Versionsverlauf

Pflichtfeld

  • ab 23.12.2022 (aktuelle Fassung)

Anlage PolLLJuRdErl - Leitlinien für die polizeiliche Bearbeitung von Jugendsachen in Niedersachsen

Bibliographie

Titel
Leitlinien für die polizeiliche Bearbeitung von Jugendsachen in Niedersachsen
Redaktionelle Abkürzung
PolLLJuRdErl,NI
Normtyp
Verwaltungsvorschrift
Normgeber
Niedersachsen
Gliederungs-Nr.
21132
g_ni_1097_as_1.gif

Hannover, 22. Dezember 2022

Inhalt(1)

1Vorbemerkung
2Geltungsbereich
3Zuständigkeiten
3.1Örtliche Zuständigkeit
3.1.1Häuser des Jugendrechts
3.1.2Wohnort von Beschuldigten und Tatverdächtigen in anderen Bundesländern
3.1.3Bearbeitung von Fällen durch die Bundespolizei
3.2Sachliche Zuständigkeit
3.2.1Zuständigkeit für Junge Schwellen- und Intensivtäterinnen und Schwellen- und Intensivtäter
3.2.2Häusliche Gewalt
3.2.3Abweichende Zuständigkeiten/Ausnahmen
3.2.4Vermisste
3.2.5Verkehrsdelikte
3.2.6Jugendsachbearbeitung in Polizeistationen
3.2.7Verfahren mit minderjährigen und heranwachsenden Geschädigten, Opfern und Zeugen
3.2.8Personenorientierte Ermittlungen bei jungen Täterinnen und Tätern
4Jugendstrafverfahren
4.1Einbindung von Erziehungsberechtigten, gesetzlichen Vertreterinnen und Vertretern sowie der Jugendgerichtshilfe
4.1.1Stellung der Erziehungsberechtigten und der gesetzlichen Vertreterinnen und Vertreter
4.1.2Jugendgerichtshilfe
4.2Unterrichtung
4.3Belehrung
4.4Fall der notwendigen Verteidigung
4.5Zeitpunkt der Bestellung einer Pflichtverteidigung
4.6Vernehmungen von Beschuldigten und Tatverdächtigen
4.6.1Audiovisuelle Vernehmungen
4.7Junge Schwellen- und Intensivtäterinnen und Schwellen- und Intensivtäter
4.8Diversion
4.9Erzieherisches Gespräch
4.10Opferorientierung
4.11Täter-Opfer-Ausgleich
4.12Verfahrensbeschleunigung
4.12.1Vereinfachtes Jugendverfahren
4.12.2Beschleunigtes Verfahren
4.12.3Vereinfachtes Ermittlungsverfahren bei minderschweren Delikten
4.13Jugendamtsbericht
5Prävention, Jugendschutz und Jugendgefährdung
5.1Präventionsauftrag
5.2Gefahrenabwehr in originärer Zuständigkeit
5.2.1Inobhutnahme i. S. d. Niedersächsischen Polizei- und Ordnungsbehördengesetzes
5.2.2Gefährderansprache und -anschreiben
5.2.3Fahndung nach vermissten Minderjährigen
5.3Zusammenarbeit mit anderen Institutionen
5.3.1Zusammenarbeit mit Schulen
5.3.2Jugendschutz - Jugendhilfe
5.4Datenschutz
6Aufgabenwahrnehmung
6.1Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter Jugendsachen
6.2Leitung Fachkommissariat/Aufgabenfeld Jugend (FK 6/AF 4)
6.3Beauftragte für Jugendsachen (BfJ)
6.4Zentralstelle Jugendsachen und Landesbeauftragte oder Landesbeauftragter für Jugendsachen (LBfJ) im LKA Niedersachsen
6.5Polizeiakademie Niedersachsen (PA)
7Pressearbeit
8Schlussbestimmungen

Die Inhaltsübersicht wurde redaktionell angepasst.

Leitlinien für die polizeiliche Bearbeitung von Jugendsachen in Niedersachsen

RdErl. d. MI vom 22.12.2022- 23.15-51603/6

im Einvernehmen mit dem MJ, dem MK und dem MS

1 Vorbemerkung

Kriminologische Erkenntnisse und Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik belegen, dass delinquentes Verhalten in der Gruppe der jungen Menschen häufiger in Erscheinung tritt als in anderen Altersgruppen.

Die vielfältigen Erscheinungsformen der Delinquenz junger Menschen, die in jugendtypische, episoden- und bagatellhafte Verfehlungen einerseits und schwerwiegendere, lang andauernde und intensive Delinquenz andererseits unterschieden werden können, haben in der öffentlichen Diskussion stets einen besonders hohen Stellenwert. Immer wieder stehen besonders auffällige Gewalttaten von Minderjährigen bzw. Heranwachsenden im Blickpunkt der Medien.

Als Jugendkriminalität werden strafrechtlich relevante Verstöße junger Menschen im Alter von 14 Jahren bis unter 21 Jahren bezeichnet. Hintergrund ist der Altersrahmen des Jugendstrafrechts, das auf Jugendliche ab 14 bis unter 18 Jahren sowie - unter bestimmten Voraussetzungen - auch auf Heranwachsende ab 18 bis unter 21 Jahren angewendet werden kann.

Gemäß § 2 Jugendgerichtsgesetz (JGG) soll die Anwendung des Jugendstrafrechts vor allem dem Begehen erneuter Straftaten durch Jugendliche oder Heranwachsende entgegenwirken. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen einer Tat und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das gesamte Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten.

Hier kommt der Polizei eine besondere Rolle zu, denn sie ist in Fällen der ubiquitären, episodenhaften Delinquenz junger Menschen in der Regel der erste und einzige Berührungspunkt von Jugendlichen, Heranwachsenden und auch Kindern mit einer Strafverfolgungsbehörde. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass polizeiliche Maßnahmen und Kontakte mit der Polizei Auswirkung auf zukünftiges Verhalten junger Menschen haben.

Gerade dann, wenn junge Menschen anlässlich eines normabweichenden Verhaltens Kontakt mit Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten haben, ist es wichtig, dass von diesen die gesellschaftlichen Werte und Normen angemessen und entwicklungsgerecht verdeutlicht werden. Die ersten Kontakte mit Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten sind insofern auch eine Chance, die Einstellungen junger Menschen zur Polizei und damit deren zukünftiges Verhalten auch gegenüber anderen staatlichen Institutionen sowie den von diesen repräsentierten gesellschaftlichen Grundwerten positiv zu beeinflussen.

Eine gute polizeiliche Bearbeitung von Jugendsachen berücksichtigt wissenschaftliche und pädagogische Erkenntnisse und reagiert auf gesellschaftliche Entwicklungen. Es gilt, episodenhaftem Tatverhalten, aber auch intensiver Delinquenz junger Menschen angepasste Maßnahmen entgegenzusetzen. Die Leitlinien für die polizeiliche Bearbeitung von Jugendsachen regeln vor diesem Hintergrund die Verfahrensabläufe der niedersächsischen Polizei.

2 Geltungsbereich

Diese Leitlinien regeln die polizeiliche Bearbeitung von Jugendsachen für die niedersächsische Landespolizei.

Jugendsachen sind gemäß Polizeidienstvorschrift (PDV) 382 sämtliche polizeilichen Vorgänge, an denen Minderjährige beteiligt sind sowie polizeiliche Ermittlungsvorgänge in Straf- und Bußgeldverfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende, einschließlich von Verfahren, bei denen Kinder verdächtig sind, eine rechtswidrige Tat begangen zu haben.

3 Zuständigkeiten

3.1
Örtliche Zuständigkeit

Für die Ermittlungen in Jugendsachen gilt grundsätzlich das Wohnortprinzip.

3.1.1
Häuser des Jugendrechts

Zur Förderung der intensiven und effektiven Zusammenarbeit in Ermittlungs- und Strafverfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende wurden in Niedersachsen sogenannte Häuser des Jugendrechts eingerichtet. Durch diese besonders enge Kooperation der am Jugendverfahren beteiligten Institutionen und das gesteigerte gegenseitige Verständnis der jeweiligen Aufgabenfelder soll einer Delinquenz von Jugendlichen und Heranwachsenden und insbesondere der Entwicklung krimineller Karrieren junger Menschen in besonderem Maße entgegengewirkt werden.

An den verschiedenen Standorten der "Häuser des Jugendrechts" kann es, über die Leitlinien hinaus, individuelle Regelungen auf örtlicher Ebene geben.

3.1.2
Wohnort von Beschuldigten und Tatverdächtigen in anderen Bundesländern

Richtet sich das Verfahren gegen jugendliche oder heranwachsende Beschuldigte oder Tatverdächtige, die ihren Wohnort in einem anderen Bundesland haben, sind die Verfahren an die örtlich zuständige Staatsanwaltschaft zu übersenden. Dort erfolgt die Entscheidung, ob das Verfahren an die für den Wohnort von Beschuldigten oder Tatverdächtigen zuständige Staatsanwaltschaft abzugeben ist.

