Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 25.08.2015, Az.: 1 Ws 233/15

Fehlende Erforderlichkeit des Ausdrucks einer vollständigen elektronischen Akte

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
25.08.2015
Aktenzeichen
1 Ws 233/15
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 29677
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGBS:2015:0825.1WS233.15.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Braunschweig - 21.07.2015

Fundstellen

  • JurBüro 2016, 82-84
  • MMR 2016, 565-566
  • NStZ 2016, 6
  • RVGreport 2016, 97-98
  • StRR 2016, 8-10

Amtlicher Leitsatz

1. Die Kosten für Abschriften, Ausdrucke und Ablichtungen gehören zu den allgemeinen Geschäftskosten eines Rechtsanwalts und sind daher nur eingeschränkt erstattungsfähig.

2. Der Ausdruck einer vollständigen elektronischen Akte, die dem Rechtsanwalt zur dauerhaften Nutzung überlassen wurde, ist grundsätzlich nicht erforderlich. Wenn die elektronischen Akten durch Ordner und Verzeichnisse übersichtlich gestaltet sind und nach gewünschten Informationen deshalb gezielt gesucht werden kann, ist dem Verteidiger die Arbeit mit ihnen am Computerbildschirm zuzumuten.

Tenor:

1. Das Sache wird wegen grundsätzlicher Bedeutung dem Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen (Entscheidung der Einzelrichterin).

2. Die Beschwerde der Pflichtverteidigerin gegen den Beschluss des Landgerichts B. vom 21. Juli 2015 wird als unbegründet verworfen.

3. Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei; Auslagen werden nicht erstattet.

Gründe

I.

Die Beschwerdeführerin (nachfolgend: Pflichtverteidigerin) verteidigte den Angeklagten in dem oben genannten Strafverfahren seit dem 19. Dezember 2014 und ist ihm seit dem 26. Januar 2015 als Pflichtverteidigerin beigeordnet (Bl. 166 Bd. II d. A.). Mit Verfügung vom 29. Dezember 2014 wurden ihr von der Staatsanwaltschaft sowohl zwei Bände und vier Sonderhefte in Form von Viertakten als auch ein elektronisches Aktendoppel der Gefangenen-Personalakten des Angeklagten - dieses zum Verbleib - übersandt (Bl. 70 f. Bd. II d. A.). Sie reichte lediglich die Viertakten zurück (Bl. 125 Bd. II d. A.). Die Hauptverhandlung vor der 4. Großen Strafkammer des Landgerichts B. fand am 15., 23. und 24. April 2015 statt.

Mit Schriftsatz vom 29. April 2014 (Bl. 69 f. Bd. III d. A.) bat die Pflichtverteidigerin das Landgericht B., die nachstehenden Verfahrensgebühren festzusetzen und anzuweisen:

1.

Verfahrensgebühr mit Haftzuschlag, Nr. 4112 + 4113 VV RVG

180,00 €

2.

Terminsgebühr vor der Strafkammer mit Haftzuschlag für vier Sitzungstage, Nr. 4114 + 4115 VV RVG

1.248,00 €

3.

Zuschlag bei Dauer von 5 - 8 Stunden, Nr. 4116 VV RVG

256,00 €

4.

Auslagenpauschale, Nr. 7002 VV RVG

20,00 €

5.

Fotokopiekosten (2622 Kopien), Nr. 7000 VV RVG

410,80 €

6.

19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV RVG

401,81 €

Gesamtbetrag

2.516,61 €

Mit Beschluss vom 26. Mai 2015 setzte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle des Landgerichts B. die an die Pflichtverteidigerin zu zahlenden Gebühren auf 1.656,48 € fest. Da lediglich drei Sitzungstage stattgefunden hatten, setzte sie eine Terminsgebühr mit Zuschlag in Höhe von 312,- € ab. Zudem setzte sie die beantragten Fotokopiekosten ab und bat um nähere Erläuterung zur Anzahl der gefertigten Kopien (Bl. 69a Bd. III d. A.).

