Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 04.10.2005, Az.: 10 B 1497/05

Widerruf eines Aufenthaltstitels bei Anspruch des Ausländers auf ein gleichwertiges Aufenthaltsrecht

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
04.10.2005
Aktenzeichen
10 B 1497/05
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2005, 35015
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2005:1004.10B1497.05.0A

Fundstellen

  • InfAuslR 2005, 468-469 (Volltext mit red. LS)
  • NVwZ-RR 2006, VI Heft 3 (Kurzinformation)
  • NVwZ-RR 2006, 357 (Volltext mit red. LS)

Verfahrensgegenstand

Widerruf von Niederlassungserlaubnissen
Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO

In der Verwaltungsrechtssache
hat das Verwaltungsgericht Hannover - 10. Kammer -
am 04. Oktober 2005
beschlossen:

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller gegen die mit Bescheiden der Antragsgegnerin vom 04.02.2005 ausgesprochenen Widerrufe ihrer Niederlassungserlaubnisse wird wieder hergestellt.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 30.000,00 Euro festgesetzt.

Den Antragstellern wird Prozesskostenhilfe bewilligt und beigeordnet.

Gründe

1

Der nach § 80 Abs. 5 VwGO zulässige Antrag hat Erfolg.

2

Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin besteht gegenwärtig kein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung der angefochtenen Widerrufe. Dies gilt zunächst unabhängig davon, ob die Widerrufe rechtmäßig sind oder nicht.

3

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. z.B. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats v. 13.06.2005 - 2 BvR 485/05 -, NVwZ 2005, 1053, 1054) [BVerfG 13.06.2005 - 2 BvR 485/05] ist für die Anordnung der sofortigen Vollziehung eines Verwaltungsaktes ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt. Der Rechtsschutzanspruch ist dabei umso stärker und darf um so weniger zurückstehen, je schwer wiegender die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt.

4

Die Antragsteller halten sich seit zwölf Jahren im Bundesgebiet auf und sind seit fast elf Jahren im Besitz unbefristeter Aufenthaltserlaubnisse bzw. Niederlassungserlaubnisse. Die Antragsteller zu 3) bis 6) waren erst sieben, sechs, vier bzw. noch nicht einmal ein Jahr alt, als sie in die Bundesrepublik Deutschland einreisten. Vor diesem Hintergrund ist es entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht gerechtfertigt, den Aufenthalt der Antragsteller im Hinblick darauf, dass sie Arbeitslosengeld II beziehen und sich während der Dauer des bereits anhängigen Klageverfahrens - noch - weiter in die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland eingliedern könnten, sofort zu beenden. Die zu einer Bedarfsgemeinschaft zählenden Antragsteller zu 1), 2), 3) und 6) erhalten seit dem 01.08.2005 Arbeitslosengeld II nur noch in Höhe von 67,23 Euro. Dieser Betrag rechtfertigt es nicht, durch eine sofortige Aufenthaltsbeendigung vollendete Tatsachen zu schaffen, zumal sich die Einkommenssituation der Familie in der Vergangenheit kontinuierlich verbessert hat. Die Antragsteller zu 4) und 5) beziehen zwar Leistungen in Höhe von jeweils 306,00 Euro. Das daher anzunehmenden öffentliche Interesse an einer sofortigen Aufenthaltsbeendigung überwiegt gleichwohl nicht das Interesse der Antragsteller zu 4) und 5), von der sofortigen Vollziehung der angefochtenen Widerrufe vorläufig verschont zu bleiben. Denn die Antragsteller zu 4) und 5) sind an einer Erwerbstätigkeit, die den Leistungsbezug zumindest verringern könnte, lediglich durch ihren - ebenfalls im öffentlichen Interesse stehenden - Schulbesuch gehindert.

5

Darüber hinaus ist zweifelhaft, ob die Antragsgegnerin das Ermessen, das ihr in § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG hinsichtlich des Widerrufs der Niederlassungserlaubnisse eingeräumt ist, fehlerfrei ausgeübt hat. Der Widerruf eines Aufenthaltstitels kommt nämlich dann nicht in Betracht, wenn der Ausländer unabhängig von seiner entfallenen Asylberechtigung aus anderen Rechtsgründen einen Anspruch auf ein dem entzogenen Recht gleichwertiges Aufenthaltsrecht hat. Denn die Ausländerbehörde darf einen Aufenthaltstitel, den sie dem Ausländer aus anderen Rechtsgründen sogleich wieder erteilen müsste, nicht widerrufen (BVerwG, Urt. v. 20.02.2003 - 1 C 13.02 -, BVerwGE 117, 380 = NVwZ 2003, 1275). Die Antragsgegnerin hat nämlich zu Unrecht nicht geprüft, ob den Antragstellern eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG erteilt werden kann. Nach dieser Vorschrift kann einem Ausländer, der - wie die Antragsteller - seit sieben Jahren eine Aufenthaltserlaubnis aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen besitzt, eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden, wenn die in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 9 AufenthG bezeichneten Voraussetzungen vorliegen. Im Hinblick auf die in § 104 Abs. 2 AufenthG vorgesehenen Erleichterungen für Ausländer, die - wie die Antragsteller - bereits vor dem 01. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis waren, ist hier allein fraglich, ob die Antragsteller die Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG - Sicherung des Lebensunterhalts - erfüllen. Da die Antragsteller zu 3) bis 6) bereits vor Vollendung ihres 18. Lebensjahres nach Deutschland eingereist sind, kann für sie jedoch § 35 AufenthG entsprechend angewandt werden (§ 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG). Danach steht die fehlende Sicherung des Lebensunterhaltes der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nicht entgegen, wenn sich der Ausländer - wie die Antragsteller zu 3) bis 6) - in einer Ausbildung befindet, die zu einem anerkannten schulischen oder beruflichen Abschluss führt (§ 35 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 bzw. Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AufenthG). Könnte den Antragstellern zu 3) bis 6) somit eine Niederlassungserlaubnis nach § 35 AufenthG erteilt werden, dürfte dies wiederum bei der hinsichtlich des Widerrufs der Niederlassungserlaubnis ihrer Eltern, der Antragsteller zu 1) und 2), zu treffenden Ermessensentscheidung der Antragsgegnerin nicht unberücksichtigt bleiben.

6

Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage hinsichtlich der Widerrufe der Niederlassungserlaubnisse führt dazu, dass die Antragsteller nicht - mehr - vollziehbar zur Ausreise verpflichtet sind. Die - ebenfalls angefochtenen - Abschiebungsandrohungen können daher gegenwärtig nicht Grundlage für eine Aufenthaltsbeendigung sein und beschweren die Antragsteller daher nicht.

7

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, [...].

Streitwertbeschluss:

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 30.000,00 Euro festgesetzt.

[D]ie Festsetzung des Streitwertes [beruht] auf § 53 Abs. 3, § 52 Abs. 2 GKG.

Wendlandt-Stratmann
Lüerßen
Makus