Landgericht Braunschweig
Urt. v. 24.02.1955, Az.: 9 S 346/53

Anspruch auf Erstattung verauslagter Krankenpflegekosten; Verpflichtung eines Verkehrsteilnehmers, seine Überholungsabsicht dem nachfolgenden Verkehr anzuzeigen; Anspruch der gesetzlichen Krankenversicherung auf Erstattung der von ihr aufgewandten Krankenpflegekosten gegen den Schädiger

Bibliographie

Gericht
LG Braunschweig
Datum
24.02.1955
Aktenzeichen
9 S 346/53
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1955, 10167
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGBRAUN:1955:0224.9S346.53.0A

Verfahrensgang

vorgehend
AG Helmstedt - 05.05.1953 - AZ: 3 C 695/52

Verfahrensgegenstand

Erstattung verauslagter Krankenpflegekosten

In dem Rechtsstreit
hat die 9. Zivilkammer des Landgerichts in Braunschweig
auf die mündliche Verhandlung vom 17. Februar 1955
unter Mitwirkung
des Landgerichtspräsidenten ... als Vorsitzenden,
des Landgerichtsrats ... und
des Gerichtsassessors ... als beisitzender Richter,
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Beklagten gegen das am 5. Mai 1953 verkündete Urteil des Amtsgerichts Helmstedt wird auf seine Kosten mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Beklagte die Urteilssumme nicht mit 4 1/2 %, sondern nur mit 4 % zu verzinsen hat.

Tatbestand

1

Am 27. Januar 1952 wollte der bei der Klägerin versicherte, damalige Justangestellte ... nachmittags bei beginnender Dunkelheit auf der verschneiten und sehr glatten Bundesstrasse 244 von ... nach .... Etwa in der Höhe des Kilometersteines 15,1 setzte er zum überholen eines vor ihm fahrenden Radfahrers an. Da sieh aber zur gleichen Zeit der Beklagte, der mit seinem beleuchteten Kraftwagen in der selben Richtung fuhr, anschickte, die beiden Radfahrer zu überholen und aus diesem Grunde ein Hupsignal gab, ließ ... von seinem Vorhaben wieder ab. Bevor er sich jedoch wieder hinter dem anderen Radfahrer einreihen konnte, wurde ... er von dem Personenkraftwagen des Beklagten, der durch plötzliches Bremsen ins Rutschen gekommen war, erfasst und zu Boden geworfen. Wegen der bei dem Sturz erlittenen Verletzungen war ... bis zum 29. März 1952 bei Dr. med. ... in ... in ambulanter Behandlung. Für diese Zeit erhielt er von der Klägerin 288,88 DM Krankengeld. Der Klägerin sind jedoch von der Versicherungsgesellschaft des Beklagten nur 249,70 DM erstattet worden.

2

Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, dass der Beklagte für den Unfall allein verantwortlich sei und dass er ihr aus diesem Grunde ihre gesamten Aufwendungen für den Verletzten erstatten müsse. Als Aufwendungen hat sie ausser dem bereits erwähnten Krankengeld von 288,88 DM die Krankenpflegekosten nach einem Pauschalsatz in Höhe von 3/8 des Grundlohnes des Verletzten mit 210,61 DM berechnet und somit unter Anrechnung des bereits erstatteten 249,70 DM beantragt,

den Beklagten zur Zahlung von 249,71 DM nebst 4 1/2 % Zinsen seit dem 1. September 1952 zu verurteilen.

3

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

4

Er hat sich darauf berufen, dass der Verletzte den Unfall selbst verschuldet, zumindest aber überwiegend mitverschuldet habe. In diesem Zusammenhänge hat er behauptet, der Verletzte sei plötzlich bis über die Strassenmitte nach links in die Fahrbahn des Kraftwagens eingebogen, obwohl dieser nur noch etwa 8 Meter entfernt und sein Herannahen erkennbar gewesen sei.

