Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 09.12.2013, Az.: 1 Ss 66/13

Faires Verfahren; Pflichtverteidiger; Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; Revisionsbegründungspflicht

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
09.12.2013
Aktenzeichen
1 Ss 66/13
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 64315
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG - 03.07.2013 - AZ: 5 Ns 136/13

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1.Das Gericht verstößt gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens, wenn es über einen zeitgleich mit der Einlegung der Revision gestellten Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers für das Revisionsverfahrens erst nach Ablauf der Begründungsfrist entscheidet (OLG Braunschweig, Beschluss vom 20.11.2013, 1 Ws 366/13; juris).

2. Die Mitwirkung eines Verteidigers ist notwendig, wenn widersprechende Gutachten über psychische Störungen des Angeklagten vorliegen und die Auswertung der Gutachten sowie die Befragung des Sachverständigen Einsichtnahme in die Akten erfordert.

Tenor:

Der Angeklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 3. Juli 2013 gewährt.

Der Beschluss vom 30. September 2013, durch den die Revision der Angeklagten gegen das genannte Urteil als unzulässig verworfen wurde, ist gegenstandslos.

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 3. Juli 2013 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Strafkammer des Landgerichts Braunschweig zurückverwiesen.

Gründe

Die Revision der Angeklagten ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

I.

Die Angeklagte ist vom Amtsgericht Goslar am 11. April 2013 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 10,- € verurteilt worden. Ihre dagegen gerichtete Berufung hat das Landgericht Braunschweig am 7. August 2013 verworfen, ihr jedoch gestattet, die Geldstrafe ratenweise zu begleichen.

Gegen dieses Urteil hat die Angeklagte noch am selben Tag zu Protokoll der Geschäftsstelle Revision eingelegt und zugleich die Bewilligung von „Prozesskostenhilfe“ beantragt. Die zuständige Rechtspflegerin hat dabei nicht darauf hingewiesen, dass Angeklagten im Strafverfahren keine Prozesskostenhilfe bewilligt werden kann. Sie hat der Angeklagten vielmehr einen Vordruck für die Erklärung zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen übergeben, den die Angeklagte im August 2013 eingereicht hat. Außerdem hat sie die Erklärung der Angeklagten, sie werde die Revisionsbegründung nachreichen, protokolliert.

Der Angeklagten sind die schriftlichen Urteilsgründe am 28. August 2013 zugestellt worden. Eine Entscheidung über das „Prozesskostenhilfegesuch“ hat das Landgericht bis zum Ablauf der Revisionsbegründungsfrist nicht getroffen. Die Kammer hat vielmehr die Revision durch den angefochtenen Beschluss vom 30. September 2013 (zugestellt am 4. Oktober 2013) gemäß § 346 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen, weil keine Revisionsbegründung eingegangen sei. Zugleich hat sie das Prozesskostenhilfegesuch abgelehnt, weil Angeklagten im Strafverfahren keine Prozesskostenhilfe bewilligt werden könne.

Die Angeklagte hat mit einem am 9. Oktober 2013 beim Landgericht eingegangenen Schriftsatz einen „Antrag auf Überprüfung des Verwerfungsbeschlusses“ gestellt. Der Senat hat das Prozesskostenhilfegesuch als Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers gedeutet, den Antrag auf Überprüfung des Verwerfungsbeschlusses zugleich als Beschwerde gegen die Ablehnung des als Beiordnungsgesuch auszulegenden Prozesskostenhilfeantrags gewertet und der Angeklagten mit Beschluss vom 20. November 2013 Rechtsanwalt W. als Pflichtverteidiger beigeordnet. Zudem hat der Senat die Angeklagte darauf hingewiesen, dass die Kammer durch die verspätete Entscheidung über das Beiordnungsgesuch gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen habe und ihr deshalb Wiedereinsetzung gewährt werden könne, wenn sie innerhalb einer Frist von 1 Woche, die mit der förmlichen Zustellung dieses Beschlusses beginne, die Revision begründe (OLG Braunschweig, Beschluss vom 20.11.2013, 1 Ws 366/13; juris).

Die Angeklagte hat nunmehr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und zugleich die Revision nach Zustellung des Senatsbeschlusses vom 20. November 2013 (am 22. November) begründet. Sie rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Zur Begründung der - auf die Verletzung von § 338 Nr. 5 StPO gestützten - Verfahrensrüge führt sie aus, dass das Landgericht, obgleich ein Fall notwendiger Verteidigung vorgelegen habe, die Hauptverhandlung ohne Pflichtverteidiger durchgeführt habe. Wegen der weiteren Einzelheiten der Revisionsbegründung wird auf Bl. 228 ff. verwiesen.