Mit Schriftsatz vom 5. Juni 2015 legte die Pflichtverteidigerin "das zulässige Rechtsmittel" gegen den vorgenannten Beschluss ein (Bl. 92 Bd. III d. A.). Mit weiterem Schriftsatz vom 30. Juni 2015 führte sie aus, dass sie sämtliche auf der CD befindlichen Dateien/Schriftstücke, welche unter anderem auch für die Überprüfung der Sicherungsverwahrung und eines Gutachtens wichtig gewesen seien, ausgedruckt habe. Es könne ihr nicht zugemutet werden, eine derart hohe Informationsmenge auf einer CD mit einem Akteninhalt von über 2600 Seiten am Computer durchzuarbeiten. Die Absetzung der Terminsgebühr für einen vierten Sitzungstag beanstandete sie nicht (Bl. 93 Bd. III d. A.)

Nach der Stellungnahme des Bezirksrevisors vom 13. Juli 2015 (Bl. 94 Bd. III d. A.) wies das Landgericht B. mit Beschluss vom 21. Juli 2015 die Erinnerung der Pflichtverteidigerin als unbegründet zurück (Bl. 97 - 100 Bd. III d. A.).

Gegen diesen Beschluss, welcher der Pflichtverteidigerin am 27. Juli 2015 zugestellt wurde, wendet sie sich mit ihrer Beschwerdeschrift vom 5. August 2015, die einen Tag später beim Landgericht eingegangen ist (Bl. 105 Bd. III d. A.). Zur Begründung hat sie unter anderem ausgeführt, dass sie es als nicht zumutbar empfinde, die gesamte Akte auf dem Bildschirm zu lesen und dadurch benachteiligt sei, dass dem Gericht die Akten in Papierform vorlägen. Zudem sei die Mitnahme eines Laptops - über den sie zudem nicht verfüge - in vielen Justizvollzugsanstalten untersagt, so dass sie den Akteninhalt mit ihren dort befindlichen Mandanten ohne entsprechende Ausdrucke nicht besprechen könne. Außerdem sei im Falle eines Stromausfalls bzw. bei leerem Akku eine angemessene Verteidigung nicht möglich. Darüber hinaus beständen bei der Nutzung eines PC bzw. Laptops erhebliche Sicherheitsrisiken.

Das Landgericht B. hat der Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache dem Senat zur Entscheidung vorgelegt (Bl. 107 Bd. III d. A.).

II.

1. Die Entscheidung zur Übertragung der Sache auf den Senat beruht auf § 56 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 33 Abs. 8 RVG. Danach überträgt der Einzelrichter das Verfahren dem Senat, wenn die Sache besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist oder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Letzteres ist vorliegend der Fall, weil die Frage, ob und inwieweit einem Pflichtverteidiger Kosten für den Ausdruck einer digitalen Verfahrensakte, die ihm dauerhaft zur Verfügung steht, zu erstatten sind, in der obergerichtlichen Rechtsprechung nicht einheitlich beurteilt wird und der Senat diese Frage bislang nicht zu beantworten hatte.

2. Die gemäß § 56 Abs. 2 i. V. m. § 33 Abs. 3 - 8 RVG zulässige Beschwerde, über die der Senat nach Übertragung der Sache durch den Einzelrichter wegen grundsätzlicher Bedeutung in der Besetzung mit drei Richtern entscheidet, hat in der Sache keinen Erfolg.

Der Pflichtverteidigerin steht der von ihr mit der Beschwerde geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch bezüglich der Anfertigung von 2622 Ausdrucken aus § 46 RVG i. V. m. Nr. 7000 Nr. 1 lit. a VV RVG nicht zu.

