefristete Verlängerung der Führungsaufsicht ist gemäß §§ 463 Abs. 2, 453 Abs. 2 S. 1 StPO die einfache Beschwerde statthaft. Diese ist formgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig.

Die Beschwerde kann gemäß § 453 Abs. 2 i. V. m. § 463 Abs. 2 StPO nur darauf gestützt werden, dass die getroffene Anordnung gesetzeswidrig oder die Dauer der Führungsaufsicht nachträglich verlängert worden ist.

Vorliegend ist die Beschwerde begründet, weil die unbefristete Verlängerung der Führungsaufsicht zu frühzeitig angeordnet wurde und vor allem nicht auf ausreichende Tatsachengrundlage erfolgte.

§ 68c Abs. 3 StGB ermöglicht die unbefristete Verlängerung der Führungsaufsicht über die Höchstdauer des § 68c Abs. 1 S. 1 StGB hinaus. Zweck der Regelung ist es, auf kritische Entwicklungen, die sich erst während einer laufenden Führungsaufsicht zeigen, noch reagieren zu können. Wie bereits der Wortlaut ("Verlängerung") und insbesondere auch der Regelungszweck nahe legt, ist eine solche Entscheidung nur nachträglich nach § 68d StGB und in der Regel nur gegen Ende einer befristeten Führungsaufsicht zulässig, da § 68c Abs. 3 StGB eine Legalprognose voraussetzt, die auf das Verhalten der verurteilten Person während der Führungsaufsicht abstellt und die erzielten Resozialisierungserfolge berücksichtigt (Stree/Kinzig in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Auflage 2010, § 68c, Rn. 3 b).

Vorliegend ist die Verlängerungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer bereits nach knapp vier Jahren, also ein Jahr vor dem Ablauf der Führungsaufsichtszeit ergangen, so dass vor dem Ablauf der Führungsaufsichtszeit der weitere Verlauf des Jahres 2012 keine Berücksichtigung mehr finden kann.

Die Strafvollstreckungskammer hat allerdings nachvollziehbar darauf hingewiesen, dass der verbleibende Zeitraum für die Beurteilung der Frage, ob der Verurteilte zukünftig bereit und in der Lage sein wird, alkoholabstinent zu leben, zu kurz bemessen sein dürfte. So hat bereits der Sachverständige R. in seinem fachpsychiatrischen Gutachten vom 19. Juli 2007 ausgeführt, dass die mangelnde Kooperationsbereitschaft und Einsicht des Verurteilten hinsichtlich Alkoholkonsums, die sich offenbar auch nach zweimaliger disziplinarischer Rückverlegung aus dem Probewohnen in das MRVZN Moringen nicht grundlegend gewandelt habe, einen prognostisch negativen Faktor darstelle. Berücksichtigt man den Verlauf der Bewährungs- und Führungsaufsichtszeit, legt das Verhalten des Verurteilten nahe, dass er weiterhin den Alkoholkonsum und dessen Folgen bagatellisieren und nicht ausreichend ernst nehmen wird. Insoweit teilt der Senat die Auffassung der Strafvollstreckungskammer, dass sehr wahrscheinlich bis zum Ende der Führungsaufsichtszeit keine Einstellungsänderung dahingehend bei dem Verurteilten eingetreten sein wird, dass er auch ohne den Druck, dass regelmäßig Kontrollen durchgeführt werden und Alkoholkonsum zu entsprechenden Konsequenzen führen kann, alkoholabstinent leben wird.

Dennoch kann zumindest nicht ausgeschlossen werden, dass im Verlauf des letzten Jahres der ursprünglich festgesetzten Führungsaufsichtszeit gravierende Veränderungen eintreten, die Einfluss auf die Prognose nehmen können. Es erscheint daher sachgerecht, die Entscheidung über eine Verlängerung erst kurz vor Ablauf der Führungsaufsichtszeit zu treffen.

Aber selbst dann, wenn man aufgrund der im vorliegenden Fall zweifelsohne vorliegenden besonderen Umstände ausnahmsweise die Anordnung unbefristeter Führungsaufsicht bereits ein Jahr vor Ablauf der ursprünglich festgesetzten Führungsaufsichtszeit für angemessen hielte, bestünde derzeit noch keine ausreichende Tatsachengrundlage für eine entsprechende Entscheidung.

Gemeinsame Voraussetzung für eine unbefristete Verlängerung der Führungsaufsichtszeit ist nach § 68c Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 2 StGB jeweils, dass eine Gefährdung der Allgemeinheit durch die Begehung weiterer erheblicher rechtswidriger Taten zu befürchten ist. Da die unbefristete Führungsaufsicht für den Betroffenen eine besondere Belastung bedeutet, stellt das Gesetz aus Gründen der Verhältnismäßigkeit an die ungünstige kriminelle Prognose strengere Anforderungen als bei § 68 StGB. Die "Befürchtung" weiterer Straftaten verlangt eine konkrete Gefahr solcher Taten. Sie erfordert eine Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten (Schneider in: Leipziger Kommentar, StGB, 12. Auflage 2008, § 68c, Rn. 14).

