Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 08.12.1982, Az.: 5 A 464/82
Nichtzurechung des Verschuldens eines Rechtsanwalts im Verwaltungsprozess; Sittenwidrige Schädigung der Partei durch Rechtsanwalt aufgrund Art und Weise der Behandlung des Mandats; Besondere Vertrauensstellung eines Rechtsanwalts als Rechtspflegeorgan
Bibliographie
- Gericht
- VG Stade
- Datum
- 08.12.1982
- Aktenzeichen
- 5 A 464/82
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1982, 13857
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGSTADE:1982:1208.5A464.82.0A
Rechtsgrundlagen
- § 85 Abs. 2 ZPO
- § 60 Abs. 2 VwGO
- § 43 S. 1 BRAO
Fundstelle
- NJW 1983, 1509 (amtl. Leitsatz)
Verfahrensgegenstand
Abschiebungsandrohung (§§ 10, 11 AsylVfG)
Hinweis
Berichtigt durch
VG Stade - 14.02.1983 - AZ: 5 A 464/82
Prozessführer
türkischer Staatsangehöriger...
Prozessgegner
Landkreis Celle,
vertreten durch den Oberkreisdirektor, Postfach, 3100 Celle 1
Redaktioneller Leitsatz
Verschulden im Sinne des § 85 Abs. 2 ZPO umfaßt aber nicht die vorsätzlich sittenwidrige Schädigung einer Partei durch den Rechtsanwalt.
In der Verwaltungsfechtssache
hat die 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Stade
aufgrund der mündlichen Verhandlung
vom 8. Dezember 1982,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender: Richter am Verwaltungsgericht Frohnecke,
Richter am Verwaltungsgericht Steffen, Richterin Schröder
Ehrenamtlicher Richter...und ...
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Verfügung des Beklagten vom 16. September 1982 wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Berufung wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Der Kläger beantragte durch seinen Prozeßbevollmächtigten erfolglos die Anerkennung als Asylberechtigter. Der Ablehnungsbescheid des Bundesamtes vom 27. März 1980 wurde nicht angefochten, weil der Kläger nach Angaben seines ... Bevollmächtigten innerhalb der Klagefrist keinen förmlichen Klagauftrag erteilt, sondern einen Vorschuß geleistet hatte, dessen Eingang in der Kanzlei versehentlich nicht innerhalb der Klagfrist registriert worden war.
Gegen die darauf dem ... Bevollmächtigten zugestellte Abschiebungsandrohung des Beklagten vom 9. September 1980 erhob dieser verspätet und erfolglos für den Kläger Widerspruch und darauf verspätet Klage mit Wiedereinsetzungsgesuch unter Hinweis auf ein nicht näher dargelegtes Büroversehen.
In dem klagabweisenden Gerichtsbescheid vom 27. August 1981 (2 VG A 36/81 - Kammern Lüneburg) wird ausgeführt:
"... das Verschulden seines Bevollmächtigten ist ihm nach § 85 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 173 VwGO zuzurechnen: Dieser kann sich nicht mit einem allgemeinen Hinweis auf ein Büroversehen entlasten, das trotz gerichtlicher Aufforderung nicht näher dargelegt wurde. Fristsachen sind von Anwälten mit größter Genauigkeit zu behandeln. Zwar kann es einem Anwalt nicht vorgeworfen werden, wenn er sich angesichts der Vielfalt der in seinem Büro anfallenden Rechtsprüfungen und der damit verbundenen verschiedenartigen Ausgestaltung der Rechtswege und der Rechtsmittelfristen bei der Erfüllung dieser Aufgabe der Hilfe seiner Bürokräfte bedient. Angesichts der erheblichen Folgen einer Fristversäumnis hat er sich hierbei aber der größtmöglichen Sorgfalt zu befleißigen. Insbesondere hat er seine Kanzlei so zu organisieren, daß bei gewissenhafter Tätigkeit seiner Hilfskräfte eine Fristversäumnis nicht vorkommen kann und diese Tätigkeit sich auch überwachen läßt. Dies wiederum ist nur dann möglich, wenn die Organisation der Kanzlei eine Überprüfung der einzelnen Vorgänge im Nachhinein überhaupt zuläßt (vgl. BVerwGE 27, 36 = NJW 1967, 2026 und BVerwG NJW 1975, 228)."
