Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 20.03.2013, Az.: Ws 49/13

Organtransplantation; Transplantationsbehandlung; Transplantationsgesetz; TPG; Eurotransplant; Organmangel; MELD-Score; Zuteilungsverfahren Spenderorgane; Spenderorgane

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
20.03.2013
Aktenzeichen
Ws 49/13
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 64526
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG - 11.02.2013 - AZ: 9 Qs 20/13

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Vorsätzliche Falschangaben gegenüber der gem. § 12 Transplantationsgesetz zuständigen Vermittlungsstelle (hier: Stiftung Eurotransplant) können als versuchte Tötung zum Nachteil dadurch übergangener Patienten bewertet werden, wenn der Täter weiß, dass seine Angaben nicht weiter überprüft werden, sie die Zuteilungsreihenfolge so weit beeinflussen, dass es in einem engen zeitlichen Zusammenhang unmittelbar zur Zuteilung eines Spenderorgans kommt und die rettende Transplantationsbehandlung anderer Patienten dadurch lebensbedrohlich verzögert wird.

2. Medizinische oder juristische Bedenken gegenüber dem derzeitigen Verfahren und die Sorge um den eigenen Patienten rechtfertigen oder entschuldigen die Manipulation der Zuteilungsreihenfolge nicht.

3. Eine weitere Beschwerde der Staatsanwaltschaft in Haftsachen (§ 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO) ist unzulässig, wenn das Beschwerdeziel gerade nicht die Haftanordnung an sich betrifft, sondern der Haftbefehl lediglich auf zwei weitere Fälle erstreckt werden soll, die für den Fortbestand der Untersuchungshaft aber ohne Belang sind.

Tenor:

1. Die weitere Beschwerde des Beschuldigten wird auf seine Kosten als unbegründet verworfen.

2. Die weitere Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird auf Kosten der Landeskasse, die auch insoweit entstandene notwendige Auslagen des Beschuldigten zu tragen hat, als unzulässig verworfen.

Gründe

I.

1. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig wirft dem Beschuldigten vor, als verantwortlicher Arzt des Transplantationszentrums der Universitätsmedizin Göttingen seine auf eine Leberspende wartenden eigenen Patienten durch Manipulation der Zuteilungsreihenfolge bevorzugt zu haben. Dazu soll er seine Patienten der Stiftung EUROTRANSPLANT jeweils wahrheitswidrig als Dialysepatienten gemeldet haben. In einigen Fällen habe er Patienten auch schon dann auf die Warteliste setzen lassen, bevor die vorgeschriebene Alkoholkarenz von sechs Monaten eingehalten war.

2. Die Staatsanwaltschaft legt ihren Ermittlungen dabei die Überlegung zugrunde, dass diese Bevorzugung eigener Patienten aufgrund des bekannten Organmangels zwangsläufig die Behandlung anderer lebensbedrohlich erkrankter und auf eine Leberspende wartender Patienten womöglich bis zu deren Tod verzögert hat, bewertet die Manipulation des Zuteilungsverfahrens daher als versuchte Tötung (§§ 212, 22, 23 Abs. 1 StGB) und hat beim Amtsgericht Braunschweig am 11.01.2013 gegen den Beschuldigten einen entsprechenden Haftbefehl erwirkt (Taten Nrn. 1 bis 9, die die vom Beschuldigten operierten Patienten I, B, F, F, O, P, S, W und W betreffen). Darüber hinaus erstreckt sich der Haftbefehl auf zwei weitere Taten (Nrn. 10 und 11 - Patienten M und T), die die Staatsanwaltschaft als schwere Körperverletzung und - im zweiten Fall - Körperverletzung mit Todesfolge (§§ §§ 223 Abs. 1, 226 Abs. 1 Nr. 3, 227 Abs. 1 StGB) wertet und denen zwei vom Beschuldigten durchgeführte Lebertransplantationen zugrunde liegen, die aus Sicht der Staatsanwaltschaft einen Behandlungsfehler darstellen, weil sie ohne medizinische Indikation erfolgt sein sollen.

3. Auf den Haftbefehl des Amtsgerichts Braunschweig vom 11.01.2013 (7 Gs 45/13) nimmt der Senat wegen der weiteren Einzelheiten Bezug, insbesondere auch hinsichtlich des angenommenen Haftgrunds der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO).

4. Der Beschuldigte wurde aufgrund des Haftbefehls am 11.01.2013 ergriffen und befindet sich seitdem in Untersuchungshaft. Seiner gegen die Haftanordnung gerichteten Beschwerde vom 11.01.2013 hat das Amtsgericht nicht abgeholfen (Beschluss vom 24.01.2013), und die Strafkammer des Landgerichts Braunschweig hat sie mit Beschluss vom 11.02.2013 als unbegründet mit der Maßgabe verworfen, dass ein dringender Tatverdacht allein wegen eines versuchten Totschlags in neun Fällen besteht (Herausnahme der Taten Nrn. 10 und 11 aus dem Haftbefehl).

5. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Beschuldigte greifen diesen Beschluss der Strafkammer mit der weiteren Beschwerde an. Die Staatsanwaltschaft will mit ihrem Rechtsmittel eine Wiederherstellung des Haftbefehls auch wegen der Taten zu 10 und 11 erreichen und der Beschuldigte seine Freilassung (Aufhebung des Haftbefehls). Dazu bestreitet er zunächst die Verantwortlichkeit für etwaige Manipulationen, vertritt weiter die Ansicht, dass gegenüber EUROTRANSPLANT womöglich doch wahrheitswidrig angegebene Dialysen die Reihenfolge der Organzuteilung in den dem Haftbefehl zugrunde liegenden Fällen gar nicht oder nur unwesentlich beeinflusst hätten, hält die für Lebertransplantationen geltenden Vergaberegeln für Spenderorgane ohnehin für medizinisch falsch, rechtlich für verfassungswidrig und deshalb insgesamt für unverbindlich. Sein Handeln sei nicht pflichtwidrig gewesen und tauge als Anknüpfungspunkt für strafrechtliche Vorwürfe daher nicht. Ohne dazu nähere Einzelheiten zu behaupten, stellt er weiter in den Raum, dass auch an den anderen Transplantationszentren die Warteliste gleichermaßen manipuliert werde, unterstreicht, ausschließlich zum Wohle seiner Patienten gehandelt zu haben, und beruft sich insgesamt auf eine Notstandslage.

6. Schließlich widerspricht der Beschuldigte der dem Haftbefehl zugrunde liegenden Annahme, dass er sich ohne die Anordnung von Untersuchungshaft dem Verfahren entziehen würde. Dass aus seiner Sicht tatsächlich gar keine Fluchtgefahr bestehe, bzw. dass diese beseitigt werden könne, hat er durch das Angebot der Leistung einer Sicherheit von bis zu 200.000,--€ bekräftigt. Die weitere Beschwerde der Staatsanwaltschaft hält der Beschuldigte bereits für unzulässig.

7. Wegen der weiteren Einzelheiten des Beschwerdevorbringens nimmt der Senat auf die Begründungen der weiteren Beschwerden der Staatsanwaltschaft vom 21.02.2013 (HA Bd. VI, Bl. 278ff) und die Schriftsätze der Verteidigung vom 18.02.2013, 04.03.2013, 06.03.2013 und 11.03.2013 (HA Bd. VI, Bl. 2ff, 353ff, 358ff und 421ff) Bezug.

8. Die Generalstaatsanwaltschaft unterstützt das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft und hat im Übrigen beantragt, die weitere Beschwerde des Beschuldigten als unbegründet zu verwerfen. Auf die Schriftsätze der Generalstaatsanwaltschaft vom 28.02.2013 und 06.03.2013 (HA Bd. VI, Bl. 339ff und 393ff) wird wegen der weiteren Einzelheiten ebenfalls verwiesen.

II.

1.

9. Die weitere Beschwerde des Beschuldigten ist - weil es um den Bestand der Haftanordnung geht - gem. § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO statthaft und auch sonst zulässig.

10. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist hingegen nicht zulässig. Nach § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO ist als Ausnahme von dem Grundsatz, dass Beschwerdeentscheidungen nicht weiter angefochten werden können, ein weiteres Rechtsmittel ausnahmsweise dann zulässig, wenn die Beschwerdeentscheidung eine „Verhaftung“ betrifft. Wegen des Ausnahmecharakters ist die Vorschrift grundsätzlich eng auszulegen. Ob dies schon dazu führt, dass eine weitere Beschwerde der Staatsanwaltschaft zu Lasten des Beschuldigten generell unzulässig ist (vgl. Löwe-Rosenberg/Matt, StPO 25. Aufl., Rdnrn. 18, 20f, 29 und 31 zu § 310 StPO; OLG Braunschweig JR 1965, 473; vgl. zum Meinungsstand: SK-StPO/Frisch, Rdnr. 22 zu § 310), kann hier dahinstehen. Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ist vorliegend jedenfalls deshalb nicht zulässig, weil das Beschwerdeziel gerade nicht die Haftanordnung an sich betrifft, sondern der Haftbefehl, der in der Beschwerdeinstanz gegenüber der Beschwerde des Beschuldigten Bestand hatte, lediglich auf zwei weitere Fälle erstreckt werden soll, die für den Fortbestand der Untersuchungshaft aber ohne Belang sind. Dann aber scheidet eine weitere Beschwerde aus, weil es gerade nicht (mehr) um die „Verhaftung“, d.h. den Kern der Haftfrage geht. Dies hat der Bundesgerichtshof zu § 304 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 StPO ausdrücklich entschieden (vgl. BGHSt 34, 34BGHSt 37, 347; BGHSt 47, 249), was auf den vorliegenden Fall übertragen werden kann und muss, weil der Begriff der „Verhaftung“ in beiden Vorschriften in gleicher Weise Verwendung findet und mit ihm jeweils derselbe Zweck - Beschränkung des Beschwerderechts - verfolgt wird (vgl. dazu Meyer-Goßner, StPO 55. Aufl., Rdnr. 13 zu § 304; SK-StPO/Frisch, Rdnr. 61 zu § 304).

2.

11. Das damit allein zulässige Rechtsmittel des Beschuldigten ist jedoch unbegründet. Die Strafkammer hat auf der Grundlage des im angefochtenen Beschluss zutreffend wiedergegebenen vorläufigen Ermittlungsstandes richtig entschieden.

a)weitere Haftbeschwerde des Beschuldigten
(1)Tatverdacht

12. Mit seiner weiteren Beschwerde (Bd. VI, Bl. 82ff) bestreitet der Beschuldigte, das Zuteilungsverfahren durch Falschangaben zu Dialysen bzw. Nichtbeachtung der Alkoholkarenz beeinflusst zu haben. Nach Auffassung des Senats entspricht dies aber nicht dem Ergebnis der bisherigen Ermittlungen. Vielmehr besteht in den Fällen Nrn. 1. sowie 3. bis 9. des Haftbefehls der dringende Verdacht, dass im Transplantationszentrum Göttingen durch planmäßige Falschangaben zu angeblichen Dialysen oder durch sonstige Regelverstöße das EUROTRANSPLANT obliegende Zuteilungsverfahren für Spenderlebern systematisch manipuliert wurde, um die eigenen Patienten bei der Organvergabe zu bevorzugen. Außerdem ist es nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen dringend wahrscheinlich, dass der Beschuldigte hierfür die Verantwortung trägt.

13. Die Beweiswürdigung des Senats beruht dabei wesentlich darauf, dass, worauf der Beschuldigte in seiner Haftbeschwerde mehrfach vollkommen zu Recht hinweist, besonders in Deutschland die Zahl der lebensbedrohlich erkrankten und dringend auf ein Spenderorgan angewiesenen Patienten die Zahl der für eine Transplantation zur Verfügung stehenden Organe deutlich übersteigt. Gerade weil der Beschuldigte ein besonders befähigter, deshalb erfolgreicher und in eine leitende Position aufgestiegener Transplantationsmediziner ist, konnte er aufgrund seines großen Könnens besonders sicher sein, „seinen Patienten“ den Tod vorerst zu ersparen, wenn denn nur ein geeignetes Organ zur Verfügung steht. Weil aber Operationen aufgrund der Organknappheit fast nie sofort durchgeführt werden können, sondern die Patienten bis zur Zuteilung eines geeigneten Organs regelmäßig geraume Zeit warten müssen, sich währenddessen ihr Gesundheitszustand aber stetig verschlechtert und es deshalb nicht ungewöhnlich ist, dass viele auf der Warteliste stehende Patienten versterben, dürfte es gerade den Beschuldigten besonders belastet haben, den Tod solcher „Wartelistepatienten“ miterleben zu müssen. In dieser Situation fällt es einem Transplantationsmediziner dann einerseits sicher schwer, das Verfahren zur Zuteilung von Spenderorganen zu akzeptieren, und andererseits ist der Anreiz groß, die Zuteilung durch die unrichtige Behauptung einer Dialyse zu beschleunigen. Beides - Empathie und Gelegenheit - bietet dann aber auch den ersten verdachtsbegründenden Ausgangspunkt für die Annahme, dass der Beschuldigte tatsächlich aus Sorge um das Wohl seiner Patienten systematisch die Zuteilung von Spenderorganen bewusst manipuliert hat.

14. § 12 Abs. 1 des Transplantationsgesetzes bestimmt, dass die Vermittlungsstelle (also EUROTRANSPLANT) die Organe nach Erfolgsaussicht und Dringlichkeit an geeignete Patienten vermitteln muss. Dies sind aber keineswegs gleichgerichtete Kriterien, sondern sie befinden sich - worauf der Beschuldigte ebenfalls zutreffend hinweist - in einem Spannungsfeld, weil sich die Dringlichkeit am Gesundheitszustand orientiert („je kranker, desto eher“), die Aussichten einer Organübertragung aber höher sind, je besser es um die Gesundheit des Patienten noch steht.

15. Für Lebertransplantationen bemisst sich der für die Zuteilung der Spenderorgane maßgebliche Rangplatz der Patienten nach dem sog. „MELD-Score“ (MELD = Model for Endstage Liver Disease - etwa: Rangpunktemodell für Lebererkrankungen im Endstadium), in den drei Laborwerte (Kreatinin, Bilirubin und Blutgerinnungswert -INR) der Patienten eingehen, die nach medizinischem Erkenntnistand eine Aussage über den Schweregrad und das Stadium der Erkrankung und damit eine Einschätzung der verbliebenen Lebenserwartung zulassen. Der nach der maßgeblichen Berechnungsformel erreichbare höchste Punktwert ist „MELD-40“, der einem solchen Schweregrad der Lebererkrankung entspricht, dass mit 98%-Wahrscheinlichkeit ohne lebensrettende Transplantation innerhalb der nächsten drei Monate der Tod des Patienten erwarten werden muss.

16. In seiner Beschwerdebegründung vom 22.01.2013 (Seite 18) führt der Beschuldigte hierzu aus, dass Patienten mit „echtem“ MELD-Score 40 in der Regel eine deutlich höhere Sterblichkeit nach der Transplantation haben, als Patienten z.B. mit 30 MELD-Score Punkten, und sie deshalb nach Erreichen des Maximalwertes „mit großer Regelmäßigkeit das transplantierte Organ mit ins Grab nehmen“, woraus viele frustrierte Transplantationsmediziner ableiten würden, dass eine Organzuteilung bei einem MELD-Wert von schon 30 - 35 wegen der dann wesentlich besseren Überlebenswahrscheinlichkeit medizinisch sinnvoller wäre.

17. Bedenkt man diese auch beim Beschuldigten in allen seinen Schriftsätzen erkennbar werdende Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Zuteilungsverfahren, ist es bis zu dessen Manipulation nur noch ein kleiner Schritt:

18. Für die Beweiswürdigung ist es insoweit bedeutsam, dass für den Kreatininwert ein Höchstwert (4 mg/dl) festgelegt ist und dieser, auch wenn die Blutwerte tatsächlich niedriger liegen, in die Berechnung des MELD-Scores eingestellt wird, wenn der Patient sich einer Dialyse unterziehen muss. Dies hat den medizinischen Hintergrund, dass die Nierenersatztherapie (Dialyse o.ä.) zu einer Verringerung des Kreatinwertes führt, obwohl sich die Leberfunktion tatsächlich gar nicht verbessert hat.

19. Die an EUROTRANSPLANT gemeldeten Parameter müssen, andernfalls der MELD-Score auf den Wert 6 zurückgesetzt wird und der erreichte Rangplatz auf der Warteliste verloren ist, fortlaufend in durch den erreichten Stand des MELD-Scores bestimmten Intervallen - ab MELD-Score 25 = Rezertifizierung jeweils nach 7 Tagen - durch zu übersendende Laborbefunde aktualisiert werden. Dadurch wird der Verlauf der Erkrankung fortlaufend überwacht und gemeldete Werte können vor Zuteilung eines Transplantats auf Plausibilität überprüft und auf Fehlmessungen beruhende Werte zugleich eliminiert werden. Das Fälschen von Laborwerten würde daher mit großer Wahrscheinlichkeit auffallen, zumal dazu Laborkräfte in die Manipulationskette eingebunden werden müssten.

