Landgericht Lüneburg
Urt. v. 22.11.1995, Az.: 2 O 271/94
Voraussetzungen der Durchsetzung eines Schmerzensgeldanspruchs wegen Verlustes des Kehlkopfes und der Stimmbänder aufgrund eines ärztlichen Behandlungsfehlers; Ausgestaltung der ärztlichen Sorgfaltspflichten i.R.d. Behandlung eines an andauernder Heiserkeit leidenden langjährigen Rauchers; Ausgestaltung der Behandlungspflichten eines Allgemeinmediziners zur Erkennung eines Kehlkopfkarzinoms
Bibliographie
- Gericht
- LG Lüneburg
- Datum
- 22.11.1995
- Aktenzeichen
- 2 O 271/94
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1995, 32059
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LGLUENE:1995:1122.2O271.94.0A
Rechtsgrundlage
- § 847 BGB
In dem Rechtsstreit
...
hat die 2. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg
durch
den Vorsitzenden Richter am Landgericht ...
die Richterin am Landgericht ... und
den Richter am Landgericht ...
auf die mündliche Verhandlung vom 01. November 1995
für Recht erkannt:
Tenor:
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 45.000,00 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 06.10.1994 zu zahlen.
Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung von 55.000,00 DM vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Der Kläger verlangt Schmerzensgeld aufgrund eines ärztlichen Behandlungsfehlers.
Er ist am ... 1938 geboren. Seit seinem 22. Lebensjahr rauchte er regelmäßig bis zu 20 Zigaretten am Tag. Der Beklagte, ein Allgemeinmediziner, war sein Arzt.
Am 20.06.1990 suchte der Kläger den Beklagten wegen trockenen Hustens und Heiserkeit auf. Der Beklagte verordnete Inhalationen und Pastillen des Präparats Ipalat. Die letzte dieser Verordnungen nahm er am 03.08.1990 vor. Am 27.09.1990, als der Kläger ihn wegen einer anderen Erkrankung aufsuchte, notierte der Beklagte in die Krankenkarte, daß die Heiserkeit weg sei.
Am 05.08.1991 stellte der Beklagte erneut bei dem Kläger einen Luftwegsinfekt mit Heiserkeit fest. Er behandelte die Beschwerden des Beklagten über drei Wochen mit Inhalationen.
Am 12.12.1991 stellte sich der Kläger bei dem Beklagten wieder mit Halsschmerzen und Heiserkeit vor. Nachdem trotz der Inhalationsbehandlung die Heiserkeit zugenommen hatte, verwies der Beklagte den Kläger an einen HNO-Facharzt. Dieser stellte einige Tage später die Verdachtsdiagnose eines Kehlkopftumors. Am 06.02.1992 wurde der Kehlkopf des Klägers operativ entfernt, weil er in der Tat von einem Karzinom befallen war.
Der Kläger verlor dadurch seine natürliche Sprache. Er kann sich nur noch mit Hilfe eines elektrischen Resonanzverstärkers verständigen.
Er verlangt von dem Beklagten ein angemessenes Schmerzensgeld von mindestens 50.000,00 DM. Er behauptet: Der Beklagte habe die Überweisung an den Facharzt pflichtwidrig hinausgezögert. Hätte er sich regelgerecht verhalten, hätte der Kehlkopf nicht entfernt werden müssen.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Kammer hat gemäß dem Beschluß vom 21.12.1994 (Bl. 24 d.A.) durch die Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. ... Beweis erhoben. Der Inhalt des Gutachtens ergibt sich aus Bl. 42 ff. d.A. und Bl. 72 ff. d.A.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist weitgehend begründet. Der Beklagte muß gemäß § 847 BGB an den Kläger ein Schmerzensgeld von 45.000,00 DM zahlen.
Aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. ... steht fest, daß der Verlust des Kehlkopfes und der Stimmbänder des Klägers auf einem schuldhaften Behandlungsfehler des Beklagten beruht.
In dem Gutachten vom 28.04.1995 hat der Sachverständige überzeugend ausgeführt, daß der Beklagte bereits während der ersten Heiserkeitsbehandlung des Klägers im Sommer 1990 für eine Abklärung der Ursache der Beschwerden durch einen Facharzt hätte sorgen müssen. Zur Begründung hat der Sachverständige darauf hingewiesen, daß es zum medizinischen Standard gehört - auch auf dem Gebiet der Allgemeinmedizin -, eine über mehrere Wochen andauernde Heiserkeit durch einen erfahrenen Larynologen untersuchen zu lassen. Das gelte erst recht für Raucher, die der Gruppe der Risikopatienten zuzurechnen seien.
