Sozialgericht Hannover
Urt. v. 20.01.2012, Az.: S 38 KR 976/09

Arbeitslosengeld; Festzuschuss; Fiktives Bruttoeinkommen

Bibliographie

Gericht
SG Hannover
Datum
20.01.2012
Aktenzeichen
S 38 KR 976/09
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 44338
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Bei der Berechnung des Zuschusses nach § 55 Abs. 3 SGB V darf Einkommen aus Arbeitslosengeld nicht auf einen fiktiven Bruttobetrag, den der Versicherte als Arbeitnehmer erzielt hätte, hochgerechnet werden.

Tenor:

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 12.11.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.11.2009 verurteilt, dem Kläger von weiteren Kosten für die am 28.10.2008 erfolgte Zahnbehandlung (Heil- und Kostenplan vom 18.09.2008) in Höhe von 1.197,06 Euro freizustellen.

2. Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Höhe des von der Beklagten zu leistenden Zuschusses für Zahnersatzleistungen.

Der im Jahre 1962 geborene Kläger war im Zeitraum 18.07.2008 bis 16.07.2009 als Bezieher von Arbeitslosengeld nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Im September 2008 reichte er einen Heil- und Kostenplan seines behandelnden Zahnarztes Dr. G. für eine geplante zahnärztliche Behandlung ein. Die veranschlagten Kosten betrugen 3.212,05 EUR. Die Beklagte bewilligte dem Kläger hierfür am 24.09.2008 den einfachen Festzuschuss in Höhe von 1.464,96 EUR. Am 29.10.2008 stellte der Kläger einen Antrag auf Übernahme der Zahnersatzkosten über den Festbetrag hinaus. Diesen Antrag wies die Beklagte mit Bescheid vom 12.11.2008 ab. Ein Anspruch bestünde nur dann, wenn die Bruttoeinnahmen des Klägers zum Lebensunterhalt den für das Jahr 2008 geltenden Höchstbetrag in Höhe von 994,- EUR nicht überstiegen. Maßgeblich seien die Einkommensverhältnisse zum Zeitpunkt der Eingliederung des Zahnersatzes. Der Kläger habe Bruttoeinnahmen in Höhe von 1.548,35 EUR. Zur Ermittlung des zumutbaren Eigenanteils sei die dreifache Differenz zwischen Bruttoeinnahmen und gesetzlicher Einkommensgrenze zu ermitteln. Diese übersteige den Eigenanteil, so dass keine weitere Kostenerstattung möglich sei.

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein. Er machte geltend, die Beklagte habe den Freibetrag für Schwerbehinderung nicht berücksichtigt. Außerdem sei er seit dem 27.01.2007 arbeitsunfähig erkrankt. Seitdem beziehe er Arbeitslosengeld I. Dieses habe aber entgegen der Behauptung der Beklagten nur 1.083,30 € betragen.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 19.11.2009 zurück. Zur Begründung führte sie an, die gesetzliche Regelung stelle auf das monatliche Bruttoeinkommen ab. Entgeltersatzleistungen wie das Arbeitslosengeld I würden demgegenüber grundsätzlich als Nettozahlungen gewährt. Es sei daher ein fiktives Bruttoeinkommen zu bilden, da Arbeitnehmer sonst im Vergleich zu Empfängern von Arbeitslosengeld besser gestellt würden.

Der Kläger hat am 07.12.2009 Klage erhoben.

Zur Begründung wiederholt und vertieft er im Wesentlichen seine Ausführungen aus dem Widerspruchsverfahren.

Er beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 12.11.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.11.2009 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihn von den Kosten für die Zahnarztrechnung vom 28.10.2008 in Höhe von weiteren 1.197,06 EUR freizustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist zur Begründung ebenfalls auf ihr Vorbringen im Verwaltungsverfahren. Ergänzend führt sie an, nach der Definition des Begriffs Einnahmen zum Lebensunterhalt zählten hierzu alle Einnahmen, die zur Bestreitung des Lebensunterhaltes bestimmt sind ohne Rücksicht auf ihre steuerliche Behandlung. Deshalb hätten die steuerlichen Freibeträge des Klägers nicht einkommensmindernd berücksichtigt werden dürfen.

Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Sachvortrages der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen. Die Akten haben der Kammer vorgelegen und sind Gegenstand der Verhandlung, Beratung und Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage auch in der Sache Erfolg. Der Kläger hat einen Anspruch auf Freistellung von der Zahnarztrechnung seines Arztes vom 28.10.2008 in Höhe von weiteren 1.197,06 EUR.

Der Anspruch auf Krankenbehandlung gemäß § 27 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) wird für Zahnersatz durch die speziellen Regelungen der §§ 55 ff. SGB V konkretisiert. Danach erhalten Versicherte befundbezogene Festzuschüsse bei einer medizinisch notwendigen Versorgung mit Zahnersatz. Diese Festzuschüsse umfassen gemäß § 55 Abs. 1 S. 2 SGB V grundsätzlich 50 vom Hundert der nach § 57 Abs. 1 S. 6 und Abs. 2 S. 6 und 7 SGB V festgesetzten Beträge. Nach der hiernach ergangenen Festzuschuss-Richtlinie betrug dieser Zuschuss für die vom behandelnden Zahnarzt im Heil- und Kostenplan vom 18.09.2008 aufgeführten Befunde zum damaligen Zeitpunkt den von der Beklagten bereits gewährten Betrag in Höhe von 1.464,96 EUR.