20. Für die Meldung einer Dialysebehandlung genügte es im Tatzeitraum (2009 - 2011) demgegenüber, auf der elektronischen Eingabemaske (Meldeformular) an EUROTRANSPLANT unter der Rubrik „RRT 2xWk“ (Renal Replacement therapy = Nierenersatzbehandlung <durch Dialyse o.ä> 2-mal die Woche) ein „Y“ (Yes = Ja) zu setzen, und schon wurde einer der maßgeblichen Parameter auf den Höchstwert gesetzt und der MELD-Score stieg. Ob es eine Nierenersatzbehandlung tatsächlich gegeben hatte, musste gegenüber EUROTRANSPLANT weder belegt werden noch wurde dies weiter überprüft, so dass sich hinzuerfundene Dialysen für Manipulationen geradezu angeboten haben. Die dem entgegenstehende Regel, dass auf der Meldemaske angegeben werden muss, welcher Arzt für die Indikation zur Nierenersatztherapie verantwortlich ist und welche Funktion er in der Klinik hat, wodurch sichergestellt werden soll, dass neben dem Transplantationsarzt ein weiterer, unabhängiger Arzt in die Beurteilung einbezogen und namentlich benannt wird, wurde erst ab Juli 2012 eingeführt (vgl. Auskunft der Rechtsanwältin A (für EUROTRANSPLANT) vom 24.02.2013, HA Bd. VI, Bl. 256, 259).

21. Die vom Beschuldigten bspw. betreffend den Patienten I ausdrücklich insoweit erhobene Behauptung, dass „der Patient seit dem 20.04.2011 Dauerdialyse erhielt“, ist schon auf der Grundlage des bisher erreichten Ermittlungsstands eindeutig widerlegt. Zwar hat der Beschuldigte zunächst am 21.11.2011 entsprechende Angaben auch gegenüber der Untersuchungskommission der BÄK gemacht, hat diese dann aber nach Vorhalt, dass der Patient während seines Aufenthalts in der Universitätsmedizin Göttingen bis zur Transplantation (13.05.2011 - 30.05.2011) nicht ein einzige Mal dialysiert wurde, sondern durchgängig „beste Nierenwerte“ aufgewiesen habe, am 21.12.2011 zurückgenommen und dabei zugleich eingeräumt, für die falschen Angaben gegenüber EUROTRANSPLANT (Meldung „RRT 2xWk = Y) verantwortlich gewesen zu sein. Die Vermerke der Vorsitzenden der Prüfungskommission der BÄK über die Befragung des Beschuldigten sind insoweit eindeutig (HA Bd. I, Bl. 58ff und 64). Dies wird bestätigt - und erklärt zugleich den Wechsel der Einlassung des Beschuldigten gegenüber der Untersuchungskommission - durch die Angaben des Zeugen Prof. Dr. Q, der berichtet hat (HA Bd. I Bl. 30f), dass er vom Beschuldigten am 22.11.2011 gefragt worden sei, ob sich Angaben zu einer Dialyse, die der Beschuldigte am Tag zuvor auch gegenüber der Untersuchungskommission bereits als stattgefunden wahrheitswidrig behauptet hatte, in die Aufzeichnungen der Intensivstation der Universitätsmedizin „nachträglich eingepflegt“ werden können. Der Beschuldigte hat also in Erfahrung bringen wollen, ob es möglich und der Zeuge dazu bereit ist, die im EDV-System der Universitätsmedizin Göttingen vorhandenen Behandlungsunterlagen betreffend den Patienten I nachträglich an seine unwahren Behauptungen anzupassen, also Patientendaten zu fälschen, was der Zeuge aber abgelehnt hat.

22. Daran anknüpfend und dazu passend ergeben sich aus dem Bericht der Prüfungskommission der BÄK vom 16.01.2012 (HA Bd. I, Bl. 51ff) tatsächliche Anhaltspunkte, und zwar nicht stimmende Daten auf Patientenaufklebern sowie Hinweise, dass angeblich an unterschiedlichen Tagen gefertigte Belege tatsächlich im Durchschreibeverfahren erstellt wurden, die darauf hindeuten, dass anschließend tatsächlich falsche Dialysebelege angefertigt und zur (Papier-) Akte des Patienten genommen wurden. Dies wiederum begründet wegen des an den Zeugen Prof. Dr. Q zuvor erfolglos gerichteten Ansinnens, die elektronische Akte zu fälschen, aus Sicht des Senats den dringenden Verdacht, dass gerade der Beschuldigte für diese Vertuschungsversuche verantwortlich ist.

23. Der Senat hat daher insgesamt keine Bedenken, auf dieses gegenwärtig erreichte Ermittlungsergebnis die dringend wahrscheinliche Annahme zu stützen, dass der    Beschuldigte am 23.05.2011    und am 27.05.2011 den  Patienten
I gegenüber EUROTRANSPLANT zur Beeinflussung des MELD-Scores wahrheitswidrig als Dialysepatienten gemeldet hat bzw. durch die Zeugin
S (HA Bd. IV, Bl. 78ff), die im Transplantationszentrum Göttingen für die Führung der Warteliste zuständig war, hat melden lassen und es dann zu einer vorgezogenen Zuteilung einer Leber kam.

24. Soweit der Beschuldigte nunmehr generell seine Verantwortlichkeit leugnet und mit der weiteren Beschwerde (dort Seite 24) vortragen lässt, dass er nicht ausschließen wolle, dass „es in Einzelfällen versehentlich zu Fehlinformationen in Bezug auf Dialysen und Alkoholabstinenz von Patienten und - unbewusst - auch zu falschen Mitteilungen gegenüber EUROTRANSPLANT gekommen sei“, ist dies mit den Angaben der Mitbeschuldigten Sund W nicht vereinbar und widerspricht auch sonst - nämlich gerade unter Einbeziehung der Begründung des Rechtsmittels - dem Stand der Ermittlungen. Der Senat schließt sich insoweit der in jeder Hinsicht überzeugenden Beweiswürdigung der Strafkammer an (Beschluss vom 11.02.2013, Seite 4 bis 6).

25. Hinzu kommt, dass sich - wie schon erwähnt - durch die Begründung des Rechtsmittels wie ein roter Pfaden die Auffassung des Beschuldigten zieht, dass das auf dem MELD-Score beruhende Zuteilungsverfahren ungerecht und medizinisch fragwürdig und daher gegenüber den eigenen, dem Tode geweihten Patienten nicht verantwortbar sei. So heißt es auf Seite 12 der Beschwerdeschrift vom 22.01.2013 (HA Bd. V, Bl. 354ff, 365), dass es „von überragender Bedeutung sei, dass die (Anm. des Senats: eigenen) Patienten ohne die sofortige Transplantation eine Lebenserwartung von nur wenigen Tagen bis zu maximal 1 - 2 Wochen gehabt haben“. Auf Seite 18 (wie vor Bl. 371) wird sodann näher dargelegt, dass eine Transplantationsbehandlung bei „Patienten mit einem echten MELD-Score 40“ medizinisch unsinnig sei und zwecks Verbesserung der Erfolgsaussichten eigentlich früher operiert werden müsse, worauf der Hinweis folgt, dass auch die anderen Patienten auf der Warteliste ihren Rangplatz durch „frisierte Eingaben“ (der anderen Transplantationszentren) erhalten haben könnten. In der Beschwerdebegründung vom 18.02.2013 (HA Bd. VI, Bl. 2ff - Seite 23) wird dies weiter ausgeführt und zudem vorgebracht, dass der „kategorische Ausschluss von Alkoholkranken das Rechtsempfinden verletze und den zur Untätigkeit verdammten Arzt in tiefe Gewissenkonflikte stürze“, und zwar bis hin zu einer „Notstandslage“ (wie vor - Seite 33).

26. Dies korrespondiert wiederum mit der Aussage der Mitbeschuldigten S (a. a. O., Bl. 82), dass sie und der Mitbeschuldigte W, mit dem sie das beraten habe, den Beschuldigten mehrfach auf den Manipulationsverdacht betreffend an EUROTRANSPLANT zu meldender Daten angesprochen habe, aber zur Antwort erhalten habe, „dass sie entspannt bleiben solle, weil man doch Menschen helfen wolle“, wobei der Beschuldigte noch hinzugefügt habe, dass dies „ärztliche Anordnungen seien, die sie zu befolgen habe“.