Im Berufungsurteil vom 16. Februar 1982 (11 OVG A 445/81) wird nochmals hervorgehoben:
"Er muß sich ein Verschulden seines Prozeßbevollmächtigten wie eigenes Verschulden zurechnen lassen. Der Prozeßbevollmächtigte hat sich mit dem Hinweis auf ein Büroversehen nicht entlastet. Ein Anwalt muß Fristsachen mit größter Genauigkeit behandeln. Er darf sich zur Fristermittlung und Fristkontrolle seines Personals bedienen. Diese Tätigkeiten müssen aber in seinem Büro nicht unüblich sein und dürfen keine besonderen Schwierigkeiten machen. Hierfür muß der Geschäftsgang im Büro so rationell und übersichtlich organisiert sein, daß bei sorgfältiger Arbeitsweise eine Fristversäumnis auch in Zeiten eines starken Geschäftsanfalls nicht vorkommen kann. Das Personal muß gut ausgebildet und sorgfältig überwacht werden (BVerwG, Buchholz 310, § 60 Nr. 112). Der Prozeßbevollmächtigte hat weder zur Organisation seines Büros noch zur Auswahl und Überwachung seines Personals Angaben gemacht. Diese Angaben waren auch nicht mehr nachholbar. Die Wiedereinsetzungsgründe sind nach dem Sinn und Zusammenhang des § 60 Abs. 2 VwGO innerhalb der Zweiwochenfrist für den Wiedereinsetzungsantrag geltend zu machen, sofern sie nicht offenkundig sind (BVerwG, Buchholz 310, § 60 Nr. 86)."
Beide Urteile wurden dem ... Bevollmächtigten des Klägers zugestellt.
Die von ihm daraufhin eingelegte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision wurdemit Beschluß vom 12. Mai 1982 (BVerwG 1 B 42.82) verworfen, weil sie nicht innerhalb der Beschwerdefrist begründet worden war. Davon hat der ... Bevollmächtigte des Klägers erstmals durch den Hinweis des Gerichts vom 19. November 1982 in diesem Verfahren nach eigenen Angaben mit Überraschung Kenntnis genommen.
Trotz Rechtskraft der Abschiebungsandrohung vom 9. September 1980, erteilte der Beklagte dem Kläger am 18. Mai 1982 eine asylverfahrensabhängige Aufenthaltserlaubnis.
Nachdem der ... Bevollmächtigte am 28. Juni 1982 für den Kläger einen Folgeantrag fernmündlich dem Beklagten angekündigt hatte und er von dem Beklagten am 29. Juli 1982 daran erinnert worden war, stellte er für den Kläger am 9. August 1982 erneut einen Asylantrag u.a. mit der Begründung:
"... er ist von dem Bundesamt rechtskräftig mit seinem Asylantrag vom 13. Juni 1979 abgelehnt worden, weil seinerzeit durch ein Büroversehen des Unterzeichners dem rechtzeitigen Klagauftrag nicht nachgekommen war. In dem sich dann anschließenden Verfahren vor dem Verwaltungsgerichten ist in keinem Zeitpunkt eine Sachentscheidung über die bei dem Antragsteller vorliegenden Verfolgungsgründe ergangen ... - ... der Antragsteller ist den türkischen Behörden bekannt. Er hat wegen seiner Tätigkeiten in der Vergangenheit bei seiner Einreise mit seiner Verhaftung zu rechnen. Schon allein diese Gefahr mit den in der Vergangenheit immer wieder offenkundig gewordenen "Verhörmethoden" und die Anwendung der Folter in den türkischen Gefängnissen, rechtfertigt die Anerkennung als politisch Verfolgter."