5

Ferner hat der Beklagte die Höhe der Forderung bestritten und geltend gemacht, dass die Klägerin Pflegekosten nur in der tatsächlich aufgewendeten Höhe erstattet verlangen könne. Die tatsächlichen Aufwendungen betrugen aber bei einem Tagessatz von 1,50 DM und einer Behandlungsdauer von 63 Tagen insgesamt nur 94,50 DM.

6

Durch das hiermit in Bezug genommene Urteil vom 15. Mai 1953 hat das Amtsgericht Helmstedt den Beklagten nach dem Klageantrage verurteilt.

7

Es hat ein Mitverschulden des Verletzten verneint und die Krankenpflege kosten in der geltend gemachten Höhe als gerechtfertigt angesehen, weil dem Beklagten nach den §§ 1542 Abs. 2, 1524 Abs. 1 S. 2 RVO der Nachweis für seine Behauptung nicht offen stehe, dass tatsächlich nur geringere Kosten entstanden seien.

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Gegen das am 4. Juni 1953 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 30. Juni 1953 Berufung eingelegt. Diese hat er am 4. September 1953 begründet.

9

Er wiederholt seine erstinstanzlichen Ausführungen und behauptet, der Verletzte sei bereits etwa 2 Meter von der rechten Strassenseite entfernt gewesen, als er nach links eingebogen sei. Der Beklagte macht ferner erneut geltend, dass die Höhe der Klageforderung erheblich übersetzt sei und behauptet, die Gesamtkosten würden bei einer Privatbehandlung des Verletzten 70,- bis 80,- DM nicht überstiegen haben. Unter diesen Umständen, so meint der Beklagte, stelle die Berechnung der Pflegekosten nach einem Pauschsatz im Sinne von § 1542 RVO einen Rechtsmißbrauch dar.

10

Der Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

11

Demgegenüber beantragt die Klägerin,

die Berufung mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass die Klageforderung nur mit 4 % zu verzinsen sei.

12

Auch sie wiederholt ihren Vortrag aus dem ... ersten Rechtszuge und meint, bei dem weiten Spielraum, der dem Arzt nach der Gebührenordnung für die Berechnung seines Honorars zur Verfügung stehe, könne von einem Rechtsmißbrauch selbst dann keine Rede sein, wenn die tatsächlichen Aufwendungen infolge niedriger Honorarberechnung unter demnach dem Pauschsatz berechneten Betrage gelegen hätten.

13

Wegen der Einzelheiten des beiderseitigen Parteivorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, insbesondere auf die Schriftsätze des Beklagten vom 20.8.1953, 3.9.1953, 17.5.1954, 10.7.1954 und 4.1.1955 (Bl. 50, 52 f, 8 f, 62 und 87) sowie auf die Schriftsätze der Klägerin vom 18.6., 31.7. und 14.12.1954 (Bl. 61, 63 und 83 f d.A.) Bezug genommen.

14

In zweiter Instanz ist über die Höhe der erbrachten Leistungen Beweis erhoben worden durch Vernehmung des Arztes Dr. med. ... Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Vernehmungsprotokoll vom 25. November 1954 (Bl. 78 f d.A.) verwiesen.

15

Die Akten He 2 Js 436/52 der Distriktsstaatsanwaltschaft Helmstedt sind zum Gegenstand der mündlichen gemacht worden Auch auf ihren vorgetragenen Inhalt wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

16

Die Berufung des Beklagten ist zwar form- und fristgerecht eingelegt worden. Im Hinblick darauf, dass die Berufungsbegründungsfrist während der Gerichtsferien gehemmt war (§§ 199 GVG, 223 ZPO), ist die Berufung auch ordnungsgemäss begründet worden. Indessen ist sie sachlich in der Hauptsache nicht gerechtfertigt.