27. Insgesamt wird aus dem Vorstehenden überdeutlich, dass der Beschuldigte das Motiv hatte und dies sogar offen bekannte, sich im Interesse der eigenen Patienten über die Zuteilungsregeln von EUROTRANSPLANT bzw. der BÄK hinwegzusetzen. Der Senat teilt daher die dem Haftbefehl und den folgenden Haftentscheidungen zugrunde liegende Annahme, dass der Beschuldigte in den Fällen 1. sowie 3. bis 9. veranlasst hat, dass die jeweiligen Patienten als „Dialysepatienten“ an EUROTRANSPLANT gemeldet wurden, obwohl die dafür geltende Voraussetzung, dass im Zeitraum vor der Anmeldung zur Transplantation zweimal je Woche eine Dialyse (oder ein gleichwertiges „Blutwäscheverfahren“) bereits stattgefunden haben musste, nicht erfüllt war. Soweit der Beschuldigte dem widerspricht, verweist der Senat ausdrücklich auch auf die Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft vom 28.02.2013 (Bd. VI Bl. 339ff), in der im Einzelnen zutreffend ausgeführt wird, warum die Patienten nicht als Dialysepatienten hätten gemeldet werden dürfen.

28. Darüber hinaus besteht weiter der dringende Verdacht, dass in den Fällen 4., 8. und 9. bei der Meldung zur Warteliste planmäßig unbeachtet gelassen wurde, dass die Alkoholkarenzzeit noch nicht abgelaufen war und auch kein Konsil die Listung des Patienten trotz der nicht überwundenen Alkoholabhängigkeit empfohlen hatte (vgl. dazu Auskunft der BÄK (Rinder/Prof. Dr. Lippert) vom 18.02.2013 - HA Bd. VI, Bl. 227ff).

29. Soweit der Senat im Fall des Patienten B (Tat 2) keinen dringenden Tatverdacht sieht, beruht dies darauf, dass im Gegensatz zu den anderen Fällen sich immerhin Behandlungsbelege über zwei Dialysen in den Patientenakten (als Kopie Fallakte 1.5, Bl. 22) befinden. Die Dialysen haben zwar erst am 15.07.2010 (ab 22:00 Uhr) und 20.07.2010, also erst nach der Anmeldung des Patienten bei EUROTRANSPLANT (15.07.2010, 13:48 Uhr) stattgefunden, der als Beschuldigter vernommene Patient hat aber darüber hinaus noch ausgesagt, dass er es für möglich halte, dass er auch davor während seiner Behandlung auf der Intensivstation der Universitätsmedizin Göttingen dialysiert worden sei. Dazu hat der Patient anschaulich eine medizinische Apparatur und eine Verfahrensweise beschrieben (Fallakte 1.5., Bl. 32ff sowie Bl. 98ff), die den Einsatz eines kurze Zeit später ausrangierten Dialysesystems (siehe dazu den Bildbericht in Fallakte 1.5., Bl. 102ff) zwar als nicht wahrscheinlich, aber immerhin als möglich erscheinen lässt, so dass insoweit jedenfalls gegenwärtig kein dringender Tatverdacht besteht (siehe dazu auch den Ermittlungsstandbericht vom 20.12.2012, Fallakte 1.5, 115ff).

(2)Rechtliche Bewertung

30. Vorsätzliche Falschangaben gegenüber der gem. § 12 Transplantationsgesetz zuständigen Vermittlungsstelle (hier: Stiftung EUROTRANSPLANT) können als versuchte Tötung zum Nachteil dadurch übergangener Patienten bewertet werden, wenn der Täter weiß, dass seine Angaben nicht weiter überprüft werden, sie die Zuteilungsreihenfolge so weit beeinflussen, dass es in einem engen zeitlichen Zusammenhang unmittelbar zur Zuteilung eines Spenderorgans kommt und die rettende Transplantationsbehandlung anderer Patienten dadurch lebensbedrohlich verzögert wird.

31. Dass andere auf eine Leberspende angewiesene Kranke aufgrund der Manipulation der Zuteilungsreihenfolge tatsächlich verstorben sind, ist schon deshalb nicht feststellbar, weil entsprechende Daten und Auskünfte aus Gründen des Datenschutzes (bislang) nicht vorliegen. Der Senat teilt jedoch die rechtliche Auffassung der Strafkammer, dass der Beschuldigte auf der Grundlage des gegenwärtig erzielten Ermittlungsstandes dringend verdächtig ist, es immerhin für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen zu haben, dass auf der Warteliste durch seine Manipulationen überholte Kranke vor einer rettenden Transplantation versterben, er also mit Tötungsvorsatz gehandelt hat und damit wegen versuchten Totschlags (in jetzt noch acht Fällen) zur Verantwortung zu ziehen sein dürfte.

32. Der Versuch des Totschlags ist strafbar (§§ 212, 12 Abs. 1, 23 Abs. 1 StGB) und § 22 StGB bestimmt, dass eine Straftat versucht, wer nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestands unmittelbar ansetzt. Als (nur) gewollte Tat erfordert der Versuch das Vorliegen des vollen subjektiven Tatbestands, d.h. die Vorstellung des Täters muss darauf gerichtet sein, den jeweiligen Tatbestand zu verwirklichen (Schönke/Schröder, StGB 28. Aufl. Rdnr. 3 zu § 22).

33. Der Beschuldigte hat vorliegend mit Tötungsvorsatz gehandelt. Da für den Tatbestand des Totschlags bedingter Vorsatz genügt, reicht dieser auch für die Annahme der Versuchsstrafbarkeit aus (Fischer, StGB 60. Aufl., Rdnr. 8a zu § 22 und Rdnr. 6 zu § 212). Bedingt vorsätzliches Handeln setzt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dabei voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt (Wissenselement), ferner dass er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet (Willenselement) (BGH, Urteil vom 9. Mai 1990 - 3 StR 112/90, BGHR StGB § 15 Vorsatz, bedingter 7 m. w. N.).

34. Das Wissens- oder das Willenselement des Eventualvorsatzes kann gleichwohl im Einzelfall fehlen, so etwa, wenn dem Täter, obwohl er alle Umstände kennt, die sein Vorgehen zu einer das Leben gefährdenden Behandlung machen, das Risiko der Tötung aufgrund einer psychischen Beeinträchtigung zur Tatzeit nicht bewusst ist (Fehlen des Wissenselements) oder wenn er trotz erkannter objektiver Gefährlichkeit der Tat ernsthaft und nicht nur vage auf ein Ausbleiben des tödlichen Erfolges vertraut (Fehlen des Willenselements). Die Beurteilung, ob vorsätzliches Verhalten vorliegt, hat dabei auf der Grundlage einer Betrachtung aller objektiven und subjektiven Tatumstände zu erfolgen (vgl. BGH, Urteile vom 4. November 1988 - 1 StR 262/88, BGHSt 36, 1, 9 f., vom 20. Dezember 2011 - VI ZR 309/10, WM 2012, 260, 262, und vom 21. Dezember 2011 - 1 StR 400/11; vgl. zusammenfassend zuletzt BGH, Urteile vom 23. Februar 2012 - 4 StR 608/11 und vom 22 März 2012 – 4 StR 558/11 – jeweils mit zahlreichen weiteren RsprNw; Fischer, StGB 60. Aufl., Rdnr. 9ff zu § 15). Dabei kommt im vorliegenden Fall hinzu, dass zur bewussten Tötung eines Menschen eine erhöhte Hemmschwelle überwunden werden muss (wie vor Rdnr. 13f zu § 212; mit zahlreichen RsprNw.), die mehr als sonst die Annahme nahelegt, dass auch objektiv gefährliche Tathandlungen im Vertrauen auf ein Ausbleiben des Taterfolgs erfolgt sind. Und weil vorliegend zudem ein Arzt Täter gewesen sein soll, dem man schon grundsätzlich unterstellen kann, dass das Wohl der Patienten jeweils im Vordergrund steht, sind zur Feststellung eine vorsätzlichen Schädigung von Leib oder Gesundheit eines Menschen noch höhere Hürden zu überwinden, weil derartige Handlungen eines Arztes zum Nachteil von Patienten nach der Lebenserfahrung regelmäßig die Ausnahme darstellen (vgl. bspw. BGH, Urteil vom 26.06.2003, 1 StR 269/02; juris; BGHSt 56, 277).