3.1.3
Bearbeitung von Fällen durch die Bundespolizei

Die Bundespolizei führt Strafverfahren gegen Minderjährige und Heranwachsende grundsätzlich gemäß Bundespolizeigesetz (BPolG) in originärer Zuständigkeit selbst durch. Die in Niedersachsen zuständigen Bundespolizeidienststellen informieren die zuständigen Fachkommissariate (FK) und Aufgabenfelder (AF) Jugend über entsprechende Vorgänge und stimmen ggf. die weitere Verfahrensweise ab. In Fällen von mehrfach auffälligen Tatverdächtigen (Schwellen- und Intensivtäterinnen und Schwellen- und Intensivtäter) kann ein Ermittlungsverfahren direkt an die nach dem Wohnortprinzip zuständige Dienststelle der Landespolizei abgegeben werden, wenn diese im Zusammenhang mit weiteren Straftaten stehen und das Schwergewicht der Straftaten insgesamt im Zuständigkeitsbereich der Landespolizei liegt. Die Staatsanwaltschaft kann in Zweifelsfällen die zuständige Polizeibehörde bestimmen. (§ 12 Abs. 3 BPolG)

3.2
Sachliche Zuständigkeit

Die polizeiliche Jugendsachbearbeitung bezieht sich auf Verfahren gegen Kinder, Jugendliche und Heranwachsende oder Personen, bei denen nicht zweifelsfrei bewiesen ist, dass sie über 18 Jahre alt sind (§ 1 Abs. 3 JGG). Darüber hinaus beziehen sich Jugendsachen gemäß Ziffer 2 der PDV 382 auch auf den Bereich der Gefahrenabwehr und damit der Gefährdung Minderjähriger. Für polizeiliche Jugendsachen sind grundsätzlich die FK 6 am Sitz der Polizeiinspektionen und die AF 4 der Polizeikommissariate zuständig. Sofern Straftaten durch Gruppen heterogener Altersstruktur begangen werden, denen auch Personen im Alter über 21 Jahren angehören, erfolgt die Zuweisung der Sachbearbeitung nach den Erfordernissen des Einzelfalls. Fälle mit unbekannten Täterinnen oder Tätern, bei denen bestimmte Umstände (z. B. Personenbeschreibung) auf eine Begehung durch Minderjährige oder Heranwachsende hindeuten, sind u. H. a. die in diesen Leitlinien genannten Ausnahmen in den für Jugendsachen zuständigen Organisationseinheiten zu bearbeiten.

3.2.1
Zuständigkeit für Junge Schwellen- und Intensivtäterinnen und Schwellen- und Intensivtäter

Die Bearbeitung von Verfahren gegen minderjährige und heranwachsende Schwellen- und Intensivtäterinnen und Schwellen- und Intensivtäter (JuSIT) obliegt dem FK 6 bzw. dem örtlich zuständigen AF 4. Sofern im Einzelfall besondere Fachkenntnisse erforderlich sind und kriminalistische oder ermittlungstaktische Erwägungen für eine andere Ermittlungsführung sprechen (z. B. Politisch motivierte Kriminalität), ist dies mit dem am Wohnort der oder des Beschuldigten zuständigen Zentralen Kriminaldienstes (ZKD) abzustimmen.

3.2.2
Häusliche Gewalt

Bei der Bearbeitung von Fällen häuslicher Gewalt sind die in der "Handreichung für die Polizei zum Umgang mit häusliche Gewalt" in der jeweils aktuellen Auflage formulierten Verfahrens- und Bearbeitungshinweise zu beachten.

3.2.3
Abweichende Zuständigkeiten/Ausnahmen

Soweit über die Bearbeitung von Jugendsachen hinausgehende Spezialkenntnisse im Einzelfall erforderlich sind, erfolgt die Sachbearbeitung in dem jeweils zuständigen Aufgabenfeld oder Fachkommissariat unter ggf. personeller Beteiligung des AF 4 bzw. des FK 6. Dies dürfte insbesondere der Fall sein bei

  • Delikten gemäß § 74 Abs. 2 Gerichtsverfassungsgesetz (Kapitaldelikte),

  • gewerbsmäßigem Vorgehen der Täterinnen oder Täter,

  • Vorliegen einer Bandenstruktur, bzw. einer komplexen kriminellen Struktur,

  • Clankriminalität,

  • schwerwiegenden Sexualdelikten

  • vorsätzlicher Brandstiftung,

  • Betäubungsmittelhandel,

  • Cybercrime im engeren Sinne,

  • Delikten der politisch motivierten Kriminalität,

  • Vermisstenfällen (Ziffer 3.2.4) und

  • Verkehrsdelikten (Ziffer 3.2.5).

Entsprechende Vorgänge sind vor Abgabe an die Staatsanwaltschaft zur Information an die FK 6 bzw. die AF 4 zu übersenden.

Die Leitungen der FK 6 und AF 4 informieren die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter der übrigen Fachkommissariate bzw. Aufgabenfelder im Rahmen der regelmäßigen dienststellenbezogenen Informationsaustauschformate über die Besonderheiten der polizeilichen Jugendsachbearbeitung.

3.2.4
Vermisste

Bei Minderjährigen, die ihren gewohnten Lebenskreis verlassen haben und deren Aufenthalt unbekannt ist, muss grundsätzlich eine Gefahr für Leib oder Leben angenommen werden, solange Erkenntnisse oder Ermittlungen nichts Anderes ergeben (PDV 389). Darüber hinaus gelten sie auch dann als vermisst, wenn sie sich in Folge einer Kindesentziehung an einem bekannten Ort im Ausland aufhalten. Die Bearbeitung dieser Fälle erfolgt in den AF 1 1 bzw. FK 1 2.

Die Bearbeitung minderjähriger "Abgängiger", bei denen aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse nicht von einer Gefährdungslage auszugehen ist (z. B. wiederholt Abgängige aus Heimeinrichtungen) obliegt dagegen den AF 4 bzw. den FK 6. In Zweifelsfällen sind die AF 1 bzw. die FK 1 zuständig.

Heranwachsende gelten im Sinne der PDV 389 nur dann als vermisst, wenn sie ihren gewohnten Lebenskreis verlassen haben, ihr Aufenthalt unbekannt ist und für sie eine Gefahr für Leib oder Leben angenommen werden kann, z. B. als Opfer einer Straftat, bei einem Unglücksfall, bei Hilflosigkeit oder Selbsttötungsabsicht. Die Bearbeitung solcher Fälle obliegt den AF 1 bzw. FK 1. Eine Hinzuziehung der AF 4 bzw. FK 6 ist zu erwägen, wenn dort aufgrund vorheriger Ereignisse und Verfahren besondere Kenntnisse über die betroffene Heranwachsende oder den betroffenen Heranwachsenden vorliegen.

3.2.5
Verkehrsdelikte

Verkehrsstraftaten Minderjähriger und Heranwachsender werden nach Wohnortprinzip im FK 7 3 oder im AF 5 bearbeitet. Das FK 6 bzw. AF 4 ist nur zuständig, wenn eine besondere kriminelle Energie, die Gefahr der Entwicklung einer kriminellen Karriere oder ein Tatzusammenhang mit einem bereits dort bearbeiteten oder in der Bearbeitung befindlichen Delikt erkennbar ist.

Verkehrsunfälle (auch inkl. der damit ggf. verbundenen Straftaten) werden nach dem Tatortprinzip durch das für den Verkehrsunfallort zuständige FK 7 bzw. AF 5 bearbeitet. Zu beachten ist hier im Kontext des Vereinfachten Ermittlungsverfahren (VEV) bei minderschweren Delikten auch die Ziffer 4.12.3.

3.2.6
Jugendsachbearbeitung in Polizeistationen

Die Bearbeitung polizeilicher Ermittlungsvorgänge in Straf- und Bußgeldverfahren gegen Kinder, Jugendliche und Heranwachsende kann auch auf der Ebene von Polizeistationen erfolgen, sofern fortgebildete Jugendsachbearbeiterinnen und Jugendsachbearbeiter zur Verfügung stehen. Verfahren mit jungen Schwellen- und Intensivtäterinnen und Schwellen- und Intensivtätern sind nicht auf Ebene der Polizeistationen zu bearbeiten; diese sollten jedoch bedarfsorientiert einbezogen werden.

3.2.7
Verfahren mit minderjährigen und heranwachsenden Geschädigten, Opfern und Zeugen

Soweit im Rahmen von Ermittlungsverfahren Personen im Alter von unter 21 Jahren ausschließlich als Geschädigte, Opfer oder Zeugen betroffen sind, begründet dies keine originäre Zuständigkeit der Organisationseinheiten für die Bearbeitung von Jugendsachen (FK 6/AF 4). Eine Beteiligung dieser Organisationseinheiten, gerade im Hinblick auf die Anhörung oder Vernehmung von kindlichen und jugendlichen Zeugen, bleibt unbenommen.