Der Beklagte hielt den Folgeantrag für einen unbeachtlichen Asylantrag und forderte den Kläger mit Verfügung vom 16. September 1982 unter Abschiebungsandrohung bis zum 25. November 1982 zur Ausreise auf. Diese Verfügung wurde dem ... Bevollmächtigten gegen Empfangsbekenntnis am 22. September 1982 zugestellt.
Dagegen hat der Kläger durch ihn am 24./27. September 1982 um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht (5 VG D 35/82) mit dem ausdrücklichen Hinweis, es werde noch rechtzeitig Anfechtungsklage erhoben.
Am 25./27. Oktober 1982 hat er Klage erhoben und Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Klagfrist begehrt, weil die Klagschrift durch ein Büroversehen seines ... Bevollmächtigten erst am 25. Oktober 1982 geschrieben worden sei. Die Fristenüberwachung werde von ausgebildetem Fachpersonal vorgenommen, das von Zeit zu Zeit, bisher ohne Beanstandungen, überprüft und auf die Einhaltung und penible Überwachung von Rechtsmittelfristen hingewiesen werde. Der ... Bevollmächtigte selbst habe noch am 22.10.1982, dem Tag des Fristablaufs ganztägig Verhandlungstermine bei dem erkennenden Gericht wahrgenommen und sei daher gehindert gewesen, die Klagfrist an diesem Tag zu wahren.
Nach Aufforderung des Gerichts, das für die Fristversäumnis angebliche Büroversehen darzulegen und glaubhaft zu machen, erklärte der ... Bevollmächtigte in der mündlichen Verhandlung: Nachdem der Kläger ihn am 1.10.1982 mit der Klagerhebung beauftragt, eine Vollmacht unterzeichnet und 200,- DM Vorschuß geleistet habe, sei diese Sache auf seine Weisung hin von seiner Büroangestellten, Frau ..., in dem Fristenkalender zur Wiedervorlage auf den 15.10.1982 genau notiert worden und an diesem Tag, einem Freitag, mit dem Stapel aller Wiedervorlagen auf seinen Schreibtisch gelegt worden, ohne als Fristsache besonders gekennzeichnet zu sein. Eine derartige Kennzeichnung habe er erst aus Anlaß dieses Falles in seiner Kanzlei neu eingeführt. An diesem Freitag habe er die Sache nicht mehr bearbeitet. Dort sei sie zunächst bis zum folgenden Donnerstag, den 21.10.1982, unbearbeitet liegengeblieben. An diesem Tage sei die Handakte von seinem Kanzleipersonal nochmals herausgesucht und ihm im Stapel der Wiedervorlagen dieses Tages erneut vorgelegt worden, weil sie als Fristsache nochmals einen Tag vor Fristablauf zur Nachkontrolle notiert worden sei. Auch am 21.10.1982 habe er den Vorgang aber nicht bearbeitet. Am 22.10.1982, dem Tag des Fristablaufs, habe er sie wegen des ganztägigen Verhandlungstermines vor dem erkennenden Gericht nicht bearbeiten können. Wäre sie ihm noch am 21.10.1982 aufgefallen, hätte er sie tags darauf noch dem Gericht vorlegen können, weil die Asylklagen in seiner Kanzlei aus Textbausteinen durch einen Schreibautomaten gefertigt würden. Im übrigen halte der Kläger den Folgeantrag für einen beachtlichen Asylantrag, weil aufgrund der inzwischen geänderten Beweislage Jeziden und bekennende Kurden bereits als politische Verfolgte Anerkennung gefunden hätten. Der Kläger gehöre zu beiden gefährdeten Personenkreisen.
Der Kläger beantragt,
ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Klagfrist und vorsorglich auch wegen Versäumung der Zwei-Wochen-Frist nach § 60 Abs. 2 VwGO zu gewähren und die Verfügung des Beklagten vom 16. September 1982 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist der Auffassung, die Klage sei unzulässig. Der Kläger müsse sich das Verschulden seines Rechtsanwalts zurechnen lassen, der es wie in der Vergangenheit schuldhaft versäumt habe, rechtzeitig Klage zu erheben. Im übrigen bestehe in der Türkei für Jeziden nicht die Gefahr politischer Verfolgung. Er beherberge in seinem Zuständigkeitsbereich seit mehr als 10 Jahren eine große Anzahl jezidischer Kurden. Nie habe er von ihnen gehört, daß sie in der Türkei verfolgt würden, obschon er einräume, daß er nicht einen Jeziden dazu befragt habe.