35An die Annahme eines auch nur bedingten Vorsatzes sind somit im vorliegenden Fall ganz besonders hohe Maßstäbe anzulegen. Gleichwohl liegen diese Voraussetzungen vorsätzlichen Handelns vor.
36Eine Betrachtung aller Tatumstände führt zunächst dazu, dass auf der Grundlage des bisherigen Ermittlungsergebnisses mit dringender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass es der Beschuldigte für möglich gehalten hat, infolge seiner Manipulationen könnten andere Menschen sterben (Wissenselement). Dass eine Manipulation der Wartelistenrangfolge die rettende Operation aller zuvor auf einem besseren Listenplatz stehenden Patienten verzögert, liegt auf der Hand und muss nicht weiter erörtert werden.
37Dass diese Verzögerung dann die Gefahr begründet, dass die übergangenen Kranken womöglich sogar vor der in Aussicht genommenen rettenden Transplantation sterben, beruht auf dem die Organzuteilung bestimmenden MELD-Score-System, weil dieses gerade den Schweregrad der Erkrankung des Patienten und damit die Dringlichkeit einer Operation wiedergibt (vgl. Bader, Organmangel und Organverteilung, S. 260). Dies steht im Einklang mit den Richtlinien der BÄK, nach denen gerade Patienten, die ohne Transplantation unmittelbar vom Tod bedroht sind, bei der Organvermittlung vorrangig berücksichtigt werden (vgl. Richtlinien für die Wartelistenführung und Organvermittlung zur Lebertransplantation, S. 6). Ein MELD-Score von 30 prognostiziert dem Patienten ohne Transplantation dabei eine (statistische) Überlebenswahrscheinlichkeit (bezogen auf die nächsten drei Monate) von immerhin noch 51%, während sie nach Erreichen des Höchstwertes von 40 dann nur noch 2% beträgt. Jeder Tag, jede Stunde, sogar jede Minute sind also gerade für die schwerstkranken Patienten, die ohne neue Leber jederzeit sterben können, lebenswichtig, und jede Verzögerung, sei sie noch so gering, bringt sie dem Tod unmittelbar näher.
38Gerade der Beschuldigte wusste dies alles, wofür einen Beleg auch die Beschwerdebegründung vom 22.01.2003 (Bd. V. Bl. 354ff (365) liefert, wenn es dort heißt, dass es für den Beschuldigten „von überragender Bedeutung war, dass in den Fällen 1. bis 9. die (eigenen) Patienten ohne die sofortige Transplantation eine Lebenserwartung von nur wenigen Tagen bis zu maximal 1 - 2 Wochen gehabt hätten und ohne das neue Organ alle längst verstorben wären“. Diese Patienten hatten aber den für die Zuteilung maßgeblichen MELD-Score von 40 noch gar nicht erreicht, standen dem Tode also noch ferner als diejenigen – anonymen – Patienten, an denen sie durch die Manipulation des Rangplatzes vorbeizogen. Wenn der Beschuldigte gleichwohl schon seine eigenen Patienten unmittelbar vom Tode bedroht sah, dann erkannte er auch, dass die Gefahr, noch vor der rettenden Organübertragung zu versterben, bei den überholten Wartelistekandidaten aufgrund des bei ihnen höheren „echten“ MELD-Scores noch deutlich größer war und sich jederzeit gerade aufgrund der bewirkten Verzögerung realisieren konnte.
39Da auch eine nur ganz geringfügige Lebensverkürzung für die Annahme eines Totschlags ausreicht (Fischer, StGB 60. Aufl., Rdnr. 3a zu § 212), setzt die absichtliche Manipulation der EUROTRANSPLANT-Warteliste also eine - für die Annahme des Tatbestands - geeignete (Todes-) Ursache. Die vom Beschuldigten hierzu vorgenommenen Berechnungen und angestellten Überlegungen (siehe Begründung der weiteren Beschwerde vom 18.02.2013, Seite 78 = Bd. VI, Bl. 40/40R), mit denen belegt werden soll, dass die übergangenen Patienten nur Stunden oder maximal wenige Tage länger auf die rettende Transplantation warten mussten, sind daher ohne Belang.
40Ebenso kommt es für die Beurteilung der Vorsatzfrage aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen nicht darauf an, ob die unrichtige Meldung des Patienten Wenzel als Dialysepatienten den MELD-Score gar nicht mehr beeinflussen konnte, weil schon der wahre Kreatininwert über dem Höchstwert von 4 mg/dl gelegen habe (vgl. dazu die Begründung der weiteren Beschwerde Seite 52). Zum einen sind hypothetische Kausalverläufe unbeachtlich (Fischer, StGB 60. Aufl., Rdnr. 3a zu § 212) und zum anderen waren diese Werte bei EUROTRANSPLANT noch gar nicht überprüft worden, bevor dies aufgrund der falschen Dialysemeldung dann entbehrlich wurde. Hinzu kommt, dass auch ein untauglicher Versuch strafbar wäre (§ 23 Abs. 3 StGB).
41Kann somit auf der Grundlage des bisher erreichten Ermittlungsstandes die intellektuelle Seite des Vorsatzes mit dringender Wahrscheinlichkeit angenommen werden, gilt dies auch für dessen voluntative Seite. Es ist dringend wahrscheinlich, dass der Beschuldigte in jedem einzelnen Fall billigend in Kauf genommen hat, dass jeweils eine oder mehrere Personen, die aufgrund ihrer Erkrankung sonst bevorzugt ein Organ hätten bekommen sollen, ein Organ nicht mehr rechtzeitig erhalten und infolgedessen versterben.
42Gerade die große Sorge des Beschuldigten um seine eigenen Patienten einerseits, andererseits seine - allerdings durch objektive Umstände nicht belegbare - Annahme, dass auch die anderen Transplantationsmediziner die Warteliste ebenso manipulieren, und seine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Zuteilungsverfahren sowie die Anonymität der möglichen Tatopfer haben die einer Tötung grundsätzlich entgegenstehende Hemmschwelle so weitgehend herabgesetzt, dass sie der Annahme, der Beschuldigte habe als Arzt den Tod anderer Menschen billigend in Kauf genommen, nicht mehr entgegensteht. Die Argumentation des Beschuldigten zum „Tötungsvorsatz im Medizinstrafrecht“ oder zur „Hemmschwellenlehre“ (Begründung der weiteren Beschwerde Seiten 20ff und 68ff) geht dabei am vorliegenden Fall vorbei, weil es hier gerade nicht um eine Tötung eigener Patienten geht, sondern um fremde und zudem anonyme Menschen, die ebenfalls auf die nicht in genügender Zahl vorhandenen Spenderorgane zugreifen wollen und dadurch den eigenen Patienten, denen der Arzt mit aller Macht helfen will, womöglich die Chance auf ein Weiterleben nehmen. Die Sorge um das Wohl des eigenen Patienten, die - völlig zu Recht - im Medizinstrafrecht als gegen einen Tötungsvorsatz sprechend herausgestellt wird, kehrt im vorliegenden Fall somit aufgrund der Organknappheit geradezu als vorsatzbegründendes Element wieder. Denn hier begründet die Nähe zum eigenen Patienten, von dem man genau weiß, dass man ihm mit Erfolg helfen könnte, ein von Mitgefühl getragenes Engagement auf der einen Seite, während auf der anderen Seite nur ein Rangplatz auf der Warteliste steht, hinter dem sich ein anonymer nur durch eine Nummer individualisierbarer Mensch verbirgt, an dessen Schicksal man keinen Anteil nimmt.
43Im Übrigen setzt „Billigen“ im Rechtssinne keine positive Einstellung des Täters zu dem als mögliche Folge seines Handelns erkannten Erfolg voraus. Das Merkmal ist auch dann erfüllt, wenn dem Täter der Tod des Opfers an sich höchst unerwünscht ist, er aber gleichwohl handelt, um das von ihm angestrebte und höher bewertete Ziel – hier: das Leben der eigenen Patienten - zu erreichen (Fischer, StGB 60. Aufl. Rdnr. 9b zu § 15 mit zahlreichen w. Nachw.), er sich also um des erstrebten eigenen Zieles willen mit der eigentlich unerwünschten Folge abfindet (BGH, NStZ 2003, 604 [BGH 05.03.2003 - 2 StR 494/02]).