17

Nach § 1542 Abs. 1 RVO ist der Schadensersatzanspruch des Verletzten (...) gegen den Beklagten insoweit auf die Klägerin übergegangen, als diese dem Verletzten infolge des Unfalles Leistungen zu gewähren hatte. Dass dem Verletzten ein solcher Schadensersatzanspruch gegen den Beklagten zusteht, hat das Amtsgericht mit Recht festgestellt. Denn gemäss § 7 Abs. 1 StVG hat der Halter eines Kraftfahrzeuges demjenigen Schadensersatz zu leisten, der durch den in Betrieb befindlichen Kraftwagen verletzt worden ist. Für das Vorliegen eines unabwendbaren Zufalles im Sinne von § 7 Abs. 2 StVG sind keine Anhaltspunkte gegeben. Dem Beklagten war die an dem Unfalltage herrschende Strassenglätte bekannt. Er musste sich daher bei gehöriger Aufmerksamkeit klar darüber sein, dass diese Glätte Gefahren sowohl für ihn selbst, als auch für die beiden Radfahrer in sich barg und schnelle Ausweichmanöver erschwerte. Diesem Umstände hätte der Beklagte bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt Rechnung tragen und seine Fahrweise von vornherein so einrichten müssen, dass die beiden Radfahrer auch dann nicht gefährdet werden konnten, wenn sie geringfügig von ihrer bisherigen Fahrtrichtung abwichen. Das hat der Beklagte aber nicht getan; denn nach aller Voraussicht wäre der Unfall nicht geschehen, wenn der Beklagte die Radfahrer in einem grösseren Abstände übers holt und dadurch die Notwendigkeit des plötzlichen Bremsens vermieden hätte. Wie die Unfallskizze (Bl. 5 der Ermittlungsakten He 2 Js 436/52) ergibt, war hier für selbst dann genügend Platz vorhanden, wenn die Seitenstreifen verschneit waren. Dass ... sehr weit von seiner bisherigen Fahrtrichtung abgewichen und in völlig unvorhersehbarer Weise in die Fahrbahn des PKW hineingeraten sei, hat der Beklagte zwar behauptet. Er hat den ihm für diese Behauptung obliegenden Beweis jedoch nicht zu führen vermocht, da ... als einziger Unfallzeuge im Ermittlungsverfahren eine andere Darstellung gegeben und erklärt hat, dass er in der Mitte der rechten Fahrbahn gefahren sei und dass er, noch bevor er sein geplantes Überholungsmanöver ausgeführt habe, wieder nach rechts eingebogen und in etwa 60 bis 80 cm Entfernung vom rechten Strassenrand zu Fall gekommen sei.

18

Auch ein mitwirkendes Verschulden des ..., dass seinen Schadensersatzanspruch mindern könnte, ist nicht festzustellen. Denn ein Verkehrsteilnehmer, der einen anderen überholen will, ist im allgemeinen nicht verpflichtet, seine Überholungsabsicht dem nachfolgenden Verkehr anzuzeigen (Vgl. Müller, Strassenverkehrsrecht, 17, Aufl. 1954, Seite 793). Vielmehr ist es, da sich die Aufmerksamkeit eines jeden Fahrers in der Hauptsache auf die vor ihm liegende Fahrbahn zu richten hat, Sache des nachfolgenden Verkehrsteilnehmers, etwaige Überholungsbewegungen der Voraus fahrenden in Rechnung zu stellen.

19

Nach allem ist die Feststellung des Vorgerichtes, dass dem Verletzten ... ein - auf die Klägerin übergegangener - Schadensersatzanspruch gegen den Beklagten zusteht, nicht zu beanstanden.

