Sozialgericht Hannover
Urt. v. 24.01.2012, Az.: S 29 P 85/10
Ermittlung der Kostentragung für eine Wiederholungsprüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Niedersachsen (MDKN); Zulässigkeit einer Prüfung der Qualität in Pflegeeinrichtungen durch den MDK; Berechtigtes Interesse der Einrichtungen zur Einstellung auf die Kostenfolge einer möglichen Wiederholungsprüfung bereits zum Zeitpunkt einer Regel- oder Anlassprüfung
Bibliographie
- Gericht
- SG Hannover
- Datum
- 24.01.2012
- Aktenzeichen
- S 29 P 85/10
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2012, 16070
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGHANNO:2012:0124.S29P85.10.0A
Rechtsgrundlage
- § 114 Abs.5 S. 2 SGB XI
Fundstelle
- PflR 2012, 310-313
In dem Rechtsstreit
...
hat das Sozialgericht Hannover - 29. Kammer - ohne mündliche Verhandlung am 24. Januar 2012 durch die Vorsitzende, Richter D.) und die ehrenamtlichen Richter E.) und F.)
für Recht erkannt:
Tenor:
- 1.
Es wird festgestellt, dass den Beklagten gegenüber der Klägerin keine Forderung in Höhe von 562,80 EUR für die am 28. Oktober 2008 durchgeführte Wiederholungsprüfung nach § 114 Abs. 5 Satz 2 SGB XI zusteht.
- 2.
Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
- 3.
Die Beklagten tragen die Kosten des Verfahrens.
- 4.
Die Berufung wird zugelassen.
- 5.
Der Streitwert wird auf 562,80 EUR festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Kostentragung für eine Wiederholungsprüfung gem. § 114 Abs.5 Satz 2 Sozialgesetzbuch, Elftes Buch, Pflegeversicherung (SGB XI).
Die Klägerin ist die Trägerin der G.); die Beklagten sind die C.).
Am 27.Mai 2008 fand in der Einrichtung der Klägerin eine Qualitätsprüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Niedersachsen (MDKN) statt. Unter Berücksichtigung des erhobenen Prüfungsergebnisses empfahl der MDKN den Beklagten die Veranlassung einer Wiederholungsprüfung, welche am 28.Oktober 2008 durchgeführt wurde.
Mit "Kostenbescheid" vom 31.August 2009 machten die Beklagten die Kosten der Wiederholungsprüfung in Höhe von 562,80 EUR gegenüber der Klägerin geltend. Der Rechnungsbetrag wurde wie folgt aufgeschlüsselt:
- 1.
Aufwendungen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung
240 Minuten x Minutensatz von 1,93 EUR = 463,20 EUR
- 2.
Aufwendungen der Landesverbände der Pflegekassen
120 Minuten x Minutensatz von 0,83 EUR = 99,60 EUR
Die Klägerseite erhob mit Schreiben vom 28.September 2009 "Widerspruch" und vertrat die Auffassung, dass insbesondere keine taugliche Rechtsgrundlage für die Kostenerhebung bestehe. Auch sei die Höhe der Forderung rein tatsächlich nicht nachvollziehbar. Daraufhin führten die Beklagten mit Schreiben vom 04.November 2009 gegenüber der Klägerin aus, der Widerspruch der Klägerin sei nicht statthaft. Bei der Zahlungsaufforderung handele es sich um eine Rechnung in einem öffentlich-rechtlichen Abrechnungsverhältnis zwischen Pflegeeinrichtung und Verbänden, die sich insoweit im Gleichordnungsverhältnis gegenüberstünden. Zur Zusammensetzung der Kosten führten die Beklagten aus, dass die Aufwendungen des MDK auf der Grundlage einer Vollkostenkalkulation ermittelt worden seien. Die Medizinischen Dienste hätten sich insoweit auf gemeinsame Kostenerstattungssätze für Wiederholungsprüfungen verständigt. Bei den Aufwendungen der Verbände der gesetzlichen Pflegekassen sei der Wert der in der Regel anfallenden Tätigkeiten im Durchschnitt mit 8 Stunden und einem Rechnungsbetrag von 400,- EUR ermittelt und festgesetzt worden. Nachdem die Beklagten den streitigen Betrag zunächst im Januar 2010 mit Forderungen der Klägerseite verrechnet hatten, erstatteten die Beklagten der Klägerin den verrechneten Betrag zurück mit dem Hinweis, grundsätzlich an der Forderung festzuhalten zu wollen. Mit Schreiben vom 11.Mai 2010 machten die Beklagten die Kosten in Höhe von 562,80 EUR nunmehr mit Kostenrechnung geltend; die Klägerin lehnte die Zahlung unter Bezugnahme auf ihr bisheriges Vorbringen weiterhin ab. Die Beklagten erinnerten die Klägerin unter dem 17.Juni 2010 und 13.Juli 2010 vergeblich an die Zahlung.