44Der Beschuldigte hatte zudem jederzeit die Möglichkeit, über das sog. ENIS-System den Listenplatz und den MELD-Score der eigenen Patienten sowie die Anzahl der ihnen vorgehenden fremden Patienten einzusehen (Aussage der Beschuldigten Schmidt, Bd. IV, BI. 78ff, 83), so dass er auch erkannt hatte, wie viele Rangplätze durch die Manipulation jeweils gutgemacht wurden. Damit gibt es insgesamt keine tragfähige Grundlage für die Annahme, dass der Beschuldigte darauf vertraut haben könnte, dass es auch die auf der Rangliste überholten Patienten schon noch bis zur Transplantation schaffen werden. Soweit der Beschuldigte dies jetzt anders darstellt und behauptet, dass ein Transplantationschirurg immer darauf vertraut, dass Patienten, die sich durch die Manipulation eines einzelnen „Konkurrenten“ auf der Warteliste nur um einen Punkt (gemeint ist wohl: Rangplatz) verschlechtern, nicht ohne Weiteres an akutem Organmangel versterben, sondern dass Patienten mit einem hohem MELD-Score nur deshalb der Tod ereilt, weil sie nicht mehr transplantabel sind und ihnen auch mit einem Spenderorgan nicht mehr geholfen werden könnte (siehe dazu Seite 82 der Begründung der weiteren Beschwerde), findet sich für diesen angeblichen Erfahrungssatz im eigenen Verhalten des Beschuldigten keinerlei Beleg. Würde man den Beschuldigten hier beim Wort nehmen, dann hätte er eigene Patienten mit einem „echten“ MELD-Score 40 nicht mehr transplantiert. Dass er in allen Fällen, in denen er zum Wohle seiner Patienten auch nach Erreichen dieses Wertes erfolgreich operiert hat, vorher die Organzuteilung manipuliert hat (und es deshalb gut gegangen ist), will der Beschuldigte sicherlich nicht ernsthaft behaupten. Vorgeworfen wird ihm dies bislang jedenfalls nicht.
45Hinzu kommt auch noch die Überlegung, dass das Erreichen des höchsten Listenplatzes nicht zwangsläufig bedeutet, auch das nächste Spenderorgan zu erhalten; vielmehr muss das Transplantat nach allen Gewebe- und sonstigen Merkmalen für den Empfänger tauglich sein, so dass eine durch Fremdmanipulation vereitelte Chance durchaus auch eine längere Wartezeit bedeuten kann. Im Übrigen wurde durch die Manipulationen nicht jeweils nur ein anderer Kranker auf der Warteliste überholt, sondern es wurden regelmäßig mehrere Rangplätze gutgemacht, also die rettende Transplantation mehrerer Menschen hinausgeschoben. Angesichts dieser Unwägbarkeiten, auf die der Beschuldigte keinerlei Einfluss mehr hatte, gibt es keine Anknüpfungspunkte, an denen man ein vorsatzausschließendes Vertrauen auf das Ausbleiben des Taterfolgs festmachen könnte. Das bloße Hoffen auf einen glücklichen Ausgang oder selbst ein vages Vertrauen darauf würden aber gerade noch nicht genügen, um die Wissensseite des Vorsatzes entfallen zu lassen. Vielmehr ist dazu ein „ernstes Vertrauen“ erforderlich, das in einem entsprechenden Erfahrungssatz („dass es doch immer gut geht oder gut gegangen ist“) eine Stütze findet. Angesichts dessen, dass im Jahr 2011 immerhin 444 auf der Warteliste geführte deutsche Patienten vor der rettenden Transplantation verstorben sind und 164 davon einen MELD-Score höher/gleich 30 hatten (siehe Jahresbericht EUROTRANSPLANT 2011), wäre noch nicht einmal die vage Hoffnung, dass „es schon gut gehen wird“, berechtigt gewesen.
46Im Übrigen verweist der Senat zur Vorsatzfrage auf die überzeugenden und zutreffenden rechtlichen Ausführungen im angefochtenen Beschluss (Seite 6 unten - Seite 12 oben).
47Der Beschuldigte hat zur Tatbestandsverwirklichung auch unmittelbar angesetzt, wovon man bei Handlungen des Täters spricht, die nach seiner Vorstellung der Verwirklichung eines Tatbestandsmerkmals unmittelbar vorgelagert sind und im Falle ungestörten Fortgangs ohne Zwischenakte in die Tatbestandshandlung unmittelbar einmünden sollen (Fischer, StGB 60. Aufl., Rdnr. 10f zu § 22; mit zahlr. Nachw. aus der Rspr.). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, weil jede falsch gemeldete Dialyse eine Organzuteilung an den eigenen Patienten bewirken sollte (und hat), damit unmittelbar die Todesgefahr für die anderen (fremdem) Patienten begründet wurde und insoweit der weitere Verlauf und Ausgang für den Beschuldigten nicht mehr steuerbar und auch nicht mehr rückgängig zu machen war.
48Das Verhalten des Beschuldigten war, wiederum beurteilt auf der Grundlage des vorläufig erreichten Ermittlungsergebnisses, auch rechtswidrig.
49Eine Rechtfertigung wegen Nothilfe gem. § 32 StGB scheidet aus, weil die anderen Patienten trotz der auf der Organknappheit beruhenden Konkurrenzsituation keine Angreifer der vom Beschuldigten behandelten Patienten sind. Dass Patienten mit einem MELD-Score von 40 in der Regel eine deutlich höhere Sterblichkeit nach der Transplantation haben als Patienten mit einem geringeren Zuteilungswert, rechtfertigt, auch wenn das Zuwarten die Chancen der eigenen Patienten auf ein Überleben der Erkrankung deutlich verschlechtert, schon deshalb keine Eingriffe in das Verteilungssystem, weil das Leben des Menschen nach dem Grundsatz des absoluten Lebensschutzes in jeder Phase ohne Rücksicht auf die verbliebene Lebenserwartung den ungeteilten Schutz der Rechtsordnung genießt (vgl. BGHSt 21, 59, 61; Leipziger Kommentar/Jähnke, StGB 11. Aufl., Rdnr. 5 Vor § 211).
50Die beim Beschuldigten offenbar vorhandene Vorstellung, einem Patienten mit besserer Lebenserwartung zu Lasten eines Menschen mit geringerer Lebenserwartung helfen zu dürfen, widerspricht auch sonst der Rechtsordnung, weil bei einer - wie hier gegebenen - Gleichwertigkeit von Rechtsgütern eine Notstandslage (§ 34 StGB) stets ausscheidet (BGHSt 48, 255, 257; Schönke-Schröder/Perron, StGB 28. Aufl., Rdnr. 23f zu § 34). Die Manipulationen wären deswegen und aus den von der Strafkammer hierzu bereits herausgestellten Gründen (angefochtener Beschluss Seite 12, 2. und 3. Abs. von unten) auch dann nicht gerechtfertigt, wenn die Befürchtung des Betroffenen zutreffend sein sollte, dass - wofür es nach den Erkenntnissen der BÄK aber keinen Beleg gibt (Schreiben der BÄK - Rinder/Prof. Dr. Lippert - vom 18.02.2013, HA Bd. VI, Bl. 227f) - auch an den anderen Transplantationszentren gleichermaßen manipuliert wird. Denn auch dann würden sich alle auf der Warteliste geführten Patienten noch immer in einer grundsätzlich gleichen Lage befinden. Zwar steht dem Arzt ein Auswahlermessen zu, wenn eine nur begrenzt verfügbare Ressource (hier: „Spenderlebern“) bei ärztlichen Behandlungen zur Prioritätensetzung zwingt (vgl. Leipziger Kommentar/Jähnke, StGB 11. Aufl., Rdnr. 19 Vor § 211; Schönke-Schröder/Eser, StGB 28. Aufl., Rdnr. 30 Vorbem. zu §§ 211ff), dieses auszuüben, also den geeigneten Empfänger auszuwählen, war aber gerade nicht Aufgabe des über die Krankheitsgeschichte der anderen Patienten gar nicht informierten Beschuldigten, sondern stand jeweils allein EUROTRANSPLANT zu.
51Dass auch von einem entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB) nicht ausgegangen werden kann, folgt schon daraus, dass der Beschuldigte mit seinen Manipulationen keinen Angehörigen oder ihm nahestehenden Personen helfen wollte.