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Die Höhe, in welcher der übergegangene Schadensersatzanspruch geltend gemacht werden kann, richtet sich nach der Höhe der Leistungen, die die Klägerin für den Verletzten zu erbringen hatte, wobei nach dem Gesetz davon ausgzugehen ist, dass als Kosten für Krankenpflege 3/8 des Grundlohnes des Verletzten anzusetzen sind (§§ 1542 Abs. 2, 1524 Abs. 1 S. 2 RVO). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, der sich auch die Kammer anschliesst, kann von dieser gesetzlich vorgeschriebenen Ausgelung nur in Ausnahmefällen und zwar nur dann abgewichen werden, wenn die verlangte Summe in einem so krassen Missverhältnis zu den tatsächlich gewährten Krankenpflegeleistungen steht, dass die Geltendmachung der Forderung gegen Treu und Glauben verstossen und eine so unbillige Begünstigung des Versichungsträgers auf Kosten des Schädigers darstellen würde, dass in der Geltendmachung der Forderung die missbräuchliche Ausnutzung einer formalen Rechtsposition zu sehen wäre (Vgl. BGH in NJW 54/508). Bei der Beurteilung der Frage, ob ein solches Missverhältnis vorliegt, kommt es mithin entscheidend nur auf die Leistungen an, die im Rahmen der Krankenpflege erbracht worden sind. Nicht ausschlaggebend ist dagegen, welches Honorar gerade der behandelnde Arzt für diese Leistungen verlangt haben würde, falls er den Verletzten als Privatpatienten behandelt hätte. Der Honoraranschlag des Arztes kann zwar dem Gericht - wie jede gutachtliche Stellungnahme - als Anhalt dafür dienen, ob sich der geforderte Pauschalsatz im Rahmen dessen hält, was nach den erbrachten Leistungen noch vertretbar erscheint. Er kann aber nicht als allein maßgebliche Grundlage für die Bemessung des Erstattungsanspruches verwendet werden; denn das würde eine völlige Umgehung der in den § 1542 und § 1524 RVO enthaltenen gesetzlichen Bestimmungen bedeuten, indem man grundsätzlich an die Stelle der vorgeschriebenen Pauschalberechnung eine Berechnung nach Einzelposten setzen würde.

21

Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte kann die von der Klägerin geltend gemachte Forderung nicht als aus dem Rahmen fallend angesehen werden. Einen gegen Treu und Glauben verstossenden Rechtsmissbrauch würde die Geltendmachung der von der Klägerin verlangten Beträge nur dann darstellen, wenn sich feststellen liesse, dass bei der gegebenen Sachlage höhere Honorarsätze, als sie von dem Zeugen Dr. med. ... in Ansatz gebracht worden sind, völlig unangemessen wären. Das ist aber nicht der Fall, Nach § 3 der Preugo richtet sich die Höhe des Honorars innerhalb der festgesetzten Grenzen u.a. auch nach der Beschaffenheit und der Schwierigkeit der Leistungen. Dass der Fall ... nicht einfach lag, ergibt sich allein schon aus der Tatsache, dass Dr. ... 15 Hausbesuche machen musste und 9 Konsultationen in seiner Sprechstunde erforderlich waren. Da Dr. ... mit seiner Berechnung nicht weit über die untere Grenze hinausgegangen ist, würden mithin so weit erhöhte Honorarsätze, dass einschliesslich der Fahrtkosten und Arzneien die ... Gesamtsumme von 210,61 DM erreicht würde, um so weniger zu beanstanden sein, als Dr. weder die Verbände noch die Injektionen als Sonderleistungen in Ansatz gebracht hat, obwohl er hierzu nach den Ziffern 25 und 32 der Preugo berechtigt gewesen wäre.

22

Da nach alledem keine Veranlassung bestand, das erstinstanzliche Urteil in der Hauptsache abzuändern, war die Berufung des Beklagten gegen das amtsgerichtliche Urteil als unbegründet zurückzuweisen. Das konnte allerdings nur mit der Maßgabe geschehen, dass der Beklagte. Die die Klägerin selbst nicht verkennt, statt des in erster Instanz festgesetzten Zinssatzes von 4 1/2 % nur 4 % Zinsen auf die Urteilssumme zu zahlen hat (§§ 286, 288 BGB). Mit Rücksicht darauf, dass die Abänderung des Zinssatzes nur geringfügig ist, waren dem Beklagten die gesamten Kosten des Berufungsverfahrens aufzuerlegen (§§ 97, 92 Abs. 2).