Gemäß § 55 Abs. 3 SGB V haben Versicherte bei der Versorgung mit Zahnersatz zusätzlich zu den Festzuschüssen nach Absatz 1 Satz 2 Anspruch auf einen weiteren Betrag. Die Krankenkasse erstattet den Versicherten den Betrag, um den die Festzuschüsse nach Absatz 1 Satz 2 das Dreifache der Differenz zwischen den monatlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt und der zur Gewährung eines zweifachen Festzuschusses nach Absatz 2 Satz 2 Nr. 1 maßgebenden Einnahmegrenze übersteigen. Die Beteiligung an den Kosten umfasst dabei höchstens einen Betrag in Höhe der zweifachen Festzuschüsse nach Absatz 1 Satz 2, jedoch nicht mehr als die tatsächlich entstandenen Kosten. Die maßgebende Einnahmegrenze nach § 55 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 SGB V beträgt 40 vom Hundert der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV). Im Jahre 2008 waren dies 994,- EUR.

Maßgeblich bei der Prüfung für die unzumutbare Belastung sind die Bruttoeinnahmen des Monats, der dem Monat vorangeht, in dem der Festzuschuss beantragt wird (Krauskopf, Krankenversicherung, Pflegeversicherung, 70. EL aus 6/10, § 55 SGB V, Rn. 16), hier also der Monat August 2008. Der Kläger hatte zu diesem Zeitpunkt Bruttoeinnahmen in Höhe von 1.083,30 EUR aus dem Bezug von Arbeitslosengeld. Weitere Einnahmen waren nicht vorhanden. Entgegen der Auffassung der Beklagten darf das Arbeitslosengeld nicht auf einen fiktiven Bruttobetrag hochgerechnet werden. Hierfür fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage. Das Gesetz spricht ausdrücklich von Bruttoeinkommen.

Insbesondere ist § 14 Abs. 2 SGB IV nicht entsprechend heranzuziehen. Hiernach gelten für den Fall der Vereinbarung eines Nettoarbeitsentgeltes zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer als Arbeitsentgelt die Einnahmen des Beschäftigten einschließlich der darauf entfallenden Steuern und der seinem gesetzlichen Anteil entsprechenden Beiträge zur Sozialversicherung und Arbeitsförderung. Doch der sich ausschließlich nach gesetzlichen Vorschriften bestimmende Bezug von Sozialleistungen ist nicht vergleichbar mit der Zahlung von Arbeitsentgelt aufgrund einer Nettolohnvereinbarung. Während im Falle einer Nettolohnvereinbarung die auf den Nettolohn zu entrichtenden Steuern und Sozialversicherungsbeiträge einen Teil des Arbeitslohnes darstellen, wäre die Hochrechnung der Leistungen der Arbeitsagentur auf einen Bruttobetrag rein fiktiv (zu derselben Problematik in § 62 SGB V: LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 06.02.2001, Az.: L 5 KR 50/00). Es ist im Übrigen nicht von einer Regelungslücke auszugehen. Vielmehr kann angenommen werden, dass der Gesetzgeber eine entsprechende Regelung geschaffen hätte, wenn er in den relativ häufig vorkommenden Fällen des Bezugs von Sozialleistungen eine fiktive Bruttoberechnung gewollt hätte (LSG Nordrhein-Westfalen, a.a.O.; LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 07.02.2002, Az.: L 5 KR 63/01).

Die Vorgehensweise der Beklagten findet schließlich auch keine Grundlage in dem Argument der Gleichbehandlung mit Arbeitnehmern. Zwar ist es zutreffend, dass ein Arbeitnehmer unter Umständen einen geringeren Anspruch auf Zuschuss zu seinem Zahnersatz hat als ein Arbeitloser, obwohl ihm faktisch ein geringeres (Netto-) Einkommen zur Verfügung steht; die Regelung ist aber Ausdruck einer Absicht des Gesetzgebers, durch die Heranziehung der Bruttoeinkünfte eine rasche und unbürokratische Verwaltungsentscheidung zu ermöglichen. Die damit geschaffenen typisierenden und pauschalierenden Regelungen sind hinnehmbar und verstoßen nicht gegen das Gleichbehandlungsgebot (vgl. zu § 62 SGB V:  BSG, Urt. v. 22.04.2008, Az.: B 1 KR 5/07 R; LSG Rheinland-Pfalz, a.a.O.). Sie beschränken sich auch nicht auf die Gleichstellung jeglicher Bruttoeinnahmen, sondern lassen einer Vielzahl Einkünften weiteren Faktoren außer Acht, die bei der Bemessung von Einkünften eine Rolle spielen, wie beispielsweise den vom Kläger angeführten Freibetrag für Schwerbehinderung. Im Übrigen steht es der Beklagten nicht zu, die gesetzlichen Vorschriften außer Acht zu lassen und aus allgemeinen Gerechtigkeitserwägungen heraus einem Versicherten einen zustehenden Anspruch zu verweigern. Es wäre allein Sache des Gesetzgebers, eine andere Regelung zu schaffen.

Der Festzuschuss in Höhe von 1.464,96 EUR überstieg die dreifache Differenz zwischen den damit maßgeblichen Bruttoeinnahmen in Höhe von 1.083,30 EUR und der Einnahmegrenze von 994,- EUR (3 x 89,30 EUR = 267,90 EUR) um 1.197,06 EUR.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.