Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 16.11.2006, Az.: 1 Ws 551/06
Verlängerung der Bewährungszeit auf Antrag durch die Staatsanwaltschaft wegen neu begangener Straftat während der Bewährungszeit
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 16.11.2006
- Aktenzeichen
- 1 Ws 551/06
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2006, 27373
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:2006:1116.1WS551.06.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Oldenburg - 24.07.2006 - AZ: 15 BRs 364/05
Rechtsgrundlage
- § 453 Abs. 2 S. 1 StPO
Fundstellen
- NStZ 2007, VII Heft 4 (amtl. Leitsatz)
- NStZ-RR 2007, VI Heft 4 (amtl. Leitsatz)
- StraFo 2007, 33-34 (Volltext mit red. LS)
- ZAP EN-Nr. 0/2007
- ZAP EN-Nr. 411/2007
Amtlicher Leitsatz
Ist wegen einer in der Bewährungszeit begangenen neuen Straftat auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Bewährungszeit verlängert worden und durfte der Verurteilte auch deshalb darauf vertrauen, die Strafaussetzung werde nicht widerrufen, so ist eine erst drei Monate später eingelegte Beschwerde der Staatsanwaltschaft, mit der nunmehr ein Widerruf der Strafaussetzung erstrebet wird, verwirkt.
In der Strafvollstreckungssache
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg
am 16. November 2006
durch
die unterzeichnenden Richter
beschlossen:
Tenor:
Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Landgerichts Oldenburg, Strafvollstreckungskammer bei dem Amtsgericht Vechta, vom 24. Juli 2006, durch den auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Bewährungszeit hinsichtlich der mit Urteil des Amtsgerichts Hannover vom 19. April 2005 bewilligten Strafaussetzung zur Bewährung um ein Jahr verlängert worden ist, wird als unzulässig verworfen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich hierin entstandener notwendigen Auslagen der Verurteilten werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe
Die Verurteilte wurde am 19. April 2005 rechtskräftig wegen 4 Leistungserschleichungen, begangen durch 4malige Benutzung der H... Verkehrsbetrieben ohne die erforderlichen - geringwertigen - Fahrausweise, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Die Bewährungszeit wurde auf 3 Jahre festgesetzt. Der Verurteilten wurde die Ableistung von 200 Stunden gemeinnütziger Arbeit aufgegeben. Diese Auflage hat sie inzwischen erfüllt.
Am 31. August 2005 beging die Verurteilte eine weitere Straftat, nämlich einen Diebstahl von Spirituosen im Wert von 7,98 EUR. Sie wurde deshalb mit rechtskräftigem Urteil des Amtsgerichts Stendal vom 9. März 2006 zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt, die sie zur Zeit verbüßt, nachdem sie sich zum Strafvollzug selbst gestellt hatte.
Die Staatsanwaltschaft hat wegen der neuen Straftat die Verlängerung der Bewährungszeit um 1 Jahr beantragt. Diesem Antrag hat die Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 24. Juli 2006 entsprochen.
Gegen diese Entscheidung wendet sich die Staatsanwaltschaft mit der Beschwerde, mit der sie die Aufhebung der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer und den Widerruf der Strafaussetzung beantragt. Sie begründet das Rechtsmittel damit, dass wegen derselben Nachtat bereits am 4. Juli 2006 in zwei anderen Verfahren die Strafaussetzung widerrufen worden sei; da Gründe für eine unterschiedliche Behandlung nicht ersichtlich seien, sei die Strafaussetzung auch in dieser Sache zu widerrufen. Die Beschwerde ist der Verurteilten bislang nicht mitgeteilt worden. Dem Senat ist die Sache am 16. November 2006 vorgelegt worden.
Das Rechtsmittel ist als einfache Beschwerde an sich statthaft, § 453 Abs. 2 Satz 1 StPO. Die Beschwerde ist auch nicht bereits wegen fehlender Beschwer der Staatsanwaltschaft unzulässig. Denn die Staatsanwaltschaft erfüllt Aufgaben der staatlichen Rechtspflege und ist deshalb berechtigt, unabhängig von einer Beschwer gerichtliche Entscheidungen nach pflichtgemäßem Ermessen einer Überprüfung zuzuführen, vgl. Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl., Rdn. 16 vor § 296 m.w.Nachw..