3.2.8
Personenorientierte Ermittlungen bei jungen Täterinnen und Tätern

Für sämtliche Jugendsachen, die sich gegen minderjährige und heranwachsende Beschuldigte, Tatverdächtige oder Betroffene richten, gilt grundsätzlich der deliktsübergreifende und täterinnen- und täterorientierte Ansatz. Daher sind Fälle mit denselben Tatverdächtigen und Betroffenen im FK 6 oder AF 4 grundsätzlich denselben Ermittlungspersonen zuzuordnen (Paten- und Betreuungsprinzip).

4 Jugendstrafverfahren

Im Jugendstrafverfahren soll stets eine Vernetzung sämtlicher Akteurinnen und Akteuren angestrebt werden. Dazu gehören auch regelmäßige Besprechungen, das Wissen um Ansprechpersonen sowie eine frühzeitige gegenseitige Information und Beteiligung. Ermittlungen in Jugendsachen sind im Interesse der Minderjährigen und Heranwachsenden möglichst tatzeitnah durchzuführen.

4.1
Einbindung von Erziehungsberechtigten, gesetzlichen Vertreterinnen und Vertretern sowie der Jugendgerichtshilfe

4.1.1
Stellung der Erziehungsberechtigten und der gesetzlichen Vertreterinnen und Vertreter

Gemäß § 67 JGG stehen den Erziehungsberechtigten und den gesetzlichen Vertreterinnen und Vertretern die gleichen Rechte zu, wie den Beschuldigten. Dies bezieht sich auf die Vorladung, auf Anwesenheitsrechte bei Vernehmungen und Untersuchungshandlungen, sowie auf das Stellen von Anträgen und Fragen. Eine Nichtbeachtung dieser Rechte kann zur Nichtverwertbarkeit von Vernehmungen oder Untersuchungsergebnissen führen.

Es ist im Rahmen von Vernehmungen bei Minderjährigen grundsätzlich erwünscht, dass Erziehungsberechtigte oder gesetzliche Vertreterinnen und Vertreter zugegen sind, damit diese in Kenntnis von Tatvorwurf, Beweislage und Verhalten des Minderjährigen ihrem Erziehungsauftrag gerecht werden können. Dieses sollte bereits mit der Vorladung initiiert werden.

Erziehungsberechtigte und gesetzliche Vertreterinnen und Vertreter können gemäß § 67 Abs. 3 JGG von Untersuchungshandlungen (wie einer Vernehmung) ausgeschlossen werden, wenn ihre Anwesenheit nicht dem Wohl des oder der Jugendlichen dient bzw. ihre Anwesenheit das Strafverfahren beeinträchtigt.

Ein Ausschluss der Erziehungsberechtigten oder gesetzlichen Vertreterinnen und Vertreter wäre gemäß § 67 Abs. 3 S. 2 i. V. m. § 51 Abs. 2 JGG möglich, wenn diese selbst der Tat verdächtig sind oder aufgrund ihrer Anwesenheit eine Gefährdung für Leib, Leben oder Freiheit für die Beschuldigten oder anderen Personen zu befürchten wäre. Gleiches gilt darüber hinaus, wenn die Befürchtung besteht, dass die Ermittlung der Wahrheit durch die Anwesenheit dieser Personen beeinträchtigt wird.

In diesen Fällen ist einer anderen für den Schutz der Interessen der oder des Jugendlichen geeigneten, volljährigen Person die Anwesenheit zu gestatten. Ggf. könnte dieses auch eine Person des Jugendamtes oder der Jugendgerichtshilfe sein. Zudem ist über die Staatsanwaltschaft die Bestellung einer Ergänzungspflegschaft zu prüfen (siehe § 1909 Abs. 1 Satz 1 BGB).

Jugendliche haben gemäß § 67a Abs. 2 - 6 JGG ein Recht darauf, dass ihre Erziehungsberechtigten, ihre gesetzlichen Vertreterinnen und Vertreter oder eine andere geeignete Person den Inhalten des § 70a JGG entsprechend über die zur Last gelegte Tat und den weiteren Gang des Verfahrens informiert werden.

Diesem Recht wird entsprochen, indem die Vorladung über die Erziehungsberechtigten oder ggf. gesetzlichen Vertreterinnen und Vertreter erfolgt und diesem Schreiben das Merkblatt "Informationen über die Grundzüge eines Jugendstrafverfahrens" beigefügt ist.

Grundsätzlich ist es gemäß § 67 Abs. 5 Satz 3 JGG ausreichend, die Vorladung und das Merkblatt an einen Erziehungsberechtigten zu versenden. Bei getrenntlebenden Erziehungsberechtigten sollten diese Formulare möglichst an beide Erziehungsberechtigte versandt werden, damit beide ihrer Erziehungspflicht nachkommen können.

Können aus Gründen des § 67a Abs. 3 JGG weder Erziehungsberechtigte noch gesetzliche Vertreter oder Vertreterinnen informiert und unterrichtet werden, so ist eine andere für den Schutz der Interessen der/des Jugendlichen geeignete, volljährige Person ihres/seines Vertrauens zu unterrichten.

4.1.2
Jugendgerichtshilfe

Eine frühe Information über die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens gegen jugendliche oder heranwachsende Beschuldigte an die Jugendgerichtshilfe (JGH) ist notwendig, da die JGH entsprechend § 38 Abs. 6 JGG grundsätzlich bereits vor Anklageerhebung gegenüber der Staatsanwaltschaft eine Berichtspflicht bezüglich der Persönlichkeit, Entwicklung und der familiären, sozialen und wirtschaftlichen Hintergründe der Jugendlichen oder Heranwachsenden hat.

Die JGH ist insoweit gemäß § 70 Abs. 2 JGG spätestens zum Zeitpunkt der Ladung von jugendlichen oder heranwachsenden Beschuldigten über die Einleitung des Verfahrens zu informieren; die Versendung einer Durchschrift der Vorladung zur Beschuldigtenvernehmung an die JGH ist hierfür geeignet. Erfolgt die Vernehmung ohne vorherige Ladung, ist die JGH unverzüglich nach der Vernehmung zu informieren. Nach Abschluss der polizeilichen Ermittlungen wird der JGH ein Jugendamtsbericht übersandt. 4

Darüber hinaus ist gemäß § 72a JGG die JGH über die vorläufige Festnahme von Jugendlichen und Heranwachsenden zu unterrichten, wenn nach dem Stand der Ermittlungen zu erwarten ist, dass die oder der Jugendliche oder die oder der Heranwachsende gemäß § 128 StPO dem Richter vorgeführt wird. In diesen Fällen ist der JGH ein zwar vorläufiger, aber doch ausführlicher Jugendamtsbericht zu übermitteln.

4.2
Unterrichtung

Jugendliche und Heranwachsende, denen der Beschuldigtenstatus im Strafverfahren eröffnet wird, müssen gem. § 70a Abs. 1 JGG unverzüglich über die Grundzüge des Strafverfahrens und die nächsten Verfahrensschritte informiert werden, sofern der Zweck der Untersuchung dadurch nicht gefährdet wird.

Die erforderlichen Informationen gemäß § 70a Abs. 1, 2 JGG werden den Beschuldigten in Form eines Merkblattes "Informationen über die Grundzüge eines Jugendstrafverfahrens" ausgehändigt und dem Alters- und Entwicklungsstand der oder des Beschuldigten angepasst erläutert.

Wird Untersuchungshaft gegen Jugendliche oder Heranwachsende vollstreckt, so sind diese gemäß § 70a Abs. 3, 4 JGG außerdem darüber zu informieren, dass nach Maßgabe des § 89c JGG die Unterbringung getrennt von Erwachsenen zu erfolgen hat und auch im Fall eines anderen einstweiligen Entzugs der Freiheit als der Untersuchungshaft die in § 70a Abs. 3 Nr. 2a - e JGG genannten Rechte zu gewährleisten sind und die Regelungen des Niedersächsischen Justizvollzugsgesetzes (NJVollzG) und der Polizeigewahrsamsordnung 5 beachtet werden müssen.

Bei Jugendlichen sind die Informationen gem. § 67a Abs. 2 JGG auch an deren Erziehungsberechtigte und gesetzliche Vertreterinnen oder Vertreter zu richten. (Ziffer 4.1.1)

4.3
Belehrung

Die Belehrung jugendlicher und heranwachsender Beschuldigter muss altersgerecht und entsprechend ihres jeweiligen Entwicklungs- und Bildungsstandes erfolgen (§ 70b Abs. 1 Satz 1 JGG). Die Rechte von Beschuldigten im Strafverfahren gemäß § 136 StPO, sowie für schuldunfähige Kinder das Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrecht gemäß §§ 52, 55 StPO, sind adressatengerecht zu vermitteln. Die Belehrung ist schriftlich zu dokumentieren und dabei möglichst authentisch und wortgetreu wiederzugeben.

Bei Anwesenheit der Erziehungsberechtigten oder gesetzlichen Vertreterinnen und Vertreter bei der Vernehmung soll die Belehrung in einer Weise erfolgen, die es diesen ermöglicht, ihrer Erziehungsverantwortung gerecht zu werden.

Bei Abwesenheit der Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertreterinnen und Vertreter ist eine nachträgliche Übersendung der erfolgten Beschuldigtenbelehrung rechtlich nicht zwingend vorgeschrieben, aber durchaus sinnvoll, damit Erziehungsberechtigte und gesetzliche Vertreterinnen und Vertreter in Kenntnis ihrer Rechte und Pflichten ihrem Erziehungsauftrag gerecht werden können.

4.4
Fall der notwendigen Verteidigung

Vor der ersten Beschuldigtenvernehmung bedarf es einer Prognoseentscheidung, ob es sich um einen Fall notwendiger Verteidigung handelt. Hierzu sind ggf. Absprachen mit der Staatsanwaltschaft zu treffen. Die Prognoseentscheidung und getroffene Absprachen sind zu begründen und zu dokumentieren. Die Prognoseentscheidung ist in jedem Verfahrensstadium zu prüfen. Sollten sich im Verfahrensverlauf diesbezüglich neue Erkenntnisse ergeben, sind diese zu dokumentieren. Eine Beiordnung oder Aufhebung der Beiordnung ist unverzüglich zu veranlassen.

Die Regelungen zu Fällen der notwendigen Verteidigung gem. § 68 JGG i. V. m. § 140 StPO sind eng auszulegen. Im Zweifelsfall ist Rücksprache mit der zuständigen Staatsanwaltschaft aufzunehmen.

4.5
Zeitpunkt der Bestellung einer Pflichtverteidigung

In den Fällen notwendiger Verteidigung wird jugendlichen und heranwachsenden Beschuldigten gemäß § 68a JGG eine Pflichtverteidigerin oder ein Pflichtverteidiger spätestens bestellt, bevor eine Vernehmung oder Gegenüberstellung mit ihnen durchgeführt wird. Ein Verzicht auf die Bestellung einer Pflichtverteidigung ist bei jugendlichen und heranwachsenden Beschuldigten nicht möglich.

Ausnahmeregelungen:

Von einer Bestellung einer Pflichtverteidigerin oder eines Pflichtverteidigers kann gemäß § 68a Abs. 1 Satz 2 JGG abgesehen werden, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung allein deshalb vorliegt, weil der oder dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird, eine Verfahrenseinstellung nach § 45 Abs. 2 oder 3 JGG zu erwarten ist und die Bestellung einer Pflichtverteidigerin oder eines Pflichtverteidigers unter Berücksichtigung des Wohls der Jugendlichen bzw. Heranwachsenden und der Umstände des Einzelfalls unverhältnismäßig wäre.

Eine Beschuldigtenvernehmung oder Gegenüberstellung mit der oder dem Beschuldigten ist in Ausnahmefällen vor Bestellung einer Pflichtverteidigerin oder eines Pflichtverteidigers gemäß § 68b JGG möglich, soweit dies unter Berücksichtigung des Wohls der oder des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden zur Abwehr schwerwiegender nachteiliger Auswirkungen auf Leib oder Leben oder die Freiheit einer Person dringend erforderlich ist oder ein sofortiges Handeln der Strafverfolgungsbehörden zwingend geboten ist, um eine erhebliche Gefährdung eines sich auf eine schwere Straftat beziehenden Strafverfahrens abzuwenden.

Entscheidungen zur Anwendung von Ausnahmeregelungen sind mit der zuständigen Staatsanwaltschaft abzustimmen und in geeigneter Form zu dokumentieren.

4.6
Vernehmungen von Beschuldigten und Tatverdächtigen

Die Vernehmung jugendlicher oder heranwachsender Beschuldigter ist gemäß § 70c Abs. 1 JGG in einer Art und Weise durchzuführen, die dem Alter sowie dem individuellen Entwicklungs- und Bildungsstand der Beschuldigten Rechnung trägt.

Von der Vernehmung ist ein möglichst wortgetreues Protokoll zu fertigen, in dem die persönlichen Lebensverhältnisse und etwaige Hilfebedürfnisse i. S. d. §§ 38, 43, 46a JGG aufgezeigt werden. Auf die weiteren Ausführungen zur Vernehmung in der PDV 382 wird verwiesen.

Die Vernehmung ist zu verschieben oder zu unterbrechen, wenn ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt und die Verteidigerin oder der Verteidiger nicht anwesend ist, sofern diese oder dieser nicht ausdrücklich auf die Anwesenheit verzichtet. (bei Verzicht des Verteidigers siehe Ziffer 4.7)

Anmerkung:

Kinder sind gem. § 19 StGB nicht schuldfähig. Folglich sind sie nicht Beschuldigte im Strafverfahren. Strafprozessuale Maßnahmen, die an diesen Status anknüpfen, sind ausgeschlossen.

Die Ermittlungen sind darauf auszurichten, inwieweit strafmündige Personen beteiligt sind, eine Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht vorliegt, vormundschaftsgerichtliche und behördliche Maßnahmen in Betracht kommen könnten oder die Identität von Personen zur Wahrnehmung zivilrechtlicher Ansprüche festzustellen ist.

Maßnahmen, die sich unmittelbar gegen das Kind richten, sind auf der Grundlage des NPOG zur Gefahrenabwehr oder Sicherung zivilrechtlicher Ansprüche zu treffen.

Tatverdächtige Kinder sind über ihre Erziehungs-/Sorgeberechtigten und gesetzliche Vertreterinnen und Vertreter vorzuladen und altersangemessen zu befragen. Sie sind als Zeugen vor der Befragung über ihr Auskunfts- und Zeugnisverweigerungsrecht zu belehren. Eine Ermahnung zur Wahrheit i. S. d. § 57 StPO erfolgt bei tatverdächtigen Kindern nicht.

Es gelten die Regelungen der Richtlinie für Verfahren mit Kindern als Tatverdächtige (strafunmündige Kinder) des LKA Niedersachsen. 6

4.6.1
Audiovisuelle Vernehmungen

Die Vernehmung ist gemäß § 70c Abs. 2 JGG audiovisuell aufzuzeichnen, wenn ein Fall notwendiger Verteidigung i. S. d. § 68 JGG i. V. m. § 140 StPO vorliegt, eine Verteidigerin oder ein Verteidiger bei der Beschuldigtenvernehmung aber nicht anwesend ist.

Auf die Regelungen des § 136 Abs. 4 Nr. 1 und Nr. 2 StPO zur Aufzeichnung bei vorsätzlich begangenen Tötungsdelikten und bei schutzwürdigen Interessen von Beschuldigten mit erkennbar eingeschränkten geistigen Fähigkeiten oder schwerwiegenden seelischen Störungen wird verwiesen.

Auf die Handlungsanleitung des LKA Niedersachsen zur Audiovisuellen Vernehmung (AVV) wird hingewiesen. 7

4.7
Junge Schwellen- und Intensivtäterinnen und Schwellen- und Intensivtäter

Die Landesrahmenkonzeption Junge Schwellen- und Intensivtäterinnen und Schwellen- und Intensivtäter (JuSIT) 8 bezieht sich auf Kinder, Jugendliche und Heranwachsende, die eine besondere kriminelle Energie oder erhöhte Gewaltbereitschaft gezeigt haben und/oder mehrfach in Erscheinung getreten sind und bei denen eine Gefährdung der Persönlichkeit und sozialen Integration durch eine sich verfestigende kriminelle Entwicklung zu besorgen ist.

Um eine standardisierte Einstufung von Intensivtäterinnen und Intensivtätern vornehmen zu können, werden sämtliche Straftaten unter Berücksichtigung der Schwere der Verfehlung und der gesetzlichen Strafandrohung mit einem Faktor versehen. So ergibt sich für jede junge Tatverdächtige und jeden jungen Tatverdächtigen aus der Summe aller innerhalb von zwölf Monaten begangenen Straftaten und Verwendung des Faktors eine individuelle Punktzahl.

Darüber hinaus sind individuelle Risiko- und Schutzfaktoren bei der Einstufung zu berücksichtigen. Der Richtwert von 35 Punkten gibt Anlass zur Prüfung, ob eine Einstufung der betrachteten Tatverdächtigen erforderlich ist. Die Einstufung erfolgt durch Polizei und Staatsanwaltschaft ggf. unter Einbeziehung von Jugendamt und Schule.

Bei Kindern sowie bei Einstufungen zu Schwellentäterinnen und Schwellentätern erfolgt dies durch die Polizei ohne Beteiligung der Staatsanwaltschaft.

Ermittlungsgrundsätze und Verfahrenshinweise sind der Niedersächsischen Landesrahmenkonzeption Junge Schwellen- und Intensivtäterinnen und Schwellen und Intensivtäter (JuSIT) zu entnehmen.

4.8
Diversion

Wissenschaftlichen Erkenntnissen folgend ist eine jugendgerichtliche Verurteilung in Fällen jugendtypischen Fehlverhaltens in der Regel nicht erforderlich und kann aufgrund von Stigmatisierungseffekten sogar erzieherisch verfehlt sein.

Das JGG sieht deshalb in den §§ 45, 47 JGG eine Reihe von Möglichkeiten vor, die dazu führen, dass dem erzieherischen Gedanken des JGG Rechnung getragen wird, ohne dass es zu einem gerichtlichen Verfahren oder zu einer rechtskräftigen Verurteilung kommt. Auch Fälle mit heranwachsenden Tatverdächtigen können sich für eine Diversion eignen. Gemeint sind kleine und mittlere Verfehlungen, geringe Sachschäden und geständige Ersttäterinnen und Ersttäter in einer Deliktsgruppe.

Hierzu sind die Richtlinien für die Bearbeitung von Ermittlungsverfahren in Jugendstrafsachen bei jugendtypischem Fehlverhalten (Diversionsrichtlinien) 9 und der unter Ziffer 4.9 genannte "Leitfaden erzieherisches Gespräch" des LKA Niedersachsen zu beachten.

4.9
Erzieherisches Gespräch

Das polizeiliche "erzieherische Gespräch" ist eine Maßnahme, die allein oder im Verbund mit anderen Maßnahmen dazu führen kann, dass von der weiteren Strafverfolgung abgesehen wird. Die Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens bleibt jedoch dem Einzelfallermessen der Staatsanwaltschaft überlassen. Welche Inhalte ein "erzieherisches Gespräch" haben sollte, ist dem "Leitfaden erzieherisches Gespräch" des LKA Niedersachsen 10 zu entnehmen.

4.10
Opferorientierung

Gegenstand der Ermittlungen bei Strafverfahren gegen Tatverdächtige im Alter von unter 21 Jahren ist auch die Situation der Opfer. Wiedergutmachende Maßnahmen und Handlungen seitens der Tatverdächtigen, wie Entschuldigungen oder die Zahlung von Schmerzensgeld oder Schadensersatz und auch die Inanspruchnahme von Institutionen der Opferhilfe durch Opfer oder Geschädigte sind zu erfragen und zu dokumentieren.

Opfer im Verfahren gegen Jugendliche haben nur eingeschränkt die Möglichkeit der Nebenklage (§ 80 Abs. 3 JGG). Insoweit ist es von besonderer Bedeutung, die Situation der Opfer aktenkundig zu machen und so dem Gericht die Gelegenheit zu geben, diese Umstände in seine Entscheidungsfindung einzubeziehen. Sowohl unter präventiven Gesichtspunkten als auch zur Ermöglichung einer angemessenen Reaktion auf die Straftat ist es daneben erforderlich, die Ermittlungen auch auf die Konfliktsituation, die zu einer Straftat geführt hat bzw. die durch eine Straftat entstanden ist, zu erstrecken. Dies gilt insbesondere für Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Gruppen, unter Nachbarn, im Umfeld von Schulen, Freizeiteinrichtungen und anderen Treffpunkten junger Menschen in der Öffentlichkeit und auch in Communities/Foren im Internet.

Einschlägige Opferschutzregelungen sind zu beachten. Opfern ist von der Polizei das "Merkblatt über Rechte von Verletzten und Geschädigten im Strafverfahren" (StP2) auszuhändigen.

4.11
Täter-Opfer-Ausgleich

Besonderes Augenmerk ist auf die Möglichkeit eines Täter-Opfer-Ausgleichs (TOA) zu legen. Die Bereitschaft zu einer solchen Maßnahme ist bei Beschuldigten und Opfern zu erfragen und ggf. zu fördern. Verfahren, in denen ein TOA nach Einschätzung der ermittelnden Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten angezeigt ist, sind entsprechend der regionalen Absprachen über Verfahrensabläufe zu kennzeichnen.

4.12
Verfahrensbeschleunigung

Bei der Bekämpfung von Jugenddelinquenz ist es geboten, durch eine zeitnahe staatliche Reaktion Jugendlichen und Heranwachsenden Grenzen aufzuzeigen. Dazu kann es insbesondere bei Mehrfachtäterinnen und Mehrfachtätern oder in bestimmten anderen Fällen erforderlich sein, den gewöhnlichen Ablauf des Jugendstrafverfahrens durch eine zeitliche Straffung der Abläufe, u.a. in der Zusammenarbeit zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei, besonders zu beschleunigen. Diese Verfahrensmöglichkeiten werden nachfolgend kurz beschrieben.

4.12.1
Vereinfachtes Jugendverfahren

Das Vereinfachte Jugendverfahren (VEJ) gemäß §§ 76 ff. JGG eignet sich bei Fällen der leichten bis mittleren Jugendkriminalität und kann bei Wiederholungstäterinnen und -tätern mit fehlgeschlagener Diversion zur Anwendung kommen. Bedingungen sind ein hinreichender Tatverdacht und ein klarer Sachverhalt mit einfacher Beweislage. Das Strafmaß muss unterhalb einer Jugendstrafe zu erwarten sein. Ein VEJ ist durch die Staatsanwaltschaft zu initiieren.

4.12.2
Beschleunigtes Verfahren

Zur Durchführung eines durch die Polizei gegenüber der Staatsanwaltschaft anzuregenden beschleunigten Verfahrens gemäß §§ 127b, 417 ff. StPO muss die oder der Beschuldigte zum Zeitpunkt der Tatbegehung volljährig sein. Ein beschleunigtes Verfahren wird daher bei jugendlichen Beschuldigten nicht angewendet.

4.12.3
Vereinfachtes Ermittlungsverfahren bei minderschweren Delikten

Im vereinfachten Ermittlungsverfahren bei minderschweren Delikten (VEV) 11 ist es möglich, Beschuldigte mit schriftlich versandten Beschuldigtenanhörungen oder vor Ort mit Kurzvernehmungen anzuhören und den Ermittlungsvorgang ohne Beschuldigtenvernehmung der Tatverdächtigen abzuschließen.

Diese Verfahrensweise ist bei Verfahren gegen jugendliche und heranwachsende Tatverdächtige ausgeschlossen.

4.13
Jugendamtsbericht

Der Polizei kommt neben den Angehörigen anderer Institutionen wie Jugendamt, Kindertagesstätte, Schule und der Gesundheitsvorsorge die Aufgabe zu, alle Informationen zur Wahrnehmung des in § 8a SGB VIII normierten "Schutzauftrages bei Kindeswohlgefährdung" zu sichern und weiterzuleiten. Warnhinweise müssen frühzeitig weitergegeben werden, um die zuständigen Stellen in die Lage zu versetzen, schnell Hilfsangebote zu unterbreiten oder mit Hilfe der Familiengerichte eingreifen zu können.

Auch die Begehung von Straftaten kann auf das Vorhandensein bislang unbekannter Unterstützungsbedarfe hindeuten. Daher sind in sämtlichen Ermittlungsverfahren mit tatverdächtigen Kindern und beschuldigten Jugendlichen oder Heranwachsenden Jugendamtsberichte (PolN136a) zu fertigen und an die Jugendämter zu übersenden.

In vielen Fällen kann es ratsam sein, das Jugendamt frühzeitig, d. h. auch bereits bei Beginn der Ermittlungen zu informieren, sofern umgehendes Handeln erforderlich erscheint. Jugendamtsberichte sind an das für den Wohnsitz der Sorgeberechtigten zuständige Jugendamt zu senden. Es gelten die Regelungen der Richtlinie "Jugendamtsberichte der Polizei" des LKA Niedersachsen 12.

5 Prävention, Jugendschutz und Jugendgefährdung

5.1
Präventionsauftrag

Die besondere Bedeutung der Lebens- und Entwicklungsbedingungen junger Menschen sowohl für deren Risiko, kriminelle Verhaltensweisen zu entwickeln als auch für ihr Viktimisierungsrisiko, bedingt die Verpflichtung aller staatlichen Einrichtungen, in ihren originären Zuständigkeitsbereichen die Perspektive der Prävention in Bezug auf diese Zielgruppe zu beachten und die Aufgabenerfüllung daran zu orientieren.

Polizeiliche Prävention ist als Teil der Gefahrenabwehr (§ 1 Abs. 1 Satz 3 NPOG) neben der Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten ein Bestandteil des polizeilichen Gesamtauftrages und damit polizeiliche Kernaufgabe. Näheres regelt die Richtlinie "Polizeiliche Prävention in Niedersachsen" des LKA Niedersachsen 13. Darauf basieren die Konzeptionen "Polizeiliche Kriminal- und Verkehrsunfallprävention für Kinder und Jugendliche" 14 sowie "Präventionspuppenbühnen (PPB) der Polizei Niedersachsen" 15.

Der Aufbau und die Arbeit lokaler Präventionsnetzwerke sind durch die örtliche Polizei zu unterstützen. Dabei sollte die polizeiliche Prävention auf kommunaler Ebene abgestimmt werden. Es kann insbesondere sinnvoll sein, wenn mit Jugendsachen betraute Beamtinnen und Beamte durch Vermittlung von Informationen, aktive Mitarbeit in kriminalpräventiven Gremien und Einbringen polizeilicher Sichtweisen die kommunalen Präventionsbemühungen unterstützen.

5.2
Gefahrenabwehr in originärer Zuständigkeit

5.2.1
Inobhutnahme i. S. d. Niedersächsischen Polizei- und Ordnungsbehördengesetzes

Die Polizei kann nach § 18 Abs. 3 NPOG eine minderjährige Person, die sich der Sorge der erziehungsberechtigten Person entzogen hat, in Obhut nehmen. Die "polizeiliche" Inobhutnahme ist eine bewusste Abgrenzung zum "Schutzgewahrsam" nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 NPOG. Durch den Begriff "Inobhutnahme" wird zum Ausdruck gebracht, dass es sich nicht um eine freiheitsentziehende Ingewahrsamnahme handelt, die der richterlichen Entscheidung bedarf, sondern lediglich um die Zuführung zu einer erziehungsberechtigten Person. Der Begriff der "Obhut" aus dem NPOG weicht vom gleichlautenden Begriff des Sozialgesetzbuches (SGB) VIII erheblich ab (vgl. Ziffer 5.3.2.2). Im § 18 Abs. 3 NPOG geht es vordringlich nicht um die Abwehr einer drohenden konkreten Gefahr, sondern vielmehr um die Durchsetzung des Aufenthaltsbestimmungsrechts der Personensorgeberechtigten.

Zudem ist der Polizei durch das Wort "kann" hinsichtlich der Frage, ob die Zuführung erfolgt, auch ein Ermessensspielraum gegeben. Insbesondere bei Jugendlichen, die sich an der Schwelle zur Volljährigkeit befinden, ist dieser Beurteilungsspielraum bei der Frage der Verhältnismäßigkeit zu beachten.

5.2.2
Gefährderansprache und -anschreiben

Die Maßnahme der Gefährderansprache oder des Gefährderanschreibens gem. § 12a NPOG kann auch im Vorfeld einer konkreten Gefahr eingesetzt werden. Sie ist mit einem Anhalterecht verbunden. Bei der Gefährderansprache oder einem Gefährderanschreiben an Minderjährige gelten besondere Bestimmungen zur Beteiligung der gesetzlichen Vertreterinnen und Vertreter. (Anwesenheit oder unverzügliche Unterrichtung, siehe § 12a Abs. 2 NPOG).

5.2.3
Fahndung nach vermissten Minderjährigen

Bei Minderjährigen, die ihren gewohnten Lebenskreis verlassen haben und deren Aufenthalt unbekannt ist, muss grundsätzlich eine Gefahr für Leib oder Leben angenommen werden, solange Erkenntnisse oder Ermittlungen nichts Anderes ergeben (PDV 389). Kinder und Jugendliche sind im POLAS/INPOL und SIS (Schengener Informationssystem) mit dem Zweck "Ingewahrsamnahme" auszuschreiben. Im Freitextfeld muss eine Ergänzung zur "Inobhutnahme" erfolgen. Jugendliche können zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben werden, wenn keine Gefahrenlage erkennbar ist. Bei Minderjährigen hat eine Ausschreibung im SIS zu erfolgen. Es ist sicherzustellen, dass vorhandene Personenbeschreibungen und Lichtbilder in die Fahndungsausschreibung aufgenommen werden. Werden vermisste Kinder oder Jugendliche angetroffen, ist in jedem Fall zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Inobhutnahme vorliegen.

Bei Fahndungsausschreibungen zu unbegleiteten minderjährigen Ausländern/Flüchtlingen (UMA/UMF) sind die Hinweise der Vermisstenstelle des LKA Niedersachsen zu beachten.

5.3
Zusammenarbeit mit anderen Institutionen

5.3.1
Zusammenarbeit mit Schulen

Mit dem Erlass "Sicherheits- und Gewaltpräventionsmaßnahmen in Schulen in Zusammenarbeit mit Polizei und Staatsanwaltschaft" 16 wird das gemeinsame Ziel verfolgt, die Sicherheit der Schülerinnen und Schüler und aller anderen Personen im Lebensraum Schule zu gewährleisten und Straftaten zu verhindern sowie gesetzestreues Verhalten von Schülerinnen und Schülern auch außerhalb der Schule zu fördern.

Kernpunkt des Erlasses ist die gegenseitige Benennung von Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartnern. Diese haben die Aufgaben, regelmäßigen Kontakt zu halten, Informationen zu übermitteln und die zur Umsetzung des Erlasses erforderlichen Maßnahmen zu initiieren. Auch Präventionsunterrichte durch Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte sind Teil der möglichen Maßnahmen an Schulen.

Ein weiterer Kernpunkt des Erlasses ist die Anzeigepflicht der Schule bei bestimmten Straftaten. Die Polizei ist im Gegenzug verpflichtet, Informationen über Personen, Taten oder Sicherheitslagen, welche für den schulischen Bereich zur Abwehr einer Gefahr oder zur Erfüllung der Aufgaben der Polizei erforderlich sind, der Schulleitung unverzüglich mitzuteilen. Dieses kann fernmündlich, persönlich oder mittels des Formulars "Mitteilung an die Schule" mitgeteilt werden.

Straftaten im Zusammenhang mit dem Schulbetrieb sind im Vorgangsbearbeitungssystem mit dem "Auswertemerker Schulkontext" zu erfassen 17.

Polizeiliche Vernehmungen von Minderjährigen und Heranwachsenden in Schulen werden mit Rücksicht auf die schutzwürdigen Interessen der Betroffenen nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen, z. B. wenn eine richterliche Anordnung vorliegt, wegen der besonderen Tatumstände dort ermittelt werden muss, die Ermittlungen sonst erheblich erschwert würden oder der Ermittlungserfolg gefährdet wäre. Auf die Belange der Schule ist Rücksicht zu nehmen. Polizeiliche Vorladungen von Schülerinnen und Schülern sind grundsätzlich nicht in die Zeiten des Schulbetriebs zu terminieren.

Im Jugendstrafverfahren sollen bereits im Vorverfahren (Ermittlungsverfahren) so bald wie möglich die Lebens- und Familienverhältnisse, der Werdegang, das bisherige Verhalten der Beschuldigten und alle übrigen Umstände ermittelt werden, die zur Beurteilung ihrer seelischen, geistigen und charakterlichen Eigenarten dienen können. Auch die Schule kann im Verfahren dazu gehört werden.

5.3.2
Jugendschutz - Jugendhilfe

Der Schutz von Kindern und Jugendlichen leitet sich primär aus den spezialgesetzlichen Regelungen des SGB VIII, dem Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG), dem Jugendschutzgesetz (JuSchG) und dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) ab.

Jugendschutz ist eine subsidiäre Aufgabe der Polizei. Sie wird nur tätig, wenn die originär zuständigen Behörden nicht oder nicht rechtzeitig handeln können bzw. um Amtshilfe bitten. Siehe hierzu Richtlinie "Jugendschutz - Zuständigkeiten der Polizei und Jugendämter" 18 des LKA Niedersachsen.

5.3.2.1 Kindeswohlgefährdung

Das Jugendamt ist nach § 8a SGB VIII (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung) verpflichtet, eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls eines Kindes abzuwenden, wenn diese unmittelbar droht oder eingetreten ist. Das Jugendamt kann zur Abwendung der Gefahr die Polizei um Amtshilfe ersuchen. Die Polizei erfährt oft in einem sehr frühen Stadium von Fehlentwicklungen oder Gefährdungslagen in Familien (z.B. Häusliche Gewalt). Erkenntnisse sind frühzeitig an originär zuständige Stellen zu übermitteln (z.B. Information an Beratungs- und Interventionsstellen (BISS) und Jugendamt). Regelmäßige Besprechungen mit Akteurinnen und Akteuren auf lokaler Ebene sind anzustreben.

Gemäß § 3 Abs. 3 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) können individuelle Vereinbarungen auf örtlicher Ebene mit dem Ziel des Kinderschutzes (Frühe Hilfen) getroffen werden.

5.3.2.2 Inobhutnahme nach dem SGB VIII

Die Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII obliegt den Jugendämtern. Sie stellt die vorläufige Unterbringung von Kindern oder Jugendlichen bei einer geeigneten Person oder Einrichtung dar und ist verpflichtend, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl der Kinder oder Jugendlichen besteht, Kinder oder Jugendliche um Obhut bitten oder ausländische Kinder oder Jugendliche unbegleitet nach Deutschland kommen und sich weder Personensorge-noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten.

Nach § 42 Abs. 5 SGB VIII sind freiheitsentziehende Maßnahmen im Rahmen der Inobhutnahme zulässig, um eine Gefahr für Leib oder Leben Minderjähriger oder von Dritten abzuwenden.

Ferner ist im § 42 Abs. 6 SGB VIII der Ausnahmefall beschrieben, dass bei einer Inobhutnahme unmittelbarer Zwang erforderlich sein könnte: "In diesen Fällen sind die dazu befugten Stellen hinzuzuziehen". Dies sind in erster Linie die Verwaltungsvollzugbeamtinnen und -beamten der Kommunen und nicht Kräfte der Polizei. Die Polizei kann jedoch um Vollzugshilfe gebeten werden. Ist die Zuführung von Kindern oder Jugendlichen zum Jugendamt durch die Polizei notwendig, stellt diese - auch wenn sie gegen deren Willen erfolgt - lediglich eine Freiheitsbeschränkung und keine Freiheitsentziehung nach Artikel 104 Grundgesetz (GG) dar.

Bei der Inobhutnahme Minderjähriger gem. SGB VIII handelt es sich um eine Maßnahme des Jugendamtes. Sie ist nicht gleichbedeutend mit der Inobhutnahme gem. § 18 Abs. 3 NPOG. (vgl. Ziffer 5.2.1)

5.4
Datenschutz

Gemäß §§ 40, 41, 43 NPOG und § 5 Niedersächsisches Datenschutzgesetz (NDSG) können Daten unter Einhaltung der dort genannten Voraussetzungen an andere Stellen übermittelt werden, wenn dies zur Erfüllung der Aufgaben der übermittelnden oder empfangenen Stelle erforderlich ist. Die Erforderlichkeit muss für jeden Einzelfall geprüft werden. So können u.a. dem Jugendamt und der Jugendgerichtshilfe neben dem sogenannten "Jugendamtsbericht" (Ziffer 4.14) auch Teile einer Ermittlungsakte (z. B. Abschlussbericht) übersandt werden, wenn die darin enthaltenden Informationen zur Erfüllung der dortigen Aufgaben erforderlich sind. Nicht erforderliche Daten müssen darin gelöscht oder unkenntlich gemacht werden.

6 Aufgabenwahrnehmung

Die Arbeit der niedersächsischen Polizei mit Bezug zur Personengruppe junger Menschen im Alter unter 21 Jahren verfolgt repressive und präventive Ansätze. Dadurch ergeben sich organisatorisch unterschiedliche Zuständigkeiten, Funktionen und Schnittstellen. Nachfolgend werden die Aufgaben und Zuständigkeiten von Funktionsträgerinnen und Funktionsträgern und Organisationseinheiten näher beschrieben.

6.1
Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter Jugendsachen

Die PDV 382 schreibt vor, dass mit der Bearbeitung von Jugendsachen besonders geschulte Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte zu beauftragen sind. Hierzu ist eine spezielle und wiederkehrende Aus- und Fortbildung erforderlich.

Jugendsachbearbeiterinnen und Jugendsachbearbeiter sollten ein besonderes Interesse und eine ausgeprägte Bereitschaft zum situationsgerechten Umgang mit jungen Menschen und zur Zusammenarbeit mit anderen Institutionen haben. Hierfür sind ein hohes Maß an Engagement und Flexibilität sowie pädagogische und kommunikative Fähigkeiten gefordert.

6.2
Leitung Fachkommissariat/Aufgabenfeld Jugend (FK 6/AF 4)

Aufgabe der Leiterinnen und Leiter FK 6/AF 4 in Niedersachsen ist die Gewährleistung der Einhaltung von Qualitätsstandards und landeseinheitlicher Verfahrensweisen in der polizeilichen Bearbeitung von Jugendsachen. Ihnen obliegt zudem die Entscheidung über das Anlegen, Verlängern und Löschen von Kriminalakten Minderjähriger und Heranwachsender.

Darüber hinaus nehmen die Leiterinnen und Leiter FK 6/AF 4 nachfolgend dargestellte Aufgaben im Austausch und in Abstimmung mit der oder dem Beauftragten für Jugendsachen der örtlichen zuständigen Polizeiinspektion wahr:

  • Steuern der Ermittlungsvorgänge nach eigener Bewertung oder auf Anforderung an die Beauftragten für Jugendsachen, um diesen einen Überblick zur Lage und zu Phänomenen der Jugenddelinquenz zu ermöglichen

  • Koordination und Umsetzung der Landesrahmenkonzeption "Junge Schwellentäterinnen und Schwellentäter und Intensivtäterinnen und Intensivtäter" (JuSIT)

  • Mitwirken an, Initiieren und Koordinieren von polizeilichen Maßnahmen bezüglich Jugendgefährdung in Abstimmung mit den nach dem SGB VIII zuständigen Stellen

  • Mitwirken in Präventionsgremien und bei Projekten außerhalb polizeilicher Institutionen (z. B. kommunalen Präventionsräten, Jugendhilfeausschüssen, Schulelternräten, Opferhilfeeinrichtungen), soweit eine Einbindung aus fachlichen Gründen geboten ist

  • Initiieren und Halten von Kontakten zu Behörden, Schulen, Institutionen, Präventionsräten pp., insbesondere zur Koordinierung und Wahrnehmung der Aufgaben im Sinne des Gem.RdErl. MK, MI und MJ "Sicherheits- und Gewaltpräventionsmaßnahmen in Schulen in Zusammenarbeit mit Polizei und Staatsanwaltschaft"

  • Mitwirken an der Durchführung von Öffentlichkeitsarbeit in Jugendsachen

  • Erstellen eines jährlichen Berichtes zur Situation der Delinquenz junger Menschen, ihrer Gefährdungen und der getroffenen Präventionsmaßnahmen und -projekte für den Bereich der Polizeiinspektion. Dieser Bericht hat sich an der vom LKA Niedersachsen vorzugebenden Struktur auszurichten und ist dem LKA Niedersachsen bis zum 01.03. des Folgejahres vorzulegen

  • Mitwirken bei der Planung und Durchführung von zentralen und dezentralen Aus- und Fortbildungsmaßnahmen für Jugendsachbearbeiterinnen und Jugendsachbearbeiter in enger Kooperation mit den Aus- und Fortbildungsbeauftragten

  • Mitwirken bei der Planung und Durchführung von zentralen und dezentralen Fortbildungsmaßnahmen für Kräfte aus nicht originär mit Jugendsachen betrauten Fachkommissariaten, Aufgabenfeldern und Organisationsbereichen (Einsatz- und Streifendienst, Verfügungseinheiten) bezüglich Phänomenen und Bearbeitungsgrundsätzen im Zusammenhang mit der Delinquenz junger Menschen.

6.3
Beauftragte für Jugendsachen (BfJ)

Die Beauftragten für Jugendsachen sind für die Initiierung, Durchführung, Steuerung und Koordinierung von polizeilichen Präventionsprojekten für Kinder, Jugendliche und deren Bezugspersonen verantwortlich.

Sie kooperieren mit den Beauftragten für Kriminalprävention, den Verkehrssicherheitsberaterinnen und -beratern und den Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern Prävention.

Darüber hinaus nehmen die Beauftragten für Jugendsachen nachfolgend dargestellte Aufgaben wahr. Grundlagen sind dabei der ständige Austausch und die Abstimmung mit den Leiterinnen und Leitern des FK 6 des ZKD und den AF 4 der Kriminalermittlungsdienste (KED) ihres Zuständigkeitsbereiches.

  • Auswerten zugeleiteter oder angeforderter polizeilicher Vorgänge mit einer Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden; Analyse der Auswertungsberichte/Verfahrenserkenntnisse, Lagebilder pp., um Ansätze für präventive Maßnahmen zu gewinnen

  • Mitwirken, Initiieren und Koordinieren von polizeilichen Maßnahmen im Bereich der Jugendgefährdung in Abstimmung mit den nach dem SGB VIII zuständigen Stellen

  • Initiieren und Halten von Kontakten zu Behörden, Schulen, Institutionen, Präventionsgremien pp., insbesondere zur Koordinierung und zur Wahrnehmung der Aufgaben im Sinne des Gem.RdErl. MK, MI und MJ "Sicherheits- und Gewaltpräventionsmaßnahmen in Schulen in Zusammenarbeit mit Polizei und Staatsanwaltschaft"

  • Mitwirken in Präventionsgremien und bei Projekten außerhalb polizeilicher Institutionen (z. B. kommunalen Präventionsräten, Jugendhilfeausschüssen, Schulelternräten, Opferhilfeeinrichtungen), soweit aus fachlichen Gründen nicht eine Mitwirkung der FK 6-Leitung bzw. KED-Leitung geboten ist

  • Vortragstätigkeiten bzw. verhaltensorientierte Präventionsmaßnahmen im Rahmen des Präventionsauftrages

  • Mitwirken an der Durchführung von Öffentlichkeitsarbeit in Jugendsachen

  • Mitwirkung bei der Erstellung des jährlichen Berichtes zur Situation der Delinquenz junger Menschen und ihrer Gefährdungen durch die Darstellung der getroffenen Präventionsmaßnahmen und -projekte für den Bereich der Polizeiinspektion

  • Mitwirken bei der Planung und Durchführung von zentralen und dezentralen Aus- und Fortbildungsmaßnahmen für Jugendsachbearbeiterinnen und Jugendsachbearbeiter in enger Kooperation mit den Aus- und Fortbildungsbeauftragten

  • Mitwirken bei der Planung und Durchführung von zentralen und dezentralen Fortbildungsmaßnahmen für Kräfte aus nicht originär mit Jugendsachen betrauten Fachkommissariaten, Aufgabenfeldern und Organisationsbereichen (Einsatz- und Streifendienst, Verfügungseinheiten) bezüglich Phänomenen, Prävention und Bearbeitungsgrundsätzen im Zusammenhang mit der Delinquenz junger Menschen

6.4
Zentralstelle Jugendsachen und Landesbeauftragte oder Landesbeauftragter für Jugendsachen (LBfJ) im LKA Niedersachsen

Der Zentralstelle (ZS) Jugendsachen im Landeskriminalamt Niedersachsen und der oder dem Landesbeauftragten für Jugendsachen obliegen folgende Aufgaben und Zuständigkeiten:

  • Beteiligung an landesweiten Präventionsgremien

  • Grundsatzangelegenheiten im Bereich der Jugendsachen

  • Auswerten und Erstellen von landesweiten (statistischen) Materialien über die Delinquenz junger Menschen sowie Jugendgefährdung

  • Erstellen eines jährlichen Berichtes zur Delinquenz junger Menschen, ihrer Gefährdungen und der getroffenen Präventionsmaßnahmen und -projekte in Niedersachsen 19 für das zurückliegende Berichtsjahr unter Einbeziehung der Dienststellenberichte

  • Steuern bzw. Koordinieren von landesweiten jugendspezifischen Präventionsmaßnahmen, Erstellen und Beschaffen von Informationsmaterialien für die jugendspezifische Präventionsarbeit sowie Mitwirkung bei der Umsetzung des Programms "Polizeiliche Kriminalprävention", sofern der Bereich "Jugendsachen" betroffen ist

  • Zentrale Ansprechstelle für die Zentralstellen Jugend und/oder die Landesbeauftragten für Jugendsachen der LKÄ in den anderen Bundesländern und das BKA

  • Zusammenarbeit und Informationsaustausch mit landesweit tätigen Behörden und Institutionen auf dem Gebiet des Jugendschutzes, Jugendrechts und der Jugendpflege im Rahmen der Zuständigkeiten

  • Zusammenarbeit auf überörtlicher Ebene mit den Regionalen Landesämtern für Schule und Bildung im Rahmen des Erlasses "Sicherheits- und Gewaltpräventionsmaßnahmen in Schulen in Zusammenarbeit mit Polizei und Staatsanwaltschaft"; Durchführung regelmäßiger Besprechungen

  • Vortragstätigkeiten

  • Vertretung in externen und internen Arbeitskreisen auf Landesebene

  • Zusammenarbeit und Informationsaustausch mit der Polizei anderer Bundesländer, der Bundespolizei und anderen bundesweit tätigen Behörden, Institutionen und Verbänden auf dem Gebiet der Jugendkriminalrechtspflege und Jugendprävention

  • Beteiligung an Bund-Länder-Arbeitsgruppen zur Erstellung und Überarbeitung von Vorschriften, Präventionskonzepten und Materialien

  • Mitwirken bei der Planung und Durchführung von Fortbildungsveranstaltungen der Polizeiakademie Niedersachsen

  • Bedarfsorientierte Organisation und Durchführung von eigenen Arbeitstagungen und Informationsveranstaltungen in Jugendsachen (präventiv und repressiv)

  • Mitwirken bei der Öffentlichkeitsarbeit.

6.5
Polizeiakademie Niedersachsen (PA)

Die PA ist zuständig für die Koordination und Weiterentwicklung von Inhalten der zentralen und dezentralen Aus- und Fortbildungsangebote für

  • Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter Jugendsachen unter Einbeziehung externer Referentinnen und Referenten der Justiz, Jugendhilfe, Sozialarbeit oder Schule

  • Beauftragte für Jugendsachen (Befähigung für den Einsatz an Schulen; Einbindung von externen Netzwerkpartnern; Methodik/Didaktik als Fortbildungsinhalt)

  • Polizeipuppenbühnen (Fortbildung unter Einbindung externer Theaterpädagoginnen und - pädagogen)

  • Präventionsteams

  • die Gestaltung der Lehr-Module zu den Themen (Jugend-)Prävention und Jugendsachbearbeitung im Rahmen des Studiums durch fachlich qualifiziertes Personal.

7 Pressearbeit

Bei Minderjährigen ist bei der Bekanntgabe von personenbezogenen Daten besondere Zurückhaltung zu üben, um eine Stigmatisierung zu vermeiden.

Daher sollen hauptamtliche Pressesprecherinnen und Pressesprecher in Zusammenarbeit mit den Fachbereichen Jugend (ZS Jugendsachen, BfJ, FK 6, AF 4) sachgerecht zu Phänomenen der Delinquenz, Gefährdung und Prävention im Zusammenhang mit der Altersgruppe junger Menschen informieren.

Detaillierte Hinweise sind dem Erlass über die Öffentlichkeitsarbeit durch die Polizei zu entnehmen. 20

8 Schlussbestimmungen

Diese Richtlinie tritt mit Wirkung vom 23.12.2022 in Kraft. Der Bezugserlass (RdErl. d. MI vom 28.07.2005) ist mit Wirkung vom 22.12.2022 aufgehoben.

Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit.

Straftaten gegen das Leben, Gesundheit und persönliche Freiheit, Sexualstraftaten, Branddelikte.

Verkehr (sofern kein Verkehrsunfalldienst eingerichtet ist).

Richtlinie "Jugendamtsberichte der Polizei" des LKA Niedersachsen in der jeweils gültigen Fassung.

Polizeigewahrsamsordnung RdErl. d. MI in der jeweils gültigen Fassung.

Richtlinie für Verfahren mit Kindern als Tatverdächtige (strafunmündige Kinder) des LKA Niedersachsen in der jeweils gültigen Fassung.

Handlungsanleitung für die audiovisuelle Aufzeichnung (AVV) von Beschuldigtenvernehmungen bei Tötungsdelikten; Befragungen/Beschuldigtenvernehmungen von Minderjährigen in Strafverfahren des LKA Niedersachsen in der jeweils gültigen Fassung.

Niedersächsische Landesrahmenkonzeption Junge Schwellen- und Intensivtäterinnen und Schwellen- und Intensivtäter (JuSIT); Gem. RdErl. d. MI, d. MJ, d. MK u. d. MS in der jeweils gültigen Fassung.

Richtlinien für die Bearbeitung von Ermittlungsverfahren in Jugendstrafsachen bei jugendtypischem Fehlverhalten (Diversionsrichtlinien) in der jeweils gültigen Fassung.

Leitfaden "Erzieherisches Gespräch" des LKA Niedersachsen in der jeweils gültigen Fassung.

Richtlinie für ein vereinfachtes Ermittlungsverfahren bei minderschweren Delikten, Gem. RdErl. d. MI u. d. MJ in der jeweils gültigen Fassung.

Richtlinie "Jugendamtsberichte der Polizei des LKA Niedersachsen in der jeweils gültigen Fassung.

Richtlinie für die polizeiliche Prävention in Niedersachsen des LKA Niedersachsen in der jeweils gültigen Fassung.

Konzeption "Polizeiliche Kriminal- und Verkehrsunfallprävention für Kinder und Jugendliche" des LKA Niedersachsen in der jeweils gültigen Fassung.

Konzeption "Präventionspuppenbühnen (PPB) der Polizei Niedersachsen" des LKA Niedersachsen in der jeweils gültigen Fassung.

Sicherheits- und Gewaltpräventionsmaßnahmen in Schulen in Zusammenarbeit mit Polizei und Staatsanwaltschaft; Gem. RdErl. MK, MI und MJ in der jeweils gültigen Fassung.

Richtlinien für die Führung der Polizeilichen Kriminalstatistik, Teil B des LKA Niedersachsen, Seite 10, in der jeweils gültigen Fassung.

Richtlinie "Jugendschutz - Zuständigkeit der Polizei und Jugendämter" des LKA Niedersachsen in der jeweils gültigen Fassung.

Dieser Bericht sollte Langzeitbetrachtungen (10 Jahre) und analytische Bewertungen enthalten; Vorlage beim MI jeweils bis zum 31.05. eines Jahres.

Öffentlichkeitsarbeit der Polizei; Zusammenarbeit von Polizei und Medien, RdErl. d. MI in der jeweils gültigen Fassung.

Außer Kraft am 23. Dezember 2027 durch Nummer 2 des RdErl. vom 22. Dezember 2022 (Nds. MBl. 2023 S. 128)