Die Behandlung der Heiserkeit des Klägers im Sommer 1990 erstreckte sich mindestens über einen Zeitraum von sechs bis sieben Wochen. Nach den Eintragungen in der Krankenkarte stellte sich der Kläger dem Beklagten erstmals am 20.06.1990 mit trockenem Husten und Heiserkeit vor. Es schloß sich bis zum 03.08.1990 eine Behandlung mit Inhalationen und der Verordnung von Pastillen des Präparats Ipalat an. Die Kammer geht davon aus, daß auch am 03.08.1990 die Heiserkeit noch nicht verschwunden war, weil der Beklagte an diesem Tag nochmals das eben genannte Präparat verschrieb. Unbestritten hat der Kläger in der Verhandlung vom 28.06.1995 zudem vorgetragen, daß er seit seinem 22. Lebensjahr ständig geraucht hatte, und zwar bis zu 20 Zigaretten am Tag. Er war also in bezug auf die hier in Rede stehenden Erkrankungen ein Risikopatient. Unter diesen Umständen hätte der Beklagte dem Kläger bereits zur damaligen Zeit dringend empfehlen müssen, sich zu einem Facharzt zu begeben.
Ganz besondere Veranlassung dazu bestand für den Beklagten im August 1991, als der Kläger unstreitig erneut über Heiserkeit klagte. Unbestritten schloß sich eine Behandlung durch Inhalationen über drei Wochen an. Die Dauer der Beschwerden sowie die Tatsache, daß schon ein Jahr zuvor der Kläger über längere Zeit an Heiserkeit gelitten hatte, hätte den Beklagten verstärkt dazu bewegen müssen, durch eine fachärztliche Untersuchung die Möglichkeit einer Krebserkrankung zu klären.
Die Pflichtverletzung war für den größten Teil des jetzigen Schadens ursächlich. Der Sachverständige hat ausgeführt, daß der Kläger im Frühherbst 1990, also nach der Beendigung der Behandlung der ersten Heiserkeit, möglicherweise an einer frühen Veränderung im Vorfeld eines Kehlkopfkarzinoms litt. Der Gutachter hat weiter festgestellt, daß die Stimmfunktion des Kehlkopfes regelmäßig weitgehend erhalten werden kann, wenn die Erkrankung in einem derart frühen Stadium erkannt und bekämpft wird. Es verbleibt dann lediglich eine mehr oder minder ausgeprägte Heiserkeit der Sprache.
Ob die Erkrankung in diesem Falle ebenfalls derart günstig verlaufen wäre, ist nicht sicher. Das geht aber zu Lasten des Beklagten. Regelmäßig kehrt sich die Beweislast über die Ursächlichkeit gegen den Arzt, wenn dieser grob gegen Behandlungsregeln verstoßen hat, die geeignet sind, den eingetretenen Schaden abzuwenden. So liegt es hier.
Die Pflichtverletzung des Beklagten ist als grob einzustufen. Wie bereits erwähnt, gehört nach den Ausführungen im Gutachten die Regel, daß bei einer über drei Wochen andauernden Heiserkeit eine fachärztliche Untersuchung angezeigt ist, zu dem Standard der Allgemeinmedizin. Aus der Dauer der Behandlung ist zu folgern, daß die Heiserkeit des Klägers im Sommer 1990 sich mindestens über sechs bis sieben Wochen hinzog. Außerdem war der Kläger als Raucher mit dem erhöhten Risiko einer Krebserkrankung im Halsbereich behaftet. Erst recht hätte der Beklagte die fachärztliche Überprüfung suchen müssen, nachdem sich der Kläger im Sommer 1991 erneut über Heiserkeit beklagt hatte. Daß möglicherweise der Schaden weitgehend abgewendet worden wäre, wenn der Beklagte eine larynologische Untersuchung der Ursache der Heiserkeit im Frühherbst 1990 veranlaßt hätte, ist bereits oben erörtert. Die diesbezüglichen Ausführungen im Gutachten ergeben, daß zumindest einige Wahrscheinlichkeit für diese Möglichkeit bestand. Das gilt nach den Feststellungen in dem Gutachten auch für den Fall, daß erst im Sommer 1991 die fachärztliche Untersuchung stattgefunden hätte.
Die Kammer hält ein Schmerzensgeld von 45.000,00 DM für angemessen. Dabei steht im Vordergrund, daß der Kläger durch die Entfernung des Kehlkopfes sein natürliches Sprachvermögen verlor. Er kann sich nur noch mit Hilfe eines elektrischen Resonanzverstärkers bemerkbar machen. Diese Behinderung bedeutet eine erhebliche Einschränkung der Entfaltung der Persönlichkeit und der Lebensfreude. Der Kläger wird mit dieser Einschränkung fortan leben müsen. Hinzu kommt die Furcht, daß angesichts des fortgeschrittenen Stadiums der Krebserkrankung die Operation nicht vollständig zum Erfolg geführt hat und eine ähnliche Erkrankung sich erneut einstellen könnte. Betragserhöhend muß weiter gewertet werden, daß ein grober Regelverstoß zugrundeliegt.
Auf der anderen Seite darf nicht außer Betracht bleiben, daß der Kläger sich zur Zeit des schädigenden Ereignisses bereits in der zweiten Hälfte seines Lebens befand. Zudem hätte er nach den Ausführungen des Sachverständigen eine gewisse Veränderung der Stimme auch dann hinnehmen müssen, wenn bereits nach der ersten Heiserkeitsphase im Herbst 1990 die Operation stattgefunden hätte.
Der Zinsausspruch folgt aus § 291 BGB.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§ 91, 92 Abs. 2 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 709 ZPO.