Die Beschwerde ist aber wegen Verwirkung des Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft unzulässig. Die Verwirkung eines strafprozessualen Beschwerderechts ist für Ausnahmefälle anerkannt, in denen der Beschwerdeberechtigte längere Zeit untätig bleibt, obwohl er die Umstände und die Rechtslage kennt, vgl. Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl., Rdn. 6 vor § 296. Dass der Berechtigte erst mit erheblicher Zeitverzögerung sein Recht wahrnimmt, führt als solches allerdings noch nicht zur Verwirkung. Hinzu kommen muss vielmehr, dass der Berechtigte unter Verhältnissen untätig bleibt, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen zu werden pflegt, sofern dadurch eine Situation geschaffen wird, auf die der jeweilige Gegner vertrauen, sich einstellen und einrichten darf, vgl. BVerfG NJW 72, 675.
So liegt es hier. Das Gericht hatte die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 22. Juni 2006 auf die anderen noch offenen Bewährungssachen und die dort anstehenden Bewährungswiderrufe eigens hingewiesen. Die Staatsanwaltschaft hat im vorliegenden Fall daraufhin gleichwohl keinen Bewährungswiderruf, sondern ausdrücklich nur eine Verlängerung der Bewährungszeit um 1 Jahr beantragt. Die Verurteilte ist vom Gericht demgemäß sodann auch nur hierzu angehört worden. Die dem Antrag der Staatsanwaltschaft uneingeschränkt entsprechende Entscheidung ist dieser am 26. Juli 2006 zugeleitet worden. Die Bewährungswiderrufe in den anderen Verfahren waren derselben Staatsanwaltschaft bereits zuvor, am 7. Juli 2006, zugestellt worden. Ihre auf diese Widerrufe gestützte Beschwerde in dieser Sache ist erst am 23. Oktober 2006 bei dem zuständigen Gericht eingegangen.
Aus diesem Ablauf ergibt sich, dass die Staatsanwaltschaft bei der Verurteilten Vertrauen in die Bestandskraft der Entscheidung geweckt hat. Die Verurteilte ist seit ihrer Anhörung vor nunmehr über 4 Monaten im Glauben - und darf es sein -, dass in dieser Sache kein Bewährungswiderruf erfolgt, weil die Staatsanwaltschaft einen solchen selbst ausdrücklich nicht beantragt hat. In dieser Annahme durfte sich die Verurteilte dadurch noch bestärkt sehen, dass in den anderen Sachen ein Bewährungswiderruf von der Staatsanwaltschaft beantragt und vom Gericht ausgesprochen wurde. Aus ihrer Sicht war aufgrund dieser Handhabung offenkundig, dass im vorliegenden Verfahren gerade kein Bewährungswiderruf erfolgen sollte und würde. Dass die Verurteilte - etwa aufgrund sonstiger Umstände - mit einem Sinneswandel der Staatsanwaltschaft und einer nachfolgenden Beschwerde ihrerseits hätte rechnen müssen, ist nicht ersichtlich. Sie konnte sich demgemäß auch auf ein Haftende nach Verbüßung aller gegenwärtig noch offenen Strafen einrichten. Demgegenüber ist das Verhalten der Staatsanwaltschaft nicht mit sachlichen Erwägungen nachzuvollziehen. Schon der Beantragung eines Widerrufs der Strafaussetzung auch in dieser Sache stand nichts im Wege, noch viel weniger einer Beschwerdeerhebung in angemessener Zeit. Insbesondere erforderte die übersichtliche Sach- und Rechtslage hier keine längere Prüfungszeit. Deshalb und wegen der aktiven Rolle gerade der beschwerdeführenden Staatsanwaltschaft bei der Schaffung des Vertrauenstatbestandes hält der Senat hier den Untätigkeitszeitraum von rund 3 Monaten bis zu der Beschwerdeeinlegung als für eine Verwirkung schon ausreichend. Dass die angefochtene Entscheidung gerade auf Antrag der Staatsanwaltschaft ergangen ist, kann bei der hier gebotenen Gesamtabwägung mit herangezogen werden, auch wenn dies für sich allein gesehen nicht zur Unzulässigkeit der Beschwerde führt, vgl. OLG Hamm NStZRR 2004, 144.
Die Kostenentscheidung entspricht § 473 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 StPO.