Verwaltungsgericht Osnabrück
Urt. v. 18.09.2007, Az.: 3 A 152/05
amtsärztliche Stellungnahme; Ausschluss; Ausschlussregelung; Beamter; Behandlungsmethode; Beihilfe; Beihilfegewährung; Beihilfeleistung; Immunglobulin; Kostenübernahme; medizinische Notwendigkeit; Multiple Sklerose; Therapieleitlinie
Bibliographie
- Gericht
- VG Osnabrück
- Datum
- 18.09.2007
- Aktenzeichen
- 3 A 152/05
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2007, 71713
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 5 Abs 1 S 4 BhV
- § 6 Abs 5 Nr 3 BhV
- § 6 Abs 3 BhV
- § 6 Abs 2 BhV
Tatbestand:
Der Kläger ist Ruhestandsbeamter des Landes. Er ist an Multipler Sklerose mit sekundär chronisch-progredientem Verlauf erkrankt. Der behandelnde Arzt rät u.a. mit Blick auf auftretende Krankheitsschübe zu einer Immunglobulinbehandlung. Deren Kosten belaufen sich voraussichtlich auf monatlich 1.320,50 €. Zunächst ist ein sechsmonatiger Behandlungszyklus beabsichtigt, für den eine anteilige Kostenübernahmezusage der Privatversicherung des Klägers vorliegt.
Auf der Grundlage einer amtsärztlichen Stellungnahme vom 19.1.2005, die diese Behandlung als mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht aussichtsreich bewertete, lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 26.1.2005 die Gewährung von Beihilfeleistungen zu derartigen Aufwendungen ab. Den Widerspruch des Klägers vom 11.2.2005 wies der Beklagte nach Einholung einer erneuten amtsärztlichen Stellungnahme vom 14.3.2005, ausweislich derer die Behandlung der Erkrankung des Klägers mit Immunglobulinen medizinisch nicht indiziert sei, mit Bescheid vom 9.6.2005 zurück. Auf vorgenannte Schriftstücke wird Bezug genommen.
Am 4.7.2005 hat der Kläger Klage erhoben, zu deren Begründung er unter Vorlage der ärztlichen Stellungnahme vom 7.10.2005 geltend macht, seine Krankheit gehe bei sekundär-progredientem Verlauf mit weiteren Schüben einher, so dass von einem positiven Effekt jedenfalls mindestens auf die überlagernden Schübe auszugehen sei. Darüberhinaus existierten mittlerweile Daten, die einen positiven Effekt auf den chronisch-progredienten Verlauf annehmen ließen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 26.1.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 9.6.2005 zu verurteilen, für die Aufwendungen für eine Behandlung mit Immunglobulinen Beihilfe in Anwendung des Beihilfebemessungssatzes zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte macht unter Bezugnahme auf die amtsärztlichen Stellungnahmen geltend, die beabsichtigte Behandlung sei für die Erkrankung des Klägers medizinisch nicht indiziert.
Das Gericht hat unter Bezugnahme auf die Therapieleitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (Stand 1.4.2002) sowie einschlägige Beiträge der "Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft" vom 9.12.2005 und 19.8.2002 (www.dmsg.de) eine ergänzende Stellungnahme des behandelnden Arztes vom 21.11.2006 sowie des Amtsarztes vom 24.4.2007 eingeholt, auf die Bezug genommen wird.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter als Einzelrichter einverstanden erklärt und auf mündliche Verhandlung verzichtet.
Wegen des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze, wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung von Beihilfeleistungen zu Aufwendungen für eine Immunglobulintherapie; die ablehnenden Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten.
Gemäß § 87 c Absatz 1 NBG erhalten Beamte und Versorgungsempfänger des Landes Niedersachsen grundsätzlich nach den für die Beamten und Versorgungsempfänger des Bundes geltenden Beihilfevorschriften Beihilfen in Krankheits-, Pflege- und Geburtsfällen. Gemäß § 1 Absatz 1 Beihilfevorschriften (BhV) regeln die Beihilfevorschriften insbesondere die Gewährung von Beihilfen in Krankheits-, Pflege- und Geburtsfällen (Satz 1); die Beihilfen ergänzen in diesen Fällen die Eigenvorsorge, die aus den laufenden Dienstbezügen zu bestreiten ist (Satz 2). Beihilfen werden zu den beihilfefähigen Aufwendungen beihilfeberechtigter Personen und deren berücksichtigungsfähiger Angehöriger gewährt (§ 1 Absatz 4 BhV).