Mit der am 16.Juli 2010 erhobenen Klage wendet sich die Klägerin gegen die Kostenforderung der Beklagten. Neben der Form, in welcher die Forderung geltend zu machen sei, sei auch die materielle Berechtigung der Forderung nach Grund und Höhe streitig. § 114 Abs.5 Satz 2 SGB XI stelle nämlich keine verfassungsmäßige Grundlage für eine Kostenerhebung dar. Selbst wenn dies der Fall wäre, wäre die Forderung insbesondere der Höhe nach unberechtigt. Mit der Pauschalierung von Personal- und Sachkosten sowie außerhalb des eigentlichen Prüfungsvorganges liegenden Bearbeitungs- und Reisezeiten seien Gebühren bestimmt worden. Gebühren könnten aber nur durch Gesetz in einer Gebührenordnung festgelegt werden. In § 114 Abs.5 SGB XI fehlten aber entsprechende Regelungen zur Kostenhöhe. Daher könne allenfalls ein Kostenerstattungsanspruch in tatsächlicher Höhe in Betracht kommen. Im übrigen könne im vorliegenden Fall bereits aufgrund eines Verstoßes gegen das Rückwirkungsgebot keine Kostenerhebung erfolgen, denn die Wiederholungsprüfung vom 28.Oktober 2008 knüpfe an eine Prüfung an, die vor Inkrafttreten des neuen Rechts am 27.Mai 2008 durchgeführt worden sei. Bis zum 30.Juni 2008 habe es begrifflich keine Wiederholungsprüfungen und erst recht keine Kostenpflicht dafür gegeben.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,
den Bescheid der Beklagten vom 31.August 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.November 2009 aufzuheben,
hilfsweise,
festzustellen, dass den Beklagten gegenüber der Klägerin keine Forderung in Höhe von 562,80 EUR für die am 28.Oktober 2008 durchgeführte Wiederholungsprüfung nach § 114 Abs.5 Satz 2 SGB XI zusteht.
Die Beklagten beantragen nach ihrem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,
die Klage abzuweisen.
Die Kosten der Wiederholungsprüfung seien zwar zunächst in Form eines Kostenbescheides geltend gemacht und mit Forderungen der Klägerin verrechnet worden. Aufgrund der zwischenzeitlich geänderten Rechtsauffassung der Beklagten, dass die Kosten gem. § 114 Abs.5 Satz 2 SGB XI durch schlichte Zahlungsaufforderung und nicht durch Verwaltungsakt zu erheben seien, sei der verrechnete Betrag zurückerstattet und die Forderung aufgrund des Kostenbescheides abgeschlossen worden. Die Beklagten seien mit der im Anschluss erstellten Rechnung ihrem gesetzlichen Auftrag gefolgt, Kosten geltend zu machen. Der Gesetzgeber habe offenbar bewusst keine Gebührenordnung durch Gesetz festgesetzt, sondern die Festsetzung der Gebühren den beteiligten Prüfinstitutionen überlassen. Nachdem die Beklagten nunmehr mittels Rechnung vom 11.Mai 2010 die Kosten geltend gemacht hätten, sei diese Zahlungsaufforderung sowohl dem Grund als auch der Höhe nach als rechtmäßig anzusehen. Auch der Einwand des Rückwirkungsverbotes greife nicht. Zwar habe sich durch das Pflegeweiterentwicklungsgesetz die Systematik der Qualitätsprüfungen neu geordnet. Hier sei aber anerkannter Rechtsgrundsatz, dass die Sofortwirkung neuen Rechts gel-te, mit der Folge, dass der neue § 114 Abs.5 Satz 2 SGB XI auch ab Inkrafttreten auf sämtliche Lebenssachverhalte anzuwenden sei.