Wegen des weiteren Sachverhalts im einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und die beigezogene Ausländerakte des Beklagten verwiesen. Dieser Vorgang war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
II.
A.
Die Klage ist zulässig, obwohl die Klagfrist (§ 74 VwGO) mit Ablauf des 22.10.1982 (Freitag) abgelaufen war, bevor die Klage bei Gericht am 27.10.1982 einging. Die Monatsfrist begann zu laufen am 23.9.1982 (§ 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO, § 188 Abs. 2 BGB), da die mit ordnungsgemäßer Rechtsmittelbelehrung (§ 58 Abs. 1 VwGO) versehene Abschiebungsandrohung dem mit Vollmacht im Verwaltungsverfahren aufgetretenen ... Bevollmächtigten des Klägers (§ 8 Abs. 1 VwZG) unstreitig am 22.9.1982 gegen Empfangsbekenntnis zugestellt worden war.
Dem Kläger war Wiedereinsetzung zu gewähren, da er ohne Verschulden verhindert war, die gesetzliche Frist einzuhalten (§ 60 Abs. 1 VwGO),
1.
Der Wiedereinsetzungsantrag ist zulässig.
Der Antrag ist binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die Tatsachen zur Begründung des Antrages sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen. Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen. Ist dies geschehen, so kann die Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden (§ 60 Abs. 2 VwGO),
a)
Das mit dem Wiedereinsetzungsantrag angedeutete Hindernis für eine rechtzeitige Klagerhebung, das angebliche "Büroversehen" in der Kanzlei des Bevollmächtigten des Klägers, ist spätestens am 25.10.1982 weggefallen. Unter diesem Datum ist die Klagschrift verfaßt worden. Die Zwei-Wochen-Frist ist danach am 8.11.1982 (Freitag) abgelaufen. Bis zu diesem Zeitpunkt hat der Kläger die versäumte Klage nachgeholt, nicht aber die zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrages dienenden Tatsachen vorgebracht. Diese Tatsachen sind mit dem Antrag oder jedenfalls innerhalb der Antragsfrist vorzubringen. Ihre Glaubhaftmachung mag später erfolgen. Nur so ist die zügige und sachgemäße Behandlung des Wiedereinsetzungsbegehrens gewährleistet, die erforderlich ist, um die Unsicherheit, ob es bei den Folgen der Fristversäumnis bleibt oder nicht, in engen Grenzen zu halten (BVerwGE 49, 252/54). Erforderlich war hier die Darlegung prüffähiger Tatsachen, worin das Büroversehen bestand. Innerhalb der Antragsfrist hat der Bevollmächtigte des Klägers weder die Fehlerquelle für die verspätete Klagerhebung im kanzlei-internen Arbeitsablauf ("verhindert") dargelegt, die dafür verantwortliche Hilfsperson benannt, noch die ihn von dem Vorwurf mangelhafter Auswahl, Anleitung und Überwachung dieser Hilfspersonen oder mangelhafter Organisation des Kanzleibetriebes ("unverschuldet") entlastenden Umstände vorgetragen. Er hat innerhalb der Antragsfrist nur vorgebracht, die Klage sei aufgrund eines Büroversehens zu spät geschrieben worden und er überwache sein ausgebildetes Personal mit Erfolg durch Stichproben.