Die Beihilfefähigkeit von Aufwendungen setzt gemäß § 5 Absatz 1 BhV voraus, dass die Aufwendungen (1.) dem Grunde nach notwendig, (2.) der Höhe nach angemessen sind und (3.) ihre Beihilfefähigkeit nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist. Bezüglich der aus Anlass einer Krankheit entstandenen Aufwendungen bestimmt § 6 Absatz 1 BhV, dass u.a. ärztliche Leistungen sowie die vom Arzt verbrauchten oder nach Art und Umfang schriftlich verordneten Arzneimittel grundsätzlich beihilfefähig sind. Jedoch kann der Bundesminister des Innern die Beihilfefähigkeit von Aufwendungen für eine Untersuchung oder Behandlung nach einer wissenschaftlich nicht allgemein anerkannten Methode begrenzen oder ausschließen (§ 6 Absatz 2 BhV) oder vom Vorliegen von Indikationen abhängig machen (§ 6 Absatz 3 BhV). Ebenso kann er die Beihilfefähigkeit der Aufwendungen u.a. ausschließen für Heilbehandlungen und Hilfsmittel von geringem oder umstrittenen therapeutischen Nutzen (§ 6 Absatz 5 Nr. 3 BhV).
Die Ausschlusstatbestände der § 6 Absätze 2, 3, 5 Nr. 3 BhV konkretisieren den Rechtsbegriff der Notwendigkeit in § 5 Absatz 1 Nr. 1 BhV. Sie sind in erster Linie von verwaltungspraktischer Bedeutung, da die auf ihrer Grundlage erlassenen Ausschlusskataloge einheitliche Entscheidungen über die fehlende Notwendigkeit ausgeschlossener Aufwendungen vorgeben und die medizinisch regelmäßig nicht vorgebildeten Beihilfesachbearbeiter der Notwendigkeit eigener Ermittlungen zur Frage der wissenschaftlichen Anerkennung von Untersuchung- und Behandlungsmethoden bzw. zu Art und Umfang des therapeutischen Nutzens entheben. Fehlt eine Ausschlussregelung sind entsprechende Aufwendungen zwar grundsätzlich berücksichtigungsfähig, doch kann die Beihilfestelle die medizinische Notwendigkeit solcher Aufwendungen unter Einholung einer gutachterlichen Stellungnahme des Amtsarztes oder des vertrauensärztlichen Dienstes (§ 5 Absatz 1 Satz 4 BhV) im Einzelfall prüfen und ggf. verneinen (vgl. Topka/Möhle, Kommentar zum Beihilferecht Niedersachsens und des Bundes, 5. Auflage, § 6 Rn. 20.1.5).
Von dieser Möglichkeit hat der Beklagte im vorliegenden Fall Gebrauch gemacht. Auf der Grundlage der amtsärztlichen Stellungnahme vom 19. Februar 2005 hat er mit Bescheid vom 26. Januar 2005 die Kostenübernahme für die begehrte Behandlung mit Immunglobulinen abgelehnt bzw. den Widerspruch des Klägers vom 11. Februar 2005 unter Einholung der ergänzenden amtsärztlichen Stellungnahme vom 14. März 2005 durch Widerspruchsbescheid vom 9. Juni 2005 mit der Begründung zurückgewiesen, die medizinische Notwendigkeit der Behandlung sei - trotz fehlenden Ausschlusses der Behandlungsmethode gemäß § 6 Absatz 2 BhV - zu verneinen.
Ausweislich der Verwaltungsvorgänge sowie der im gerichtlichen Verfahren erfolgten weiteren Sachaufklärung stützt sich die amtsärztliche Würdigung auf den Stand der neurologischen Forschung zum Einsatz intravenöser Immunglobuline. Der fachmedizinische Erkenntnisstand wird bezüglich der attestierten Erkrankung des Klägers (sekundär chronisch progrediente multiple Sklerose, ICD 10G 35.3) zutreffend dahingehend wiedergegeben, dass sich im Rahmen einer Studie der "Evidenzklasse I" keine positive Wirkung einer Behandlung mit Immunglobulinen habe nachweisen lassen. Diese Auffassung entspricht der Therapieleitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie für die Krankheit multiple Sklerose (Stand 1. April 2002), nach der aufgrund einer negativ verlaufenen Studie bezüglich des Einsatzes von intravenösen Immunglobulinen bei einer sekundär progredienten multiplen Sklerose diese Therapieoption für diese Verlaufsform der multiplen Sklerose nicht empfohlen werden kann; diese negative Aussage zur Wirksamkeit bezeichnet die Leitlinie als durch Studienergebnisse "gut belegt". Ausweislich der Beiträge der Homepage der "Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft“ vom 9. Dezember 2005 und 19. August 2002 (www.dmsg.de) entspricht dies dem aktuellen Stand medizinischer Forschung. In gleicher Richtung weist die zum Recht der gesetzlichen Krankenversicherung ergangene Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 19. März 2002 (B 1 KR 37/00 R, juris) zum so genannten Off-Label-Use. Unter Bezugnahme auf vom Paul-Ehrlich-Institut (www.pei.de, Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit) veröffentlichte Ergebnisse eines internationalen Symposiums vom November 2001 kommt das Bundessozialgericht zu dem Schluss, dass der für die Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen erforderliche wissenschaftliche Konsens bezüglich des Nutzens einer Behandlung mit Immunglobulinen für die "sekundär-progressive multiple Sklerose" nicht besteht.