Die Gerichtsakten haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Betei-ligten wird auf den Inhalt der Akten ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gem. § 124 Abs.2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erklärt.
1. Die Klage ist teilweise zulässig.
Die mit dem Hauptantrag erhobene Anfechtungsklage ist gem. § 54 Abs.1 Satz 1 SGG nicht statthaft, denn es liegt kein Verwaltungsakt vor.
Das Schreiben der Beklagten vom 31.August 2009 ist zwar aufgrund der Bezeichnung als "Kostenbescheid" und der Rechtsbehelfsbelehrung formal als Bescheid ausgestaltet worden. Dieses Schreiben in Gestalt des Widerspruchsschreibens vom 04.November 2009 ist aber spätestens mit Schreiben der Beklagten vom 11.Mai 2010 konkludent aufgehoben worden. So haben die Beklagten in dem genannten Schreiben mitgeteilt, den aufgrund des Schreibens vom 31.August 2009 verrechneten Betrag am 25.März 2010 zurückerstattet zu haben. Die Kosten würden nun mittels Rechnung geltend gemacht. Damit wird deutlich, dass die Beklagten aus den Schreiben vom 31.August 2009 und 04.November 2009 keinerlei Rechtsfolgen mehr haben ableiten wollen.
Die mit dem Hilfsantrag erhobene negative Feststellungsklage ist die statthafte Klageart. Bei der Kostenrechnung der Beklagten vom 11.Mai 2010 handelt es sich nicht um einen Verwaltungsakt, sondern um eine Rechnung, die im Gleichordnungsverhältnis ergangen ist. Das Rechtsverhältnis der Beteiligten ist durch die vertragliche Bindung aufgrund des Versorgungsvertrages gem. § 72 SGB XI bestimmt. Der Versorgungsvertrag begründet Rechtspflichten und Ansprüche zwischen Einrichtung und Kostenträgern auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts und ist als koordinationsrechtlicher Vertrag anzusehen. Dabei ist die Kostenforderung gem. § 114 Abs.5 Satz 2 SGB XI als Geltendmachung einer Forderung im Rahmen des Vertragsvollzugs anzusehen (vgl. Sozialgericht Darmstadt, Urteil vom 24.Januar 2011, Az. S 18 P 25/10; a.A. Bassen in Udsching, SGB XI, 3.Auflage 2010, § 114 Rdn.11). Für die Ausgestaltung der Kostenforderung nicht als Verwaltungsakt spricht, dass der Gesetzgeber in § 114 Abs.5 SGB XI keine dem § 73 Abs.2 SGB XI entsprechende Regelung getroffen hat, wonach ein Vorverfahren nicht stattfindet und die Klage keine aufschiebende Wirkung hat. Durch diese Auslegung erübrigt sich auch die Frage, welche Widerspruchsbehörde über einen Widerspruch zu entscheiden hätte (vgl. SG Darmstadt, a.a.O.).
Das für die mit dem Hilfsantrag erhobene negative Feststellungsklage notwendige Feststellungsinteresse liegt schon in dem berechtigten wirtschaftlichen Interesse der Klägerseite.
2. Die Klage ist auch begründet.
Die Beklagten haben keinen Anspruch auf Zahlung von 562,80 EUR gegen die Klägerin.
Rechtsgrundlage für die Kostenforderung der Beklagten vom 11.Mai 2010 ist § 114 Abs.5 Satz 2 SGB XI in der Fassung des Gesetzes vom 28.Mai 2008 mit Wirkung ab 01.Juli 2008. Hiernach können die Landesverbände der Pflegekassen im Zusammenhang mit einer zuvor durchgeführten Regel- oder Anlassprüfung auf Kosten der Pflegeeinrichtung eine Wiederholungsprüfung veranlassen, um zu überprüfen, ob die festgestellten Qualitätsmängel durch die nach § 115 Abs.2 angeordneten Maßnahmen beseitigt worden sind.
§ 114 Abs.5 Satz 2 SGB XI stützt den Zahlungsanspruch der Beklagten nicht, denn Gegenstand der Wiederholungsprüfung war eine vor Inkrafttreten des Pflegeweiterentwicklungsgesetzes am 01.Juli 2008 durchgeführte Anlassprüfung.
