Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 18.05.2016, Az.: 1 Ss 27/16

Keine Verwerfung der Berufung wegen Säumnis der Angeklagten bei vorheriger Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
18.05.2016
Aktenzeichen
1 Ss 27/16
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2016, 38492
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Braunschweig - 03.02.2016 - AZ: 7 Ns 235/15

Redaktioneller Leitsatz

Wenn ein Angeklagter von seiner Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden war (§ 233, § 332 StPO), kann bei seinem Ausbleiben in der Berufungsverhandlung keine Säumnisentscheidung gemäß § 329 Abs. 1 StPO ergehen. Im Falle der Entbindung vom persönlichen Erscheinen kann eine Entscheidung nur noch nach § 329 Abs. 2 StPO ergehen, sofern dessen weitere Voraussetzungen vorliegen.

Tenor:

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 3. Februar 2016 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Braunschweig zurückverwiesen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Braunschweig erließ am 19.08.2014 gegen die Angeklagte einen Strafbefehl, mit welchem diese wegen Steuerhinterziehung zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten, deren Vollstreckung zu Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt wurde. Die Angeklagte legte hiergegen Einspruch ein. Da die Angeklagte zur mündlichen Verhandlung nicht erschien, verwarf das Amtsgericht Braunschweig durch Urteil vom 13.07.2015 den Einspruch gegen den Strafbefehl. Hierauf legte die Angeklagte Berufung ein.

Das Landgericht Braunschweig bestimmte Termin zur Hauptverhandlung auf den 03.02.2016 und ordnete das persönliche Erscheinen der Angeklagten an. Nachdem die Angeklagte am 27.01.2016 über ihren Verteidiger dem Gericht mitgeteilt hatte, dass sie in einem anderen beim Landgericht Braunschweig anhängigen Strafverfahren ein ärztliches Attest über ihre Verhandlungsunfähigkeit eingereicht habe, entband das Landgericht Braunschweig mit Beschluss vom 27.01.2016 die Angeklagte von ihrer Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung vom 03.02.2016 und wies sie drauf hin, dass für den Fall ihres Ausbleibens gem. § 329 Abs. 2 StPO in ihrer Abwesenheit verhandelt werden könne. Am 03.02.2016 erschien die Angeklagte in der Hauptverhandlung nicht: Das Landgericht Braunschweig verwarf daraufhin die Berufung der Angeklagten.

Gegen dieses Urteil hat die Angeklagte mit Schriftsatz ihres Verteidigers vom 05.02.2016, eingegangen beim Landgericht am 08. Februar 2016, Revision eingelegt.

In der auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revisionsbegründung vom 04. März 2016 hat der Verteidiger beantragt, das landgerichtliche Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts Braunschweig zurückzuverweisen. Das Landgericht Braunschweig habe aufgrund der Entbindung der Angeklagten von ihrer Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen zu Unrecht von § 329 Abs. 1. S. 1 StPO Gebrauch gemacht. Wegen der Einzelheiten wird auf die Revisionsbegründung vom 04.03.2016 (Bl. 72 Bd. III d. A.) verwiesen.

Die Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig hat ebenfalls beantragt, das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 03.02.2016 mit den dazugehörigen Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Braunschweig zurückzuverweisen.

II.

Die gemäß § 333 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige (§§ 341 Abs. 1, 344, 345 StPO) Revision der Angeklagten hat - zumindest vorläufigen - Erfolg, weil das Landgericht zu Unrecht die Berufung der Angeklagten gem. § 329 Abs. 1 S. 1 StPO verworfen hat.

Die Voraussetzungen einer Berufungsverwerfung lagen nicht vor. Eine solche kann gem. § 329 Abs. 1 S. 1 StPO nur dann erfolgen, wenn eine nicht genügend entschuldigte Angeklagte zu Beginn der Hauptverhandlung ausbleibt oder kein Verteidiger mit einer schriftlichen Vertretungsvollmacht auftritt. Unabhängig von der Frage, ob die Angeklagte aufgrund etwaiger Erkrankung möglicherweise ausreichend entschuldigt war, kann nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO dann nicht mehr verfahren werden, wenn die Angeklagte von ihrer Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden war (§ 233, § 332 StPO) (so Brunner in Satzger/Schluckebier/Widmaier, 2. Aufl., 2016, § 329, Rn. 9). Im Falle der Entbindung vom persönlichen Erscheinen kann eine Entscheidung nur noch nach § 329 Abs. 2 StPO ergehen, sofern dessen weitere Voraussetzungen vorliegen. Das Landgericht hatte die Angeklagte mit Beschluss vom 27.01.2016 von ihrer Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden und sie mit diesem Beschluss darauf hingewiesen, dass im Falle ihres Nichterscheinens gem. § 329 Abs. 2 StPO in ihrer Abwesenheit entschieden werde. Eine Berufungsverwerfung gem. § 329 Abs. 1 S. 1 StPO war dem Landgericht Braunschweig somit verwehrt.

Ob das angefochtene Urteil darüber hinaus auch gegen § 338 Nr. 5 StPO verstößt, weil das Landgericht Braunschweig nach der Unterbrechung und Fortsetzung der Hauptverhandlung dann auch ohne den gem. § 140 Abs. 2 StPO beigeordneten Verteidiger verhandelt hat, konnte aufgrund des bereits feststehenden Verstoßes gegen § 329 Abs. 1 S. 1 StPO dahin stehen.

III.

Weil dem Rechtsmittel (bislang) nur ein vorläufiger Erfolg beschieden ist, war die Entscheidung über die Kosten der Revision der (neuen) Berufungskammer vorzubehalten.