52. Abschließend steht der Annahme dringenden Tatverdachts wegen eines Tötungsdeliktes auch nicht entgegen, dass die Zuteilungsregeln womöglich der Gesetzgeber hätte festlegen müssen (fehlende parlamentarische Legitimation - vgl. Beschwerdebegründung vom 22.01.2013, Seite 14ff) und das gegenwärtige auf dem MELD-Score beruhende Zuteilungsverfahren für Lebertransplantate möglicherweise fehleranfällig und manipulierbar ist.

53. Entgegen der Auffassung des Beschuldigten machen diese Bedenken die geltenden Verteilungsregeln schon deshalb nicht obsolet, weil alle mit Lebertransplantationen befassten Transplantationszentren sich genau diesem Verteilungsverfahren unterworfen haben. Weil etwaige Fehler daher alle wartenden Patienten gleichermaßen treffen, können sie deshalb schon grundsätzlich nicht die Rechtfertigung dafür sein, die Patienten anderer Transplantationszentren zu benachteiligen und dadurch in Todesgefahr zu bringen.

(3)Haftgrund

54. Es kann dahinstehen, ob - wie die Strafkammer entschieden hat - (auch) § 112 Abs. 3 StPO die angeordnete Untersuchungshaft rechtfertigen kann. Aus den durch die Verteidigung aufgezeigten Gründen ist dies durchaus zweifelhaft, insbesondere weil es für die ursprüngliche Annahme der Staatsanwaltschaft, der Beschuldigte habe sich für die Manipulation der Reihenfolge der Organzuteilung bezahlen lassen, keinen Beleg gibt. Vielmehr ist bislang davon auszugehen, dass die Taten durchgängig von einer altruistischen Motivlage des Beschuldigten beherrscht wurden und daher als „sonst minder schwere Fälle“ des Totschlagsversuchs (§§ 212, 213, 22, 23 StGB) einzuordnen sein dürften. § 112 Abs. 3 StPO wäre dann aber unanwendbar (OLG Köln, Beschluss vom 01.04.1996 - 2 Ws 122/906, Strafverteidiger 1996, 382; OLG Frankfurt, Beschluss vom 11.06.2001 -1 Ws 44/01, Strafverteidiger 2001, 687; Meyer-Goßner, StPO 55. Aufl., Rdnr. 36 zu § 112).

55. Jedoch hält der von der Strafkammer angenommene Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) einer rechtlichen Überprüfung in jeder Hinsicht stand. Auch nach Auffassung des Senats besteht die Gefahr, dass bei Würdigung aller Umstände des vorliegenden Falls die Gefahr besteht, dass der Beschuldigte sich im Falle seiner Freilassung aus der Untersuchungshaft dem Verfahren alsbald entziehen würde.

56. Fluchtgefahr besteht, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen und einer objektiven Betrachtung mehr für die Annahme spricht, dass sich der Beschuldigte dem Strafverfahren entziehen und weniger dafür, dass er sich ihm stellen würde (Meyer-Goßner, wie vor, Rdnr. 17 zu § 112; Karlsruher-Kommentar/Graf, StPO 6. Auflage, Rdnr. 16 zu § 112). In die gebotene Gesamtabwägung sind alle entscheidungserheblichen Umstände des Einzelfalls, vor allem aber die persönlichen Verhältnisse des Täters einzubeziehen (KK/Graf, a.a.O.). Die Erwartung, dass es zu einer deutlichen Bestrafung kommen wird, kann die Fluchtgefahr zwar allein nicht begründen (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 20.10.2009 – 2 Ws 385/09, Rn. 9; juris; KK/Graf, a.a.O., Rdnr. 19 zu § 112 ), jedoch ist die Straferwartung der Ausgangspunkt für die Erwägung, ob ein aus den zu erwartenden Rechtsfolgen folgender Fluchtanreiz unter Berücksichtigung alles Umstände zu der Annahme führt, der Beschuldigte werde dem Fluchtanreiz wahrscheinlich nachgeben und flüchtig werden (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., Rdnr. 24).

57. Bei Anlegung dieser Maßstäbe ist nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen wird:

58. Ein nicht unwesentlicher Fluchtanreiz ist vorhanden, da der Beschuldigte auch bei Annahme des § 213 StGB mit einer empfindlichen Gesamtfreiheitsstrafe zu rechnen hat, die deutlich über der für eine Strafaussetzung geltenden Schwelle liegen dürfte. Es besteht immerhin der dringende Tatverdacht des versuchten Totschlags in acht minderschweren Fällen und es ist jeweils mit Einzelstrafen zu rechnen, die auch unter Berücksichtigung der zusätzlich möglichen Milderung (§§ 23 Abs. 2, 49 Abs. 1 StGB) deutlich über dem gesetzlichen Mindestmaß liegen dürften.

59. Unter Berücksichtigung des dadurch begründeten deutlichen Fluchtanreizes hat der Senat die auf eine Flucht des Beschuldigten hindeutenden Umstände gegen diejenigen Umstände abgewogen, die einer Flucht entgegenstehen. Im Rahmen der vorgenommenen Gesamtwürdigung hat der Senat insbesondere die Persönlichkeit, das Vorleben und die persönlichen Verhältnisse des Beschuldigten, die dem Beschuldigten drohenden nachteiligen finanziellen und sozialen Folgen der vorgeworfenen Taten, die Zukunftsplanung des Beschuldigten sowie sein Verhalten im bisherigen Ermittlungsverfahren berücksichtigt.

60. Die Persönlichkeit und das Vorleben des Beschuldigten begünstigen eine Flucht in den Nahen Osten, wo er aufgrund seiner Herkunft ohne große Probleme dauerhaft leben könnte und was er tatsächlich vor seiner Festnahme beabsichtigt hat. Er ist israelischer Staatsangehöriger arabischer Herkunft, in Israel geboren und dort auch aufgewachsen. Zudem verfügt er über die erforderlichen arabische Sprachkenntnisse. Seine - persönlichen und fachlichen - Beziehungen zum Nahen Osten und seine hohe berufliche Kompetenz eröffnen ihm dort unschwer eine neue Arbeitsperspektive, die er gerade auch gegenwärtig sucht.

61. Nachdem im Januar 2012 seine Anstellung als leitender Oberarzt der Universitätsmedizin Göttingen aufgelöst worden war, hatte er bereits mehrfach Lebertransplantationen in Jordanien durchgeführt. Dass er hierzu in der Zeit von Juli bis Dezember 2012, und damit nach Bekanntwerden der Vorwürfe, insgesamt siebenmal im Ausland war und trotzdem jeweils nach Deutschland zurück gekehrt ist, obwohl bereits seit Juli 2012 in der inländischen Presse über den Verdacht des versuchten Totschlags berichtet wurde, zeigt jedenfalls nicht, dass er seinen Lebensmittelpunkt dauerhaft in Deutschland beibehalten will und steht auch sonst der Annahme von Fluchtgefahr nicht entgegen, weil der Beschuldigte zum Zeitpunkt der früheren Ausreisen die rechtlichen Konsequenzen seiner Handlungen noch nicht realisiert hatte.

62. Die dem Beschuldigten im Falle einer Verurteilung drohenden finanziellen und sozialen Folgen erhöhen den bereits vorhandenen Fluchtanreiz, weil im Falle einer Verurteilung eine wirtschaftliche Betätigung des Beschuldigten als Arzt im Inland ausgeschlossen wäre. Der Beschuldigte ist sich seiner im Inland nicht mehr vorhandenen beruflichen oder sonstigen Perspektiven auch bewusst. Ein der Arbeitssuche dienender Aufenthalt im Ausland sei deshalb nach seiner Auffassung nur legitim (Schriftsatz vom 18.02.2013, Seite 44), wozu er als Erklärung dafür, zukünftig im Ausland leben zu wollen, die Auffassung vertritt, dass man ihn sämtlicher beruflicher Perspektiven im Inland beraubt habe (Schriftsatz vom 22.01.2013, Seite 6). Hierzu stellt er die negativen Auswirkungen schon des Ermittlungsverfahrens auf seine Familie besonders heraus. Seine Ehefrau und seine Kinder seien aufs Schwerste in Mitleidenschaft gezogen und jeder Gang der Kinder zur Schule gleiche einem Spießrutenlauf (Schriftsatz vom 22.01.2013, Seite 7) bis hin zu einer „öffentlichen Hinrichtung“ (Schriftsatz vom 22.01.2013, Seite 49).

63. Angesichts dessen durchaus verständlich, deutet die konkrete Zukunftsplanung des Beschuldigten deutlich darauf hin, dass er mitsamt seiner Familie alsbald die Bundesrepublik Deutschland verlassen würde. Dass er mit seiner Familie möglichst bald dauerhaft nach Jordanien auswandern will, verhehlt er zum einen auch gar nicht, und zum anderen wird dies auch aus der durchgeführten Telekommunikationsüberwachung überdeutlich erkennbar.