Der zeitliche Anwendungsbereich der Regelung bestimmt sich nach den allgemeinen für das Sozialrecht geltenden Grundsätzen, weil das Gesetz keine ausdrückliche Übergangsregelung für Regel- oder Anlassprüfungen, die vor dem 01.Juli 2008 durchgeführt worden sind, enthält.
Die Kammer ist der Auffassung, dass § 114 Abs.5 Satz 2 SGB XI nur auf solche Sachverhalte anwendbar ist, die sich vollständig nach Inkrafttreten des neuen Rechts verwirklicht haben. Dies gilt vor allem unter Anwendung des Grundsatzes des Regelungsschwerpunkts. Der Gesetzgeber will nach dem Grundsatz des Regelungsschwerpunkts im Zweifel das Recht angewandt sehen, bei dem der Schwerpunkt der Regelung liegt, vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 22.Juni 2010, Az. B 1 KR 29/09 R.
Im vorliegenden Fall ist der Gesamtkomplex auf die Prüfung von Qualität in Pflegeeinrichtungen durch den MDK ausgelegt. Schon der Wortlaut des § 114 Abs.5 Satz 2 SGB XI verdeutlicht den engen Zusammenhang zwischen der Auferlegung von Kosten der Wiederholungsprüfung und der zuvor durchführten Regel- oder Anlassprüfung und damit das Ineinandergreifen von Teilelementen zu einem Gesamtkomplex. Die grundlegende Frage ist jeweils, ob die im Rahmen der Ausgangsprüfung (hier Anlassprüfung) festgestellten Qualitätsmängel durch die nach § 115 Abs.2 SGB XI angeordneten Maßnahmen beseitigt worden sind. Der besondere Zusammenhang ergibt sich auch aus der Gesetzesbegründung zum Pflege-Weiterentwicklungsgesetz (BT-Drucks. 16/8525, S. 103): ... "Die Kostenlast bei den Einrichtungen anzusiedeln ist auch geboten, da die Ursache für die Wiederholungsprüfung in der nicht qualitätsgerechten Erbringung der Leistung liegt." Die Regel- oder Anlassprüfung und die aufgrund von im Rahmen dieser Prüfung festgestellten Qualitätsmängeln veranlasste Wiederholungsprüfung sind insoweit auf Engste miteinander verknüpft. Dabei ist regelmäßig auf den Prüfungszeitpunkt selbst (hier den 27.Mai 2008) und nicht auf den Prüfbescheid (hier den Bescheid vom 10.Juli 2008) abzustellen, weil die zum Zeitpunkt des Prüfungstermins vorgefundenen Umstände die Tatsachengrundlage für die Qualitätsmängel bilden.
Im übrigen stellt die in § 114 Abs.5 Satz 2 und 3 SGB XI getroffene Kostenregelung unter Anlehnung an das Veranlasserprinzip im Rahmen der Qualitätsprüfungen ein Novum dar. Vor diesem Hintergrund liegt ein berechtigtes Interesse der Einrichtungen vor, sich bereits zum Zeitpunkt einer Regel- oder Anlassprüfung auf die Kostenfolge einer möglichen Wiederholungsprüfung einzustellen. Auch unter diesem Gesichtspunkt erscheint es gerechtfertigt, § 114 Abs.5 Satz 2 SGB XI nur auf Regel- oder Anlassprüfungen anzuwenden, die seit dem 01.Juli 2008 stattgefunden haben.
Da die Forderung der Beklagten schon dem Grunde nach nicht berechtigt ist, können Ausführungen zur zwischen den Beteiligten auch streitigen Höhe der Kostenforderung dahinstehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a SGG i.V.m. den §§ 154 bis 162 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Die Kammer hat die Zulassung der Berufung gem. § 144 Abs.2 Nr.1 SGG beschlossen, weil die Rechtsfrage des zeitlichen Anwendungsbereiches von § 114 Abs.5 Satz 2 SGB XI bisher nicht geklärt ist und eine Klärung im Hinblick auf Altfälle von allgemeinem Interesse ist.
Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 197 a SGG in Verbindung mit § 52 Abs.3 des Gerichtskostengesetzes (GKG).