Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 06.03.2013, Az.: Ws 26/13

Psychiatrie; Psychiatrische Unterbringung; Intelligenzminderung; Regelüberprüfungsverfahren; Beiordnung Pflichtverteidiger

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
06.03.2013
Aktenzeichen
Ws 26/13
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 64527
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG - 02.01.2013 - AZ: 51 StVK 68/12

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Ein Pflichtverteidiger ist im Verfahren zur Überprüfung der Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 140 Abs. 2 StPO beizuordnen, wenn im konkreten Fall mit Hilfe eines Sachverständigen eine zweifelhafte medizinische Diagnose abzuklären ist, der maßgebliche Bedeutung für die Schwere der Persönlichkeitsstörung und damit für die gebotene Entscheidung zukommt.

Eine Beiordnung gemäß § 140 Abs. 2 StPO ist im Regelüberprüfungsverfahren zudem erforderlich, wenn ein Untergebrachter über eine Intelligenz im Grenzbereich zur Intelligenzminderung verfügt und von den behandelnden Ärzten "kognitive Verzerrungen und falsche Selbsteinschätzungen" festgestellt werden.

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Untergebrachten wird der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Braunschweig vom 2. Januar 2013 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen.

Gründe

I.

Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 10. September 2004 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 9 Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch, wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in einem weiteren Fall sowie wegen Verbreitung pornografischer Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Zugleich hat das Gericht die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die Maßregel wird seit 6. Oktober 2004 vollzogen (VH I Bl. 17).

Durch den angefochtenen Beschluss, auf dessen Gründe (VH II Bl. 113 ff.) verwiesen wird, hat die Strafvollstreckungskammer die Fortdauer der Unterbringung angeordnet. Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde des Untergebrachten. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt wie erkannt.

II.

Die gemäß §§ 463 Abs. 3, Abs. 6, 454 Abs. 3 S. 1, 462 Abs. 3 S. 1 StPO statthafte sofortige Beschwerde ist zulässig, insbesondere fristgerecht (§§ 306 Abs. 1, 311 Abs. 2 StPO) erhoben worden. Sie hat einen (vorläufigen) Erfolg.

Das Verfahren vor der Strafvollstreckungskammer leidet an einem wesentlichen Verfahrensmangel, weil an der Anhörung kein Verteidiger teilgenommen hat.

Zwar zwingt nicht jede Regelüberprüfung gemäß § 67 e StGB zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Dies folgt nach ständiger Rechtsprechung des Senats (Beschluss vom 10.11.2011 - Ws 19/11 u. a.) aus der Entscheidung des Gesetzgebers, nur in den Fällen des § 463 Abs. 3 S. 5 StPO und bei der Regelüberprüfung nach fünfjähriger Unterbringungsdauer (§ 463 Abs. 4 S. 1 StPO) die Bestellung eines Pflichtverteidigers vorzuschreiben (so auch: OLG Frankfurt, Beschluss vom 02.02.2010, 3 Ws 81/10, juris, Rn. 5). Ein Pflichtverteidiger ist aber jedenfalls dann gemäß § 140 Abs. 2 StPO beizuordnen, wenn im konkreten Fall mit Hilfe eines Sachverständigen die Diagnose abzuklären ist und der Untergebrachte allein nicht in der Lage ist, der erforderlichen Fachdiskussion zu folgen (BVerfG, Beschluss vom 06.07.2009, 2 BvR 703/09, juris, Rn. 4). Diese Voraussetzungen liegen hier vor:

Aktuell ist nicht hinreichend geklärt, welche Diagnose der Unterbringung zugrunde liegt. Denn die Ärzte der Maßregelvollzugseinrichtung gehen in ihrer vom Senat eingeholten Stellungnahme vom 22. Februar 2013 (VH II Bl. 129 ff.) im Gegensatz zum Gutachten des Sachverständigen Dr. S. vom 27. Januar 2010 (dort S. 40; VH II Bl. 41) nicht nur von einer hebephil gefärbten Pädophilie, sondern zudem von einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit Krankheitswert aus. Dieser unterschiedlichen Bewertung des Zustandes, die ihre Ursache in der von den Ärzten der Maßregelvollzugseinrichtung kritisierten (VH II Bl. 56 ff.) Methodik des Sachverständigen Dr. R. haben mag, ist die Strafvollstreckungskammer bisher nicht nachgegangen. Sie wird im Rahmen ihrer Pflicht zur Wahrheitserforschung (BVerfG, Beschluss vom 19.07.2011, 2 BvR 2413/10, juris, Rn. 14 ff.) die Diagnose jedoch schon deshalb aufzuklären haben, weil der Frage, welches Ausmaß die Persönlichkeitsstörung hat, aus Sicht der Ärzte der Maßregelvollzugseinrichtung (Vgl. VH II Bl. 132) Prognoserelevanz zukommt. Das gilt nach der genannten Stellungnahme vom 22. Februar 2013 im Übrigen auch für die bisher ebenfalls unaufgeklärten Unterschiede hinsichtlich der Bedeutung der Intelligenzminderung (der Sachverständige Dr. S. geht nicht von einer relevanten Minderbegabung aus) für die Legalprognose (vgl. VH II Bl. 131).

Wenn der Beschwerdeführer tatsächlich, wie sich das aus der aktuellen Stellungnahme des Psychiatriezentrums ergibt, nur über eine Intelligenz im Grenzbereich zur Intelligenzminderung verfügt (zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers allein aus diesem Grund: OLG Nürnberg, Beschluss vom 25.07.2007, 2 Ws 452/07, juris, Rn. 9) und von den behandelnden Ärzten zudem „kognitive Verzerrungen und falsche Selbsteinschätzungen“ (VH II Bl. 131) festgestellt wurden, bestehen erhebliche Zweifel an der Fähigkeit zur Selbstvertretung.

Dieser auf der fehlenden Mitwirkung eines Verteidigers an der mündlichen Anhörung beruhende Verfahrensmangel zwingt zur Aufhebung und Zurückverweisung, (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 25.01.2007, 3 Ws 93/07, juris, Rn.15, m. w. N.). Die Kammer wird die Anhörung unter Mitwirkung eines Verteidigers nachzuholen und dabei sowohl den aktuellen Zustand des Beschwerdeführers als auch seine konkrete Gefährlichkeit klären müssen. Wegen der aufgezeigten Schwierigkeiten sowohl im Diagnose - als auch im Prognosebereich erscheint im konkreten Fall eine Anhörung durch einen beauftragten Richter nicht ausreichend (vgl. hierzu: Appl in Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl., § 454 Rn. 16).

III.

Die Entscheidung über die Kosten der Beschwerde war dem Landgericht vorzubehalten, da derzeit der endgültige Erfolg des Rechtsbehelfs noch nicht abzusehen ist.