Der Unterbringung lagen vorliegend Sexualdelikte, und zwar sexueller Missbrauch von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen zugrunde. Bei diesen Taten handelt es sich zweifellos um erhebliche rechtswidrige Taten im Sinne des § 68c Abs. 3 StGB.

Vorliegend hat sich die Strafvollstreckungskammer hinsichtlich ihrer Prognose insbesondere auf das Gutachten des Sachverständigen R. vom 19. Juli 2007 berufen, der ausgeführt hat, dass Alkoholkonsum die Rückfallgefahr für entsprechende Taten erhöhe. Hierbei ist indes zu berücksichtigen, dass die (zuletzt begangenen) Anlasstaten bereits mehr als vierzehn Jahre zurückliegen und seither nicht bekannt wurde, dass der Verurteilte seitdem weitere einschlägige Taten beging. Darüber hinaus war insbesondere zu bedenken, dass das Gutachten des Sachverständigen R. bereits vor viereinhalb Jahren erstattet wurde und den Zustand des Verurteilten vor seiner bedingten Entlassung betrifft.

Da bisher kein weiteres Gutachten eingeholt wurde, das auch den Verlauf der Bewährungs- und Führungsaufsichtszeit berücksichtigt, kann trotz der nach wie vor bestehenden Alkoholproblematik des Verurteilten derzeit keine ausreichend sichere Prognose dahingehend gestellt werden, inwieweit (nach Ablauf der Führungsaufsichtszeit) die Gefahr bestehen wird, dass der Verurteilte ohne Fortdauer der Führungsaufsicht erneut einschlägige Sexualdelikte oder andere erhebliche Straftaten im Sinne des § 68c Abs. 3 StGB begehen würde. Hinsichtlich der Frage, ob die Gefahr besteht, dass der Verurteilte außer Sexualstraftaten auch andere erhebliche Straftaten begehen könnte, ist zu berücksichtigen, dass der Verurteilte vor Begehung der Anlasstaten nicht vorbestraft war, also andere erhebliche Straftaten nicht bekannt waren.

Soweit dem Verurteilten nunmehr zur Last gelegt wird, seine Lebensgefährtin und deren Tochter verletzt und auch einen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte begangen zu haben, reicht dies für sich allein noch nicht für die Stellung einer entsprechenden negativen Prognose aus. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass in der Anklage der Staatsanwaltschaft Göttingen vom 13. Dezember 2011 weder der Alkoholkonsum des Angeklagten noch die Möglichkeit des Vorliegens einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB Erwähnung findet.

Insoweit bedarf es aus Sicht des Senats weiterer Ermittlungen dahingehend, ob und gegebenenfalls welche konkreten Straftaten von dem Verurteilten drohen würden und wie hoch die Gefahr der Begehung entsprechender Straftaten wäre, wenn die Führungsaufsicht entfiele. Nur dann, wenn dies ausreichend sicher festgestellt ist, lässt sich beurteilen, ob die von dem Verurteilten zukünftig drohenden Taten erheblich im Sinne des § 68c Abs. 3 StGB sind und die unbefristete Verlängerung der Führungsaufsicht angemessen bzw. verhältnismäßig ist. Auch wenn für die Beurteilung dieser Frage die Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht zwingend vorgeschrieben ist, dürfte sie vorliegend nur mit Unterstützung eines entsprechenden Gutachtens zuverlässig beantwortet werden können.

Allein der Umstand, dass der Verurteilte alkoholrückfällig wurde und gegebenenfalls in diesem Zustand Körperverletzungshandlungen zum Nachteil seiner Lebensgefährtin und anderen Personen begangen hat, reicht für die unbefristete Verlängerung der Führungsaufsicht ein Jahr vor Ablauf der Führungsaufsichtszeit nicht aus, wenngleich, worauf der Senat ausdrücklich hinweist, diese Umstände Anlass zur Prüfung der Frage geben, ob die Führungsaufsicht unbefristet zu verlängern ist. Voraussetzung für eine entsprechende Anordnung ist indes die Darlegung, welche Straftaten zukünftig von dem Verurteilten zu erwarten sein werden und wie hoch diese Wahrscheinlichkeit ist.

III.

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens ist dem Landgericht vorzubehalten, da derzeit der endgültige Erfolg des Rechtsmittels nicht abzusehen ist.