Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 06.10.1989, Az.: VIII 393/89

Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrags nach § 32a Abs. 1 Nr. 1 EStG; Anspruch auf Terminsvertagung wegen der Möglichkeit Musterverfahren zu führen und abzuwarten; Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit; Freistellung des Existenzminimums

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
06.10.1989
Aktenzeichen
VIII 393/89
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1989, 14566
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:1989:1006.VIII393.89.0A

Redaktioneller Leitsatz

Gegen die Höhe des Grundfreibetrages 1987 (§ 32a Abs. 1 Nr. 1 EStG) bestehen keine verfassungsmäßigen Bedenken.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrages nach § 32a Abs. 1 Nr. 1 EStG.

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Mit Bescheid vom 01.02.1989 setzte das Finanzamt (FA) für die Kläger ein zu versteuerndes Einkommen von DM 97.687 und eine darauf entfallende Einkommensteuer von DM 27.978 entsprechend der Splitting-Tabelle fest.

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Hiergegen richtet sich die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage.

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Die Kläger vertreten die Auffassung, daß der Grundfreibetrag, der im Streitjahr für Verheiratete DM 9.072 betrug, zu niedrig bemessen sei. Es würden deshalb auch solche Einkommensteile der Besteuerung unterworfen, die das Existenzminimum berührten. Zweck des Grundfreibetrages sei es jedoch, dieses Existenzminimum nicht anzutasten, um dadurch den notwendigen Lebensunterhalt des Steuerpflichtigen für Nahrung, Kleidung und Wohnung abzudecken.

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Da dies beim Grundfreibetrag nicht gewährleistet sei, ergäbe sich ein Verstoß gegen das aus Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) abzuleitende Gebot der Steuergerechtigkeit sowie gegen das Sozialstaatsgebot (Art. 20 GG) und auch gegen die Einkommensgarantie des Art. 14 GG.

6

Ein realitätsgerechter Grundfreibetrag, so meinen die Kläger, müsse sich demgegenüber am sozialhilferechtlichen Begriff des Existenzminimums orientieren. Unter Berücksichtigung der Regelsätze des Sozialhilferechtes und der Zuschläge für Ernährung, Wohnung, Heizung und ähnlichem müßte für Ledige ein Grundfreibetrag von DM 10.000 und für Verheiratete ein solcher von DM 16.000 zugrunde gelegt werden.

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Die Kläger beantragen,

den angefochtenen Einkommensteuerbescheid 1987 vom 1. Februar 1989 zu ändern und die Steuer neu festzusetzen, wobei der Grundfreibetrag bei Anwendung der Splitting-Tabelle DM 16.000 betragen soll.

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Das Finanzamt beantragt,

die Klage abzuweisen.

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Es hält die Regelung über den Grundfreibetrag für verfassungsgemäß.

10

Der Prozeßbevollmächtigte der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vom 6. Oktober 1989 beantragt, den Streitfall zu vertagen und die mündliche Verhandlung aus Gründen der Prozeßökonomie auf die Fälle mit dem Aktenzeichen VIII 479/89 und VIII 496/89 zu beschränken. Der Senat hat diesen Antrag als unbegründet zurückgewiesen und den entsprechenden Beschluß in der Verhandlung vom 6. Oktober 1989 verkündet.

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Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten im einzelnen wird auf die zwischen ihnen im Einspruchs- und Klageverfahren gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist unbegründet.

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1.

Eine Vertagung des anberaumten Termins zur mündlichen Verhandlung entsprechend § 227 ZPO kam deshalb nicht in Betracht, weil erhebliche Gründe, die eine Vertagung hätten rechtfertigen können, nach Auffassung des Senats nicht vorlagen. Der Meinung des Prozeßbevollmächtigten der Kläger, wonach es aus Gründen der Prozeßökonomie geboten sei, hinsichtlich der anstehenden Streitfrage lediglich ein oder zwei sog. Musterverfahren zu entscheiden und im übrigen eine höchstrichterliche Entscheidung abzuwarten, vermochte der Senat nicht zu folgen. Dies mag zwar im Einzelfall ein erheblicher Grund für die Vertagung oder sogar für ein Ruhen des Verfahrens sein; für die hier zu entscheidende Frage der Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrages ist dieser Grund nach Überzeugung des Senats jedoch unerheblich.