Dieses Vorbringen, als glaubhaft unterstellt, erlaubt noch keinen Schluß darauf, daß der Kläger verhindert war, rechtzeitig Klage zu erheben, weil sein Bevollmächtigter ohne eigenes Verschulden (§ 173 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO) daran gehindert war.
b)
Der Kläger wahrt dennoch die Antragsfrist des § 60 Abs. 2 VwGO, weil das wirkliche Hindernis für eine rechtzeitige Klagerhebung für ihn bei richtiger Würdigung nicht in einem ihm zurechenbaren Fehlverhalten seines Bevollmächtigten, sondern vielmehr darin bestand, daß dieser ihn durch die Art und Weise der Behandlung des Mandates vorsätzlich sittenwidrig schädigte. Denn der Bevollmächtigte hat erst, nachdem er vom Gericht am 2.12.1982 aufgefordert worden war, das Büroversehen zu substantiieren und glaubhaft zu machen, in der mündlichen Verhandlung die wirkliche Ursache für den Fristablauf eingestanden. Diese bestand nicht in einem Versehen der Kanzleikräfte, wie sein Hinweis auf ein Büroversehen und die angeblich stichprobenweise Überwachung seines Personal vorspiegelte, sondern ausschließlich in seinem persönlichen Fehlverhalten: Er hatte die 9 Tage auf seinem Schreibtisch liegende Akte des Klägers einfach nicht bearbeitet. Dieses allein in der Unzuverlässigkeit des Bevollmächtigten liegende Hindernis ist dem Kläger bis zur mündlichen Verhandlung am 8.12.1982 verborgen geblieben. Die zugrundeliegenden Umstände waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und sind damit vom Kläger notwendig fristgerecht vorgetragen worden. 2. Das darauf gestützte Wiedereinsetzungsbegehren ist auch begründet.
a)
Die Versäumung der Klagfrist beruht ausschließlich auf den Fehlleistungen des Bevollmächtigten. Der Kläger hat bereits am 1.10.1982 ausdrücklich den Klagauftrag erteilt, eine Prozeßvollmacht ausgestellt und den geforderten Vorschuß geleistet. Er hat damit seinerseits lange vor Ablauf der Klagfrist am 22.10.1982 alles Erdenkliche ausgeräumt, was die Klagerhebung hätte verzögern können. Die Klagfrist wurde dennoch versäumt, weil der Bevollmächtigte seine persönlichen Pflichten auf das Gröblichste vernachlässigte. Selbst das für die verspätete Klagerhebung mit ursächliche Organisationsverschulden des Bevollmächtigten, daß die als "genaue" Fristsachen notierten Akten in seiner Kanzlei ohne jede nähere Kennzeichnung in einem Stapel mit den sonstigen Wiedervorlagen auf seinen Schreibtisch gelegt und ohne besondere Kennzeichnung auch im Anschluß daran zu den Schreibkräften getragen wurden, wiegt daneben gering.
b)
Dieses Verschulden ist dem Kläger aufgrund der für ihn unvorhersehbaren Umstände ausnahmsweise nicht gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbar. Hiernach steht das Verschulden des Bevollmächtigten dem Verschulden der Partei gleich. Diese Bestimmung gilt auch in Asylstreitverfahren (BVerfGE 60, 253 [BVerfG 20.04.1982 - 2 BvL 26/81]). Verschulden im Sinne des § 85 Abs. 2 ZPO umfaßt aber nicht die vorsätzlich sittenwidrige Schädigung einer Partei durch den Rechtsanwalt (Zöller, ZPO - Kommentar 13. Auflage 1981 § 85 Anm. I, 2 d S. 356). Dem entspricht die Pflicht des Gerichts, bei der Auslegung und Anwendung von Gesetzen im Einzelfall die Grundrechte und das Rechtstaatsprinzip zu wahren (BVerfGE 41, 323/26). Der Grundsatz von Treu und Glauben ist Bestandteil des Rechtstaatsprinzips. Nach diesem Grundsatz soll u.a. demjenigen, dem vorsätzlich in gegen die guten Sitten verstoßenderweise Schaden zugefügt wurde, daraus kein Nachteil erwachsen (vgl. § 826 BGB).
Wenn das Anwaltsverschulden dem Kläger hier ohne Rücksicht darauf zugerechnet würde, hätte sein Wiedereinsetzungsbegehren keinen Erfolg mit der Folge, daß der Kläger ohne gerichtliche Prüfung der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung abgeschoben werden würde. Dann hätte er Rechts- und damit möglichen Verfolgungsschutz nur verloren, weil er Opfer eines vorsätzlich sittenwidrigen Verhaltens geworden ist.