Die Angeklagte beantragt, den Beschluss vom 30. September 2013 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung  an eine andere Strafkammer des Landgerichts Braunschweig zurückverwiesen

Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt wie erkannt.

II.

Das Rechtsmittel ist - nach Wiedereinsetzung - zulässig.

Die Angeklagte hat die Revision form -und fristgerecht beim Landgericht Braunschweig eingelegt (§ 341 Abs. 1 StPO). Dass sie diese nicht innerhalb der Monatsfrist des § 345 Abs. 1 S. 2 i. V. m. S. 1 StPO begründet hat, steht der Zulässigkeit des Rechtsmittels nicht entgegen. Denn der Angeklagten ist aus den Gründen des Beschlusses vom 20. November 2013 gemäß §§ 44, 45 StPO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Sie war i. S. d. § 44 S. 1 StPO ohne Verschulden an der Begründung der Revision gehindert, weil die Kammer ihren Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe vom 7. August 2013 als solchen auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers hätte ansehen (vgl. KG, Beschluss vom 14.01.1997, 1 AR 9/97, 5 Ws 19/97, juris, Rn. 2) und rechtzeitig vor Ablauf der Revisionsbegründungsfrist hierüber hätte entscheiden müssen. Durch die zeitgleiche Entscheidung über die Zulässigkeit der Revision und über den Beiordnungsantrag (am 30. September 2013) ist der Angeklagten die Möglichkeit genommen worden, die Revisionsbegründung mit Hilfe eines Pflichtverteidigers, dessen Beiordnung gemäß § 140 Abs. 2 StPO geboten war, zu fertigen. Die Angeklagte hat nunmehr innerhalb der Wochenfrist des § 45 Abs. 1 S. 1 StPO die Revision begründet und damit die gebotene Handlung nachgeholt (§ 45 Abs. 2 S. 2 StPO). Durch die Gewährung der Wiedereinsetzung wird der Verwerfungsbeschluss gegenstandslos; eine förmliche Aufhebung ist nicht geboten (Gericke in Karlsruher Kommentar, StPO, 7. Aufl., § 346 Rn. 29).

Die Revision hat auch in der Sache Erfolg. Die Angeklagte hat mit der zulässig erhobenen (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO) Verfahrensrüge einen Verstoß gegen § 338 Nr. 5 StPO durch die ständige Abwesenheit eines Verteidigers bei der Hauptverhandlung dargelegt. Ein Verstoß gegen § 338 Nr. 5 StPO liegt vor, wenn die Hauptverhandlung ohne einen gemäß § 140 Abs. 2 StPO notwendigen Verteidiger durchgeführt wird (OLG Hamm, Urteil vom 12.02.2008, 3 Ss 541/07, juris, Rn. 15).

Die Mitwirkung eines Verteidigers war hier im tatrichterlichen Verfahren gemäß § 140 Abs. 2 StPO wegen der Unfähigkeit der Angeklagten zur Selbstverteidigung geboten, weil die Angeklagte als Folge eines Verkehrsunfalls eine bleibende Schädigung des Gehirns erlitten hat, die mit wahnhaften Störungen, einer Enthemmung, Kritikminderung, einer gesteigerten Impulsivität sowie periodischen depressiven Verstimmungen einhergeht, weshalb sich die Kammer auf der Grundlage eines schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Dr. D. mit der Schuldfähigkeit der Angeklagten auseinandergesetzt hat. In solchen Fällen ist regelmäßig schon deshalb ein Pflichtverteidiger beizuordnen, weil nur ein Verteidiger das Recht auf umfassende Akteneinsicht hat (vgl. hierzu: OLG Hamm, Beschluss vom 12.12.1986, 4 Ss 1434/86, juris; BayObLG, Beschluss vom 21.07.1993, 4 StRR 109/93, juris; Lüderssen/Jahn in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 140 Rn. 76 m. w. N.).

Die Verteidigung war im konkreten Fall zudem wegen der Schwierigkeit der Sachlage notwendig i. S. d. § 140 Abs. 2 StPO. Von einer schwierigen Sachlage ist auszugehen, wenn die Auseinandersetzung mit mehreren Sachverständigengutachten erforderlich ist (vgl. Laufhütte/Willnow, StPO, 7. Aufl., § 140 Rn. 22). Ein solcher Fall lag hier vor, weil der Sachverständige Dr. D. die Schuldfähigkeit im vorliegenden Fall anders bewertet hat als im Sicherungsverfahren 9 KLs 49/11 und in der Hauptverhandlung geklärt werden musste, ob die Gutachten dennoch in sich schlüssig sind und sich nicht widersprechen.

III.

Die Entscheidung über die Kosten der Revision ist dem Landgericht vorbehalten, weil der endgültige Erfolg des Rechtsmittels derzeit nicht absehbar ist.