a) Gemäß Nr. 7000 Ziff. 1. lit. a) VV RVG kann der Rechtsanwalt die Pauschale für Ausdrucke aus Gerichtsakten gegenüber der Staatskasse nur in Rechnung stellen, soweit deren Herstellung zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache geboten war. Dabei sind nur solche Auslagen erstattungsfähig, die der Pflichtverteidiger nach der Bestellung tatsächlich getätigt hat (vgl. Hartmann, Kostengesetze, 45. Auflage 2015, § 46 Rn. 3, 12 RVG; Ebert, in: Mayer/Kroiß, RVG, 6. Auflage 2013, § 46 Rn. 4, 17; Schneider, in: Schneider/Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht, RVG § 46, Rn. 2 und 3). Daraus folgt, dass anders als in § 46 Abs. 1 RVG die Darlegungs- und Beweislast für die Geltendmachung des Anspruchs nach Nr. 7000 VV RVG beim Rechtsanwalt als Antragsteller liegt (vgl. OLG Rostock, Beschluss vom 4. August 2014, Az.: 20 Ws 193/14 - Rn. 14). Die Pflichtverteidigerin hat nicht dargelegt, ob sie die Ausdrucke aus der elektronischen Akte vor oder nach ihrer Bestellung am 26. Januar 2015 angefertigt hat, so dass dies nicht nachvollzogen werden kann. Deshalb scheidet ein Anspruch der Pflichtverteidigerin bereits aus diesem Grund aus.

b) Davon unabhängig würde ein Anspruch der Pflichtverteidigerin gegenüber der Staatskasse auch deshalb ausscheiden, weil die Anfertigung der Ausdrucke zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache nicht geboten gewesen wäre.

Aus der Vorbemerkung Ziffer 7 VV ergibt sich, dass mit den Gebühren auch die allgemeinen Geschäftskosten entgolten werden, so dass der Rechtsanwalt diese nicht gesondert in Rechnung stellen darf. Auch die Kosten für Abschriften, Ausdrucke und Ablichtungen gehören zu diesen allgemeinen Geschäftskosten, so dass der Rechtsanwalt ihre Erstattung nicht uneingeschränkt, sondern nur unter den Voraussetzungen von Nr. 7000 VV RVG verlangen kann (vgl. Kotz, in: Schneider/Volpert/Fölsch, aaO., RVG VV RVG Nr. 7000 Rn. 2). Ob die Herstellung der Kopien bzw. Ausdrucke zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache i. S. d. Nr. 7000 Ziff. 1. lit. a) VV RVG geboten ist, bestimmt sich nicht nach der subjektiven Ansicht des Rechtsanwalts, sondern nach dem objektiven Standpunkt eines vernünftigen sachkundigen Dritten, wobei der Rechtsanwalt allerdings einen eher großzügigen Ermessensspielraum hat, den er pflichtgemäß zu handhaben hat (Hartmann, aaO., 7000 VV Rn. 6; Kroiß, in: Mayer/Kroiß, aaO., RVG Nr. 7000 - 7002 VV Rn. 5).

Ob ein Ausdruck einer vollständigen elektronischen Akte, die dem Rechtsanwalt dauerhaft zur Verfügung steht, nach dem objektiven Standpunkt eines vernünftigen sachkundigen Dritten geboten ist, wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung uneinheitlich beantwortet.

Nach der wohl vorherrschenden Meinung ist der Ausdruck einer vollständigen elektronischen Akte grundsätzlich nicht erforderlich, weil der Rechtsanwalt durch die Nutzung entsprechender Hard- und Software jederzeit auf die Akten Zugriff nehmen kann und ihm dies auch im Hinblick darauf, dass die Arbeit am Computerbildschirm inzwischen zum Berufsalltag gehört, zumutbar ist (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 11. Dezember 2009, Az.: 2 Ws 496/09 - Rn. 5; OLG Rostock, aaO., Rn. 16 - 23; OLG München, Beschluss vom 3. November 2014, Az.: 4c Ws 18/14 - Rn. 42 - 44; LG Osnabrück, Beschluss vom 5. Dezember 2014, Az.: 2 KLs 1/14 - Rn. 5). Teilweise wird weiter differenziert, dass dem Rechtsanwalt zwar zuzumuten sei, sich mit Hilfe der elektronischen Akte in den Sachverhalt einzuarbeiten, er dann aber entscheiden dürfe, welche (zentralen) Aktenbestandteile für die Verteidigung auch in Papierform benötigt würden; ein Anspruch auf Ausdruck der kompletten elektronischen Akte zum Zwecke der sachgerechten Verteidigung sei nicht anzuerkennen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22. September 2014, Az.: 1 Ws 247/14, 1 Ws 283/14 - Rn. 29; Hartmann, aaO., Rn. 10).