64. Aus den Telefongesprächen des Beschuldigten geht unter anderem hervor, dass er in Jordanien ein Haus kaufen will (Bl. 47, SH 15), da er in Jordanien eine Arbeitsstelle hat (Bl. 122 f., SH 15). In einem Telefongespräch berichtet der Beschuldigte dem anderen Gesprächsteilnehmer, dass er beabsichtigt, seinen PKW zu verkaufen, da die Ummeldung zu umständlich sei (Bl. 9, SH 15). Am deutlichsten äußerte sich der Beschuldigte in einem Telefonat am 10.01.2013 zu der bestehenden Absicht. Auf die Frage des anderen Gesprächsteilnehmers, ob er schon nach Jordanien umgezogen sei, antwortete der Beschuldigte: „Ehrlich gesagt, noch nicht, ... im siebten Monat, so Gott will, werden wir endgültig dort sein“ (Bl. 30, SH 15). Die vom Beschuldigten geäußerte Absicht wurde in Telefongesprächen seiner Ehefrau bestätigt. In einem mit der Schwester des Beschuldigten geführten Telefonat berichtete die Ehefrau des Beschuldigten von dem geplanten Umzug (Bl. 292, SH 15). Es sei geplant, im Sommer nach Jordanien zu kommen, um dann dort zu leben. Man sei deshalb auf der Suche nach einem Haus. Es sei aber wichtig, ein Haus in einem vernünftigen Stadtteil oder einer vernünftigen Region zu finden, damit die Kinder den Umzug nicht übel nehmen. Man habe vor, das Haus in Göttingen und ihren Anteil an der Zahnarztpraxis zu verkaufen. Darüber hinaus berichtet die Ehefrau des Beschuldigten in dem Telefonat von der geplanten Anmeldung der Kinder auf einer Schule in Jordanien (Bl. 287, SH 15). Die Zeugnisse habe man bereits abgeschickt. Eine Zahlung von Schulgeld sei noch nicht erfolgt, aber der Antrag für die Anmeldung der Kinder sei schon ausgefüllt worden.

65. Die Ergebnisse der Telekommunikationsüberwachung sind verwertbar, weil die Telekommunikationsüberwachung rechtmäßig angeordnet wurde und auch nach der Inhaftierung des Beschuldigten fortgesetzt werden durfte. Der Beschuldigte konnte den Anschluss infolge seiner Inhaftierung zwar selbst nicht mehr nutzen, die Überwachung durfte aber andauern, weil ein Nachrichtenmittler - vorliegend die Ehefrau - den überwachten Anschluss nutzt (vgl. BGH, Beschluss vom 09.07.2002 – 1 StR 177/02, Rn. 5, zitiert nach juris; KK/Nack, a.a.O., Rdnr. 5 zu § 100b, Rn. 5). Zu berücksichtigen ist ferner, dass der Ermittlungsrichter von vornherein in rechtlich nicht zu beanstandender Weise auch die Überwachung des Anschlusses der - unverdächtigen - Ehefrau des Beschuldigten angeordnet hatte.

66. Im Einklang mit dem Ergebnis der Telekommunikationsüberwachung stehen die Erkenntnisse der am 11.01.2013 durchgeführten Durchsuchung der Wohnung des Beschuldigten. In einem der Kinderzimmer wurden Anmeldeunterlagen für eine Schule in Jordanien – The International School of Choueifat (Amman) – aufgefunden. Eine vorläufige Auswertung der Daten, welche auf einem in einem Kinderzimmer befindlichen PC gespeichert sind, hat darüber hinaus ergeben, dass zwei eingescannte Formulare gespeichert sind, die eine Aufnahme von
D und M O, der zwei jüngsten Töchter des Beschuldigten, auf einer Schule in Jordanien – The School – vorbereiten. Die beiden eingescannten Formulare sind ausgefüllt und mit dem Stempel des -Gymnasiums in Göttingen versehen. Sie weisen als Ausstellungsdatum den 20.12.2013 und den 21.12.2013 aus.

67. Das Versprechen des Beschuldigten, trotz dieser weit gediehenen Bestrebungen, nach Jordanien auszuwandern und sich dort eine neue Existenz aufzubauen, sich für das vorliegende Verfahren zur Verfügung zu halten und Ladungen Folge zu leisten, vermag den Senat nicht zu überzeugen. Dass der Beschuldigte auch nach einer Übersiedlung nach Jordanien vor dem Hintergrund einer in Deutschland ihm drohenden langjährigen Haftstrafe freiwillig wieder zur Hauptverhandlung einreisen und sich dem Verfahren stellen würde, hält der Senat für in höchstem Maße unwahrscheinlich.

68. Für diese Einschätzung spricht gerade auch, dass der Beschuldigte über seinen Verteidiger schwere Vorwürfe gegen die Justiz erhoben hat: Die Ermittlungsbehörde habe das Ermittlungsverfahren einseitig und unfair geführt, keine unabhängigen Gutachter hinzugezogen und Mitbeschuldigte bei Vernehmungen über ihren Beschuldigtenstatus getäuscht (Schreiben vom 18.02.2013, Seite 6). Die Ermittlungsrichterin am Amtsgericht Braunschweig habe billigend die soziale Hinrichtung des Beschuldigten und seiner Familie in Kauf genommen (Schreiben vom 22.01.2013, Seite 7). Die Strafkammer des Landgerichts Braunschweig habe den Grundsatz des fairen Verfahrens missachtet, den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt und Partei gegen den Beschuldigten ergriffen (Schreiben vom 18.02.2013, Seite 10). Offenbar sei die Beraubung sämtlicher beruflicher Perspektiven im Inland beabsichtigt gewesen (Schreiben vom 22.01.2013, Seite 5).

69. In Übereinstimmung damit stehen zahlreiche Äußerungen der Ehefrau des Beschuldigten, die nach dem verwertbaren Ergebnis der Telekommunikationsüberwachung feststehen. Die Ehefrau hat vielfach ihre Überzeugung geäußert, dass das Strafverfahren gegen den Beschuldigten nicht fair und objektiv geführt wird. Man habe nur einen Sündenbock gesucht (Bl. 121, SH 15), um die Öffentlichkeit ruhig zu stellen (Bl. 181, SH 15) und den Beschuldigten als schwächstes Glied der Kette ausgesucht (Bl. 301, SH 15). Andere Personen würde man verschonen (Bl. 142, SH 15). Die Festnahme sei politisch motiviert (Bl. 97, SH 15). Die als Gutachter tätigen Mediziner seien in die Manipulationen verwickelt und hätten selbst manipuliert (Bl. 97, SH 15). Sie habe kein Vertrauen mehr und befürchte, dass irgendwas manipuliert werde (Bl. 252, SH 15).

70. All dies deutet mit Wahrscheinlichkeit darauf hin, dass der Beschuldigte sich dem in höchstem Maße als unfair empfundenen Verfahren entziehen und sich auf den Aufbau der neuen Existenz in Jordanien konzentrieren würde, wenn der Haftbefehl aufgehoben oder außer Vollzug gesetzt würde. Für ihn gibt es berufliche und soziale Perspektiven nur noch im Ausland und diese bestehen ernsthaft nur dann, wenn er im vorliegenden Verfahren eine Verurteilung vermeidet, weil er nur so die Legende aufrechterhalten kann, nichts Unrechtes getan zu haben und - so die Einschätzung der Ehefrau - als „Sündenbock“ herhalten zu müssen.

71. Der Senat hat die Haftanordnung daher aufrechterhalten und den Haftbefehl auch nicht gem. § 116 Abs. 1 außer Vollzug gesetzt, weil insbesondere auch die angebotene Sicherheitsleistung die erhebliche Fluchtgefahr nicht beseitigen könnte, sondern - aus Sicht des Beschuldigten - nichts anderes wäre als eine Investition in eine bessere Zukunft, die es für ihn nur noch außerhalb Deutschlands gibt. Auch das Angebot einer wesentlich höheren Sicherheitsleistung hätte den Senat daher nicht zu einer anderen Entscheidung veranlasst.

III.

72. Die Kosten- und Auslagenentscheidung das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft betreffend beruht auf § 473 Abs. 1 und 2 StPO; für die weitere Beschwerde des Beschuldigten folgt sie allein aus § 473 Abs. 1 StPO.

73. Da der Beschuldigte sein Ziel (Aufhebung oder Außervollzugsetzung des Haftbefehls) nicht erreicht hat und er seine weitere Beschwerde mit dem erreichten Ziel - Wegfall des Tatvorwurfs im Fall B sowie des Haftgrunds gem. § 112 Abs. 3 StPO - in zulässiger Weise nicht hätte einlegen können (siehe oben Randziffer 10 zum Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft), liegt kein Teilerfolg i.S.v. § 473 Abs. 4 StPO vor.