Der Bevollmächtigte hat diese Schadensgefahr für den Kläger durch Art und Weise der Behandlung des Mandats vorsätzlich sittenwidrig herbeigeführt. Allgemein anerkannt ist, daß die Sittenwidrigkeit auch in besonders leichtfertigem Verhalten, das als gewissenlos zu werten ist, liegen kann (Palandt-Thomas, BGB-Kommentar 41. Auflage 1982 § 826 Anm. 2 g; Münchner-Kommentar Bd. 3, 1980 § 826 Anm. 42 jeweils mit Nachweisen zur Rspr. des BGH). Hierbei genügt das Bewußtsein des Schädigers, daß aufgrund seines Verhaltens der Ändere einen Schaden erleiden könne, sofern er diesen möglichen Erfolg vorausgesehen und billigend in Kauf genommen und die Umstände gekannt hat, die das Verhalten als sittenwidrig erscheinen lassen (vgl. Palandt-Thomas a.a.O. Anm. 3 a, b). Ihre Fehlbewertung durch den Schädiger schließt den Sittenverstoß nicht aus (Münchner-Kommentar a.a.O. Anm. 43).
Durchweg ist ein solches Verhalten sittenwidrig, wenn der Schädiger mit Rücksicht auf sein Ansehen oder seinen Beruf eine Vertrauensstellung einnimmt (Palandt-Thomas und Münchner-Kommentar a.a.O.). Besonders leichtfertiges Verhalten liegt u.a. vor, wenn eine persönlich besonders ernstzunehmende Pflicht in grober Achtlosigkeit verletzt wird (vgl. Dreher-Tröndle StGB-Kommentar 40. Auflage 1982 § 15 Anm. 20). So liegt es hier.
aa)
Der Bevollmächtigte hat seine Vertragspflichten besonders grob verletzt. Er hat vielfach unbeachtet gelassen, was jedem Rechtsanwalt einleuchten mußte: Er hat bereits versäumt, die Klage gemeinsam mit dem vorläufigen Rechtsschutzantrag vom 24./27.9.1982 (5 VG D 35/82) zu verbinden, der nur sinnvoll war, wenn auch rechtzeitig Klage erhoben wurde. Das hat der Bevollmächtigte erkannt, denn er weist in dem Antragsschriftsatz vom 24.9.1982 ausdrücklich darauf hin, daß noch rechtzeitig Klage erhoben werde. Der Kläger hatte ihn am 1.10.1982 nochmals persönlich gebeten, Klage zu erheben, eine Prozeßvollmacht ausgestellt und den geforderten Vorschuß über 200,- DM bar bezahlt. Die Klagschrift bestand bereits als Textbaustein im Schreibautomat. Die Klagbegründung war bereits mit dem Rechtsschutzantrag vorgetragen worden. Danach bestand überhaupt kein Grund, die Klage nicht sogleich zu erheben, sondern die Handakte erst drei Wochen später, eine Woche vor Ablauf der Klagfrist am 15.10.1982, wiedervorlegen zu lassen. Nach Wiedervorlage am 15.10.1982 hat der Bevollmächtigte den Vorgang unbekümmert 9 Tage bis zum 25.10.1982 unbearbeitet gelassen, obschon er wußte, daß die Wiedervorlagestapel vom 15.10. und 21.10.1982 erfahrungsgemäß als Fristsachen nicht besonders gekennzeichnete Vorgänge enthielten, deren Rechtsmittelfrist abzulaufen drohte. Selbst nachdem er am 25.10.1982 den Fristablauf bemerkt und Klage mit einem Wiedereinsetzungsgesuch erhoben hatte, hat er keine antragsbegründenden Tatsachen innerhalb der Zwei-Wochen-Frist des § 60 Abs. 2 VwGO vorgetragen. Darüber ist er in der Vergangenheit eingehend in den Gründen des Gerichtsbescheides vom 27.8.1981 und des Berufungsurteils vom 6.10.1981 belehrt worden. Er wußte im übrigen auch aufgrund zahlreicher abweisender Urteile dieses Gerichts in Asyl klagen, daß diese Tatsachen in der Zwei-Wochen-Frist vorgetragen werden müssen und insbesondere, daß die bloße Andeutung eines Büroversehens nicht genügt. Dennoch berief er sich hier wiederholt unzureichend und sogar irreführend auf ein angebliches Büroversehen, anstatt noch innerhalb der Antragsfrist sein persönliches Fehlverhalten einzugestehen.