Anders lautende Bewertungen bezüglich des Einsatzes von Immunglobulinen bei der Behandlung der multiplen Sklerose betreffen durchweg die - bei dem Kläger ausweislich der vorgelegten fachärztlichen Bescheinigung vom 23. September 2004 nicht gegebenen - Krankheitsform bzw. das Krankheitsstadium der "schubförmigen" multiplen Sklerose (vgl. Veröffentlichung der Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft vom 19. Dezember 2005 unter www.dmsg.de; Stellungnahme des Paul-Ehrlich-Instituts unter www.pei.de; Sozialgericht Berlin, Urteil vom 12. April 2005, S 81 KR 323/99; Urteil des Bundessozialgerichts, a.a.O.). Dies gilt sowohl für das Vergleichsprotokoll des Landessozialgerichts vom 21.3.2007 (L 4 KR 15/03) als auch für die seitens des Klägers mit Schriftsatz vom 14.12.2006 vorgelegte Entscheidung des Sozialgerichts Berlin (U. v. 12.4.2005, S 81 KR 323/99) als auch für mit diesem Schriftsatz vorgelegten weiteren Unterlagen, die - auch im Rahmen der "verlaufsmodifizierenden Therapie - stets auf einen schubförmigen Krankheitsverlauf vor Eintritt einer sekundären Progredienz abstellen. Dabei wird der nach Diagnose des behandelnden Arztes beim Kläger gegebene Umstand, dass der Krankheitsverlauf einer sekundär progredienten Multiplen Sklerose von "Schüben" begleitet sein kann, in den Blick genommen, ohne hieran eine differenzierende Bewertung der Immunglobulintherapie anzuknüpfen.
Die in der Verwaltungsrechtsprechung (vergleiche OVG Lüneburg, U. v. 10.11.1998, IÖD 1999, 189 in Übernahme der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, U. v. 29.6.1995, 2 C 15.94, DÖV 1996, 37; U. v. 18.6.1998, 2 C 24.97, NJW 1998, 3436) entwickelten engen Voraussetzungen für die Annahme einer Beihilfefähigkeit von Aufwendungen für wissenschaftlich nicht allgemein anerkannte Behandlungsmethoden sind nach dem vorstehend dargelegten Stand medizinischer Erkenntnisse nicht gegeben. Eine solche Verpflichtung zur Beihilfegewährung besteht danach dann, wenn sich eine wissenschaftlich allgemein anerkannte Methode für die Behandlung einer bestimmten Krankheit noch nicht herausgebildet hat, wenn im Einzelfall das anerkannte Heilverfahren nicht angewendet werden darf oder wenn ein solches bereits ohne Erfolg eingesetzt worden ist. Weitere Voraussetzung der Beihilfefähigkeit ist, dass die wissenschaftlich noch nicht allgemein anerkannte Behandlungsmethode nach einer medizinischen Erprobungsphase entsprechend dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft noch wissenschaftlich allgemein anerkannt werden kann. Diese Aussicht auf wissenschaftliche Anerkennung besteht jedoch nicht bereits deshalb, weil eine Methode wissenschaftlich nicht endgültig verworfen worden ist und eine Anerkennung in Zukunft noch in Betracht kommen könnte. Vielmehr ist Voraussetzung, dass nach dem Stand der Wissenschaft die begründete Erwartung auf wissenschaftliche Anerkennung besteht. Zumindest ist erforderlich, dass bereits wissenschaftliche, nicht auf Einzelfälle beschränkte Erkenntnisse vorliegen, die attestieren, dass die Behandlungsmethode zur Heilung der Krankheit oder zur Linderung von Leidensfolgen geeignet ist und wirksam eingesetzt werden kann. Eine solche begründete Erwartung auf wissenschaftliche Anerkennung besteht nach den dargelegten fachmedizinische Erkenntnissen bezüglich des Einsatzes von Immunglobulinen zur Behandlung der attestierten "Multiplen Sklerose mit sekundär chronisch-progredienten Verlauf" gerade nicht.