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Da der Grundfreibetrag jeden Steuerpflichtigen betrifft und somit auch in jedem Urteil hierüber mitentschieden wird, ist der Senat schon deshalb gehalten, alle insofern anhängigen Verfahren zu entscheiden. Hätte er sich demgegenüber auf einige wenige Musterverfahren beschränkt und in den übrigen Fällen ein Ruhen des Verfahrens angeordnet, so hätte er angesichts der vorgeschilderten großen Breitenwirkung dieser Streitfrage bis zu einer höchstrichterlichen Entscheidung überhaupt kein Verfahren mehr entscheiden dürfen. Dies aber widerspricht gerade auch der Prozeßökonomie und hätte vor allem auch einen vorübergehenden Stillstand der Rechtspflege zur Folge gehabt.

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2.

Materiell-rechtlich hat die Klage keinen Erfolg, weil § 32a Abs. 1 Nr. 1 EStG nicht gegen Vorschriften des Verfassungsrechts verstößt. Insbesondere ist das Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG nicht verletzt.

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Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) leitet aus Art. 3 Abs. 1 GG das Gebot der Steuergerechtigkeit und daraus folgend den Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ab (vgl. BVerfG-Beschluß vom 03.11.1982, BStBl II 1982, 717; Beschluß vom 22.02.1984, BStBl II 1984, 357; Beschluß vom 04.10.1984, BStBl II 1985, 22). Es hat in diesem Zusammenhang mehrfach erklärt, daß dieses Prinzip in besonderem Maße für den Bereich der Einkommensteuer gilt (BVerfG-Beschluß vom 23.11.1976, BStBl II 1977, 135; Beschluß vom 22.02.1984, a. a. O.).

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Im vorliegenden Fall ist der Senat der Auffassung, daß diese verfassungsrechtlichen Grundprinzipien durch die Bemessung des Grundfreibetrages nach § 32a Abs. 1 Nr. 1 EStG nicht verletzt sind.

18

a)

Ausgehend davon, daß der Grundfreibetrag nach der Vorstellung des Gesetzgebers das sog. Existenzminimum des Bürgers steuerfrei belassen soll (vgl. Bundestagsdrucksache II/481, 66), wird in Teilen der Rechtsprechung und Literatur die Auffassung vertreten, dieser sei für sich gesehen realitätsfremd im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. z. B. Finanzgericht Köln, Urteil vom 14.07.1988, EFG 1988, 581; Tipke/Lang, Steuerrecht, 12. Aufl. 1989 S. 214; Littmann/Stephan, Das Einkommensteuerrecht, § 32a, Rdn. 10; Traxel, Anmerkung zum Urteil des Finanzgerichts Köln vom 14.07.1988, in DStZ 1989, 127), was zur Folge habe, daß der Grundfreibetrag für das Existenzminimum des Steuerpflichtigen nicht ausreiche. Daraus wiederum ziehen einige Autoren den Schluß, daß die Vorschrift des § 32a Abs. 1 Nr. 1 EStG schon deshalb gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoße und mithin verfassungswidrig sei (z. B. Traxel, a. a. O.).

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Der Senat vermag sich dieser Auffassung nicht anzuschließen.

20

Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach, u. a. in seinen Grundsatzentscheidungen zu § 33a Abs. 1 Satz 1 EStG (Beschluß vom 22.02.1984, BStBl 1984, a. a. O.; Beschluß vom 04.10.1984, a. a. O.) zur "realitätsfremden Grenze" Stellung genommen. Es hat erklärt, daß in diesem Zusammenhang das Sozialhilferecht wesentliche Anhaltspunkte liefern kann (Beschluß vom 22.02.1984, a. a. O. S. 360) und ausgeführt, daß der Gesetzgeber gegen den Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit und damit gegen das aus Art. 3 Abs. 1 GG zu entnehmende Gebot der Steuergerechtigkeit verstoße, wenn er realitätsfremde Grenzen ziehe und ein einmal gewähltes Ordnungsprinzip ohne zwingenden Grund unbeachtet lasse (Beschluß vom 22.02.1984, a. a. O. S. 350; Beschluß vom 04.10.1984, a. a. O. S. 25). In sämtlichen Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht und ihm folgend auch der Bundesfinzanzhof - BFH - (vgl. z. B. BFH-Beschluß vom 06.11.1987, BStBl II 1988, 134; Beschluß vom 02.08.1988, HFR 1988, 627) jedoch immer nur die Regelsätze der Sozialhilfe als Vergleichsmaßstab dafür herangezogen, ob die realitätsfremde Grenze für eine Steuervergünstigung überschritten ist. Zu Recht sind nach Auffassung des Senats sonst. Sozialhilfeleistungen wie z. B. Wohngeld (vgl. WohngeldG i.d.F vom 25.05.1988 - BGBl I, 647 - und VO zum WohngeldG vom 25.05.1988 - BGBl I, 643 und 647 -) nicht mit einbezogen worden. Denn diese weiteren Vergünstigungen werden unabhängig von den Regelsätzen der Sozialhilfe gewährt und sind deshalb nicht geeignet, einen sinnvollen Vergleichsmaßstab abzugeben. Allein die Regelsätze der Sozialhilfe sind im übrigen dazu da, den Grundbedarf des Bürgers abzudecken und ihm eine menschenswürdige Lebensführung zu ermöglichen (§ 1 Abs. 2 Satz 1 BSHG).

21

Bei einem Vergleich der sozialhilferechtlichen Regelsätze mit dem Grundfreibetrag gelangt der Senat nicht zu einer Verletzung des Gleichheitsgebotes i. S. d. Art. 3 Abs. 1 GG.

22

Die Regelsätze der Sozialhilfe betrugen in Niedersachsen

1985:4.428,00 DM
1986:4.632,00 DM
1987:4.704,00 DM
1988:4.764,00 DM
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Die Höhe des Grundfreibetrages hat sich demgegenüber im gleichen Zeitraum wie folgt entwickelt:

1985:4.212,00 DM
1986:4.536,00 DM
1987:4.536,00 DM
1988:4,752,00 DM.
24

Aus diesem Vergleich ergibt sich also, daß sich beide Beträge gleichmäßig parallel und auf einem fast identischen Niveau entwickelt haben. Daß dabei der Grundfreibetrag um bis zu 3,6 v.H. hinter den Regelsätzen der Sozialhilfe zurückbleibt, ist unbeachtlich und macht ihn nicht realitätsfremd. Nach der Rechtsprechung des BFH würde insofern selbst eine Differenz von 23 v.H. noch nicht zu einer Verfassungswidrigkeit wegen realitätsfremder Grenzen führen (BFH-Beschluß vom 06.11.1987, a. a. O. S. 135).

25

b)

Unabhängig davon ist der Senat der Auffassung, daß selbst dann, wenn der Grundfreibetrag bei einer isolierten Betrachtung zu niedrig bemessen wäre, sich noch kein Verfassungsverstoß ergeben würde. Vielmehr könnten dann allenfalls solche Steuerpflichtige eine Grundrechtsverletzung rügen, die zur Erfüllung ihrer Steuerschuld das nach Auffassung der Kläger realistische Existenzminimum angreifen müßten. Legt man hierfür entsprechend dem Vortrag der Kläger für Verheiratete DM 16.000 im Jahr zugrunde, so würden ihnen im Streitfall nach Abzug der Einkommensteuer noch DM 69.709 verbleiben. Dies ist ein Betrag, der auch nach dem Vorbringen der Kläger in jedem Fall das Existenzminimum absichert (im Ergebnis so auch Finanzgericht Köln, Urteil vom 14.07.1988, a. a. O.).

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3.

Aus den gleichen Gründen scheidet auch ein Verstoß gegen das Sozialstaatsgebot des Art. 20 GG aus.

27

4.

Auch ein Verstoß gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG liegt nicht vor. Zwar ist Art. 14 GG grundsätzlich auch vom Steuergesetzgeber zu beachten. Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG können jedoch allenfalls die sog. konfiskatorischen Steuern, die den Gewinn des steuerpflichtigen völlig wegsteuern und zu wiederholten Eingriffen in die Vermögenssubstanz nötigen, enteignende Wirkung entfalten (vgl. z. B. BVerfGE 23, 288; 30, 250). Diese Grundsätze sind im vorliegenden Fall nicht tangiert.

28

Da der Senat nach all dem eine Verfassungswidrigkeit des § 32a Abs. 1 Nr. 1 EStG nicht erkennen konnte, kam eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht gem. Art. 100 Abs. 1 GG nicht in Betracht.

29

Der Senat hat jedoch gem. § 115 Abs. 2 Nr. 1 EFG die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Er ist zu dieser Entscheidung gelangt, weil er den Auffassung ist, daß eine Entscheidung des BFH wegen der großen Breitenwirkung der Rechtsfrage im allgemeinen Interesse liegt.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.