bb)
Der Rechtsanwalt hat aber nicht nur das besondere Vertrauen des Klägers in seine berufliche Stellung als Rechtspflegeorgan in Anspruch genommen. Er war auch gehalten, seine Vertragspflichten über seine allgemeine Berufspflicht zu gewissenhafter Tätigkeit (§ 43 Satz 1 BRAO) hinaus gegenüber dem Kläger persönlich besonders ernstzunehmen. Denn das vorliegende Streitverfahren mußte ausschließlich deshalb geführt werden, weil er persönlich in der Vergangenheit alle Rechtsmittelfristen für den Kläger versäumt hatte: Er hat den ihm ordnungsgemäß zugestellten Ablehnungsbescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 7.3.1980, wie er selbst einräumt, trotz rechtzeitigen Klagauftrages unbearbeitet gelassen, obwohl er selbst bei Kündigung des Auftrages vor Abschluß der Sache noch zu denjenigen Maßnahmen verpflichtet gewesen wäre, ohne die dem Kläger hätten Nachteile entstehen können (§ 34 Abs. 5 der Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts). Er hat gegen die darauf folgende Abschiebungsandrohung vom 9.9.1980 für den Kläger verfristet Widerspruch erhoben. Den zurückweisenden Widerspruchsbescheid hat er im Namen des Klägers mit verfristeter Klage angefochten und mit derselben Formulierung "durch Büroversehen erst heute geschrieben" einen schon förmlich unzureichenden Wiedereinsetzungsantrag gestellt. Er hat endlich gegen die Nichtzulassung der Revision im Berufungsurteil vom 6.10.1981 Beschwerde erhoben und darauf auch die gesetzliche Beschwerdebegründungsfrist unbeachtet gelassen und erst in diesem Verfahren nach eigenen Angaben durch das Gericht mit Überraschung zur Kenntnis genommen, daß diese Beschwerde am 12.5.1982 zurückgewiesen worden ist.
Er wußte, daß er aufgrund dieses Fehlverhaltene dem Kläger zu besonderer Sorgfalt verpflichtet war, um von ihm Schaden in Gestalt des Verlustes von Rechts- und Verfolgungsschutz abzuwenden. Diese Besorgnis hat er selbst ausdrücklich im Folgeantragsschriftsatz vom 9.8.1982 formuliert. Sein dafür ursächliches Fehlverhalten hat er dort ebenso zugestanden, wie zuvor dem Kläger persönlich im Anschluß an die Berufungsverhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht am 6.10.1981.