Nach der gegenteiligen Ansicht sei es dem Rechtsanwalt grundsätzlich nicht zuzumuten, die relevanten Informationen für die sachgemäße Bearbeitung der Rechtssache am Computerbildschirm zusammenzusuchen, so dass der Ausdruck der kompletten Akte erstattungsfähig sei (vgl. Müller-Rabe, in: Gerold/Schmidt, RVG, 21. Auflage, 7000 VV Rn 58); es müsse dem Rechtsanwalt in der Regel selbst überlassen bleiben, ob er mit einer elektronischen Akte oder mit einer Papierakte arbeite (vgl. Schmidt, in: Burhoff, RVG in Straf- und Bußgeldsachen, 4. Auflage, Nr. 58). Dies wird teilweise dahingehend eingeschränkt, dass lediglich bei einem weit überdurchschnittlichen Aktenumfang die Fertigung eines vollständigen Aktenausdrucks zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache geboten sei (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 28. November 2011, Az.: 1 Ws 415 - 418/11 - Rn. 10; LG Duisburg, Beschluss vom 28. April 2014, Az.: 34 KLs 143 Js 193/10 - 15/13 - Rn. 2).

Der Senat schließt sich bezüglich der Beantwortung dieser Rechtsfrage der wohl vorherrschenden Meinung an. Die Herstellung von 2622 Ausdrucken aus der elektronischen Gefangenenpersonalakte wäre vorliegend nicht erforderlich gewesen. Den von der Pflichtverteidigerin angeführten Gründen, weshalb ein kompletter Ausdruck der elektronischen Akten zur sachgerechten Verteidigung ihres Mandanten geboten sei, vermag der Senat nicht zu folgen. Es ist ihr durchaus zumutbar, eine Textdatei mit 2622 Seiten am Computerbildschirm durchzuarbeiten, zumal die Akten in ihrer digitalisierten Form durch Ordner und Verzeichnisse derart übersichtlich gestaltet sind, dass Informationen gezielt herausgesucht werden können. Da die Kanzlei der Pflichtverteidigerin die elektronische Akte ausgedruckt hat, ist dort offensichtlich eine Software zum Öffnen und Lesen der Dokumente vorhanden. Die Pflichtverteidigerin hat auch nicht vorgetragen, dass sie nicht in der Lage sei, mit elektronischen Dokumenten zu arbeiten. Dass sie über keinen Laptop verfüge, den sie zu den Hauptverhandlungsterminen mitbringen könnte, und ein solcher ohnehin mangels Strom bzw. Akkukapazitäten abstürzen könnte, lässt das Arbeiten mit einer elektronischen Akte ebenfalls nicht als unzumutbar erscheinen. Im Hinblick darauf, dass die elektronische Akte demnächst im Justizbereich eingeführt werden wird und im hiesigen Oberlandesgerichtsbezirk bereits als "elektronische Doppelakte" erprobt wird, ist die Anschaffung eines Notebooks ohnehin für eine adäquate Berufsausübung i. S. d. § 5 BORA bereits zum jetzigen Zeitpunkt erforderlich. Auch Richter nutzen bereits Notebooks in den Hauptverhandlungen. Um die Sicherheit der Daten zu gewährleisten, gibt es entsprechende Programme, die eine etwaige Schadsoftware und nichtautorisierte Zugriffe erkennen und ggf. verhindern. Die heute erhältlichen Notebooks verfügen zudem über genügend Akkuspeicherkapazität, um selbst während langer Sitzungstage dauerhaft genutzt werden zu können. Außerdem sind die Gerichtssäle mit Steckdosen ausgestattet, an denen Notebooks für den Dauerbetrieb angeschlossen und ggf. auch aufgeladen werden können. Schließlich darf einem Verteidiger, der die für die Mandantengespräche erforderlichen Unterlagen auf einem Notebook eingespeichert hat, regelmäßig die Mitnahme eines solchen Geräts (ohne Netzwerkkarte und Zusatzgeräte) zu Unterredungen mit dem Mandanten in der Justizvollzugsanstalt nicht verwehrt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2003, Az.: 2 BGs 315/13 - Orientierungssatz und Rn. 5; Lüderssen/Jahn, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Auflage, § 148 Rn. 13).

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 56 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 RVG.