cc)
Dieses besonders leichtfertige Verhalten verstößt gegen die guten Sitten, weil der Bevollmächtigte als Rechtsanwalt eine Vertrauensstellung einnimmt, auf die insbesondere ein Ausländer angewiesen ist und unabhängig davon, weil sein Verhalten auch noch als besonders gewissenlos zu werten ist. Denn der Rechtsanwalt wußte um die Leibes- und Lebensgefahr des Klägers im Falle der drohenden Abschiebung in seinen Heimatstaat als Folge seines anwaltlichen Fehlverhaltens. Er formuliert selbst im Folgeantrag vom 9.8.1982, daß der Kläger in der Gefahr stehe, unter Anwendung von Folter in türkischen Gefängnissen verhört zu werden. Der Bevollmächtigte wußte auch aus zahlreichen anderen Verfahren vor diesem Gericht, daß das Asylbegehren eines Jeziden Erfolgsaussicht hatte, weil das Gericht, worauf er selbst hinweist, in seiner Rechtsprechung von einer Gruppenverfolgung der Jeziden ausgeht und deshalb jedem, noch religiös verwurzelten Angehörigen dieser Glaubensgemeinschaft Verfolgungschutz zubilligt (Urteil vom 1.9.1982 - 4 VG A 419/81). Darauf beruft er sich für den Kläger ausdrücklich in seinem Antragsschriftsatz vom 24.9.1982. Er kannte seinen eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung zufolge auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Anwendbarkeit des § 85 Abs. 2 ZPO im Asylstreitverfahren und wußte daher, daß sein persönliches Verschulden stets zum Nachteil des Klägers führen würde. Dennoch ließ er den Vorgang des Klägers 9 Tage lang unbekümmert auf seinem Schreibtisch liegen.
Der Bevollmächtigte hat die Gefährdung des Klägers auch billigend in Kauf genommen. Er hat gewußt, daß der Kläger in seinem Heimatstaat Leibes- und Lebensgefahren ausgesetzt sein werde, wenn er abgeschoben wird. Das war ihm nach Überzeugung des Gerichts gleichgültig (bedingter Vorsatz). Er hat nicht nur im Bewußtsein dieses Zusammenhanges fahrlässig gehofft, dies werde nicht geschehen. Denn er hat noch am 12.11.1982 in der mündlichen Verhandlung eines anderen Asylstreitverfahrens (5 VG A 893/81) dem Gericht erklärt, er habe den Wiedereinsetzungsgrund "Büroversehen" in diesem Fall erst gar nicht vorgetragen, weil er gewußt habe, daß dies ohnehin nicht zum Erfolg führe. Hätte er nur grob fahrlässig gehofft, der Kläger werde aufgrund seiner Fehlleistungen keinen Nachteil haben, hätte der Bevollmächtigte seine persönlichen Fehlleistungen als den wirklichen Hinderungsgrund für eine rechtzeitige Klagerhebung auch nicht bis zur mündlichen Verhandlung verschwiegen. Überdies hat er als Rechtsanwalt so leichtfertig gehandelt, daß er eine Schädigung des Klägers in Kauf genommen haben mußte (vgl. Palandt-Thomas a.a.O. Anm. 3 mit Nachw. zur Rspr. des BGH).
Unter diesen besonderen Umständen war dem Kläger Wiedereinsetzung zu gewähren, weil er ohne eigenes oder zurechenbar fremdes Verschulden gehindert war, rechtzeitig Klage zu erheben.
An der Aufhebung der angefochtenen Abschiebungsandrohung hatte der Kläger im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch ein Rechtsschutzbedürfnis. Die Abschiebungsandrohung ist erst danach, nämlich mit Verkündung der damals gemäß § 80 Abs. 6 Satz 2 VvGO unanfechtbar stattgebenden Entscheidung im Eilrechtsschutzverfahren kraft Gesetzes unwirksam geworden (§ 10 Abs. 4 Satz 2 AsylVfG).
B.
Die Klage ist begründet. Die angefochtene Abschiebungsandrohung ist rechtswidrig. Dafür wird auf die Gründe des Beschlusses der Kammer vom gleichen Tage (5 VG D 35/82) Bezug genommen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, ihre vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.
Da die angefochtene Abschiebungsandrohung mit Verkündung der stattgebenden Entscheidung im § 80 Abs. 5 VwGO-Verfahren gemäß § 10 Abs. 4 AsylVfG unabhängig von der Aufhebung durch dieses Urteil unwirksam werden wird, wird die Berufung keinen Erfolg haben können. Sie bleibt aber im Zeitpunkt dieser Entscheidung grundsätzlich statthaft. Mit Rücksicht darauf war über die Zulassung der Berufung zu entscheiden. Die Berufung war jedoch nicht zuzulassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen des § 32 Abs. 2 AsylVfG hier nicht vorlagen. (1)
Frohnecke
Schröder
(1) Red. Anm.: