Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 04.11.2010, Az.: 3 B 95/10

Durchführung eines sog. "Castor-Camps" als Veranstaltung i.S.d. Versammlungsrechts; Aufstellen eines Zeltes ohne "funktionale Bedeutung" für die Durchführung der Versammlung als versammlungsrechtlich "neutral"; Erfordernis eines über die logistisch-funktionale Bedeutung hinausgehenden kommunikativen Zwecks; Ausdehnung des Schutzbereichs des Art. 8 Abs. 1 GG auf diese spezielle Art der Infrastruktur i.Z.d. sog. Vorwirkungen des Versammlungsrechts angesichts von aus dem gesamten Bundesgebiet anreisenden Demonstrationsteilnehmern

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
04.11.2010
Aktenzeichen
3 B 95/10
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2010, 32373
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGLUENE:2010:1104.3B95.10.0A

Verfahrensgegenstand

Versammlungsverbot

In der Verwaltungsrechtssache
...
hat das Verwaltungsgericht Lüneburg - 3. Kammer -
am 4. November 2010
beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 3. November 2010 (Az.: 3 A 230/10) gegen die Verbotsverfügung der Antragsgegnerin vom 1. November 2010 wird wiederhergestellt.

    Der Antragsgegnerin bleibt vorbehalten, zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung bei Durchführung der Veranstaltung beschränkende Verfügungen zu erlassen.

    Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

  2. 2.

    Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

1

I.

Der Antragsteller wendet sich gegen das Verbot einer Veranstaltung durch die Antragsgegnerin.

2

Der Antragsteller meldete am 19. Oktober 2010 für die Bäuerliche Notgemeinschaft eine als "Camp" bezeichnete Veranstaltung westlich des Ortsausgangs von Klein Gusborn auf dem Flurstück B. an. Die Veranstaltung sollte am 5. November 2010 um 12:00 Uhr beginnen und bis nach Ende des Castortransportes andauern. Laut Anmeldung sollte Gegenstand der Veranstaltung die "Durchführung eines sog. Castor-Camps" sein. Ähnliche "Veranstaltungen zur Verpflegung und Betreuung von Menschen" seien hinreichend bekannt, so dass nähere Angaben zum geplanten örtlichen und zeitlichen Ablauf nicht erforderlich seien. In Abstimmungsgesprächen teilten Vertreter der Bäuerlichen Notgemeinschaft mit, es werde sich nicht verhindern lassen, dass auch Plakate aufgestellt würden, die Leute sollten versorgt werden. Das Versammlungsrecht solle dabei in Anspruch genommen werden. Im Internet wurde die Veranstaltung auf der Homepage www.castor-camps.net als "Wagenburg Gusborn" wie folgt beworben:

"nach der großen Kundgebung am Samstag, den 6. November, eröffnet die Bäuerliche Notgemeinschaft ihre Wagenburg in Gusborn. In große landwirtschaftliche Hänger mit einer soliden Plane oben drüber packen wir eine weiche und wärmende Schicht Stroh. Wer einen Schlafsack dabei hat, findet hier einen gemütlichen Schlafplatz; eine zusätzliche Isomatte ist hilfreich. Sanitäre Anlage für das Nötigste sind vorhanden; für Essen und Trinken sorgt die Volxküche."

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Die Antragsgegnerin verbot die geplante Veranstaltung mit Verfügung vom 1. November 2010 und verwies im Wesentlichen auf die Gefahr von verfestigten Straßenblockaden, die sich aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre und aus der Auswertung aktueller Erkenntnisse ergebe. Das "Camp" des Antragstellers werde im Internet ausdrücklich als Wagenburg beworben. Frühere Aktionen, die u.a. von der Bäuerlichen Notgemeinschaft getragen worden seien, hätten zu Blockaden der Transportstrecken durch Traktoren, Betonpyramiden und Menschen geführt. Die Bäuerliche Notgemeinschaft habe sich auch von der Aktion "Castor?Schottern!" nicht distanziert. Camps wie das hier angemeldete sollten als Dauereinrichtungen für die Zeit des Castor-Transportes dazu dienen, bestimmte Aktionen, insbesondere Blockaden, gemeinschaftlich zu planen und im Rahmen von Bezugsgruppenfindung und "Aktionstrainings" zu üben.

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Der Antragsteller hat am 3. November 2010 Klage gegen die Verbotsverfügung vom 1. November 2010 erhoben und am gleichen Tage einstweiligen Rechtsschutz beantragt.

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Der Antragsteller macht geltend, er beabsichtige lediglich, auf etwa 15 bis 18 landwirtschaftlichen Hängern mit Plane und Stroh und in einem großen Zelt Übernachtungsmöglichkeiten sowie die Gelegenheit zur Verpflegung anzubieten. Die Hänger sollen bereits am Donnerstag, den 4. November 2010, zum Ort der Veranstaltung gebracht werden. Die dazu benötigten Zugmaschinen sollten nicht im Camp verbleiben. Für den Transport von Lebensmitteln würden maximal zwei Zugmaschinen vor Ort benötigt. Zudem sei die Verbotsverfügung unverhältnismäßig.

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Der Antragsteller beantragt,

die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Verbotsverfügung der Antragsgegnerin vom 1. November 2010 wiederherzustellen.

7

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzuweisen.

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Sie vertieft ihren Vortrag zur Begründung der Verbotsverfügung und verweist insbesondere auf einen Vorfall am 20. November 2005 in Klein Gusborn, bei dem etwa 150 Traktoren nach Beendigung einer von der Bäuerlichen Notgemeinschaft angemeldeten Versammlung unter Beteiligung von 600 Personen die L 256 blockierten. Die Räumung habe 10 Stunden gedauert. Der Antragsteller habe in den Kooperationsgesprächen keinerlei nachvollziehbare Angaben zum beabsichtigten Traktoreneinsatz im Camp Klein Gusborn gemacht. Aktuelle Meldungen im Internet und der Tagespresse ließen darauf schließen, dass die Wendlandbauern bzw. die Bäuerliche Notgemeinschaft auch in diesem Jahr eine Blockade mit Traktoren planten. Ein Traktor, dessen Halter der Antragsteller sei, sei an der Blockade im November 2011 beteiligt gewesen. Auch die stellvertretende Veranstaltungsleiterin habe sich bereits früher an Blockadeaktionen beteiligt.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

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II.

Der nach § 80 Abs. 5 VwGO zulässige Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Verbotsverfügung der Antragsgegnerin vom 1. November 2010 wiederherzustellen, ist begründet.

11

1.

Gemäß § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht nach Anordnung der sofortigen Vollziehung eines belastenden Verwaltungsaktes die aufschiebende Wirkung der Klage ganz oder teilweise wiederherstellen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ist geboten, wenn das Interesse des Antragstellers am Aufschub der Durchsetzung der angegriffenen Verfügung das öffentliche Interesse an ihrer sofortigen Vollziehung überwiegt. Vorliegend spricht alles für die Rechtswidrigkeit der angegriffenen Verbotsverfügung, so dass die anzustellende Interessenabwägung zu Lasten der Antragsgegnerin ausfällt.

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2.

Vieles spricht dafür, dass die Antragsgegnerin die vom Antragsteller angemeldete Veranstaltung schon deshalb nicht gemäß § 15 Abs. 1 VersammIG verbieten durfte, weil es sich bei dem angemeldeten "Camp" nicht um eine Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG handelt.

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Die Kammer hat bereits entschieden, dass allein das Aufstellen eines Zeltes ohne "funktionale Bedeutung" für die Durchführung der Versammlung nicht vom Schutzbereich des Art. 8 GG erfasst wird (Kammerbeschi. v. 18.11.2005 - 3 B 79/05 -). Das bloße Aufstellen von Zelten in der freien Landschaft, um dort zu übernachten, zu kochen und zu essen, ist für sich genommen versammlungsrechtlich "neutral", auch wenn die Organisatoren und Bewohner des Zeltlagers durch das gemeinsame Anliegen verbunden sind, in den Tagen um den geplanten Castor-Transport in der Nähe der Transportsrecke ihre Ablehnung gegen den Transport durch verschiedene Demonstrationen und Aktionen kundzutun (vgl. VG Karlsruhe, Urt. v. 14.02.2001 - 4 K 3227/00 -). Unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG fällt das Aufstellen und die Nutzung eines Zeltplatzes oder Camps nur, wenn es selbst ein Element der Versammlung darstellt, d.h. der "gemeinschaftlichen Erörterung und der Kundgebung mit dem Ziel der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung" dient (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.07.2001 - 1 BvQ 28/01 und 1 BvQ 30/01 -; BVerwG, Urt. v. 16.05.2007 - 6 C 23/06 -; OVG Bautzen, Urt. v. 04.06.2009 - 3 B 59/06 -). Dies kann z.B. bei der Verwendung eines Zelts als Mittel des Protests gegen eine bestimmte Unterbringungssituation oder gegen eine drohende Abschiebung der Fall sein (OVG Bautzen, a.a.O.).

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Die Kammer geht auch nicht davon aus, dass das gesamte "Camp" als "gemischte Veranstaltung" eine Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG und des VersammIG anzusehen ist, weil sie über einen Zeitraum von mehreren Tagen sowohl Elemente der "gemeinschaftlichen Erörterung und Kundgebung mit dem Ziel der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung" als auch solche Elemente enthält, die für sich genommen nicht unter den Schutz des Versammlungsrechtes fallen (dazu BVerwG, Urt. v. 16.05.2007 - 6 C 23/06 -). Vorliegend sind weder Anhaltspunkte für ein rein kommunikatives Anliegen noch für ein sog. "Mischelement" erkennbar. Der Antragsteller selbst hat in Rahmen seiner Anmeldung vorgetragen, dass das Camp den Versammlungsteilnehmer Basis zur "Verpflegung und Betreuung" und als mögliches Nachtlager dienen soll. Das Camp hat seinen eigenen Angaben zufolge damit eine rein logistisch-funktionale Bedeutung. Ein hierüber hinausgehender kommunikativer Zweck ist nicht erkennbar. Hier besteht zwar die Besonderheit, dass das vom Antragsteller angemeldete "Camp" aufgrund seiner zeitlichen und räumlichen Nähe zum geplanten Castortransport und angesichts des Mottos "Gegen den Castor-Transport - für ein strahlenfreies Wendland" nach Außen hin als "politisches Camp" geplant ist. Eine versammlungsrechtlich geschützte "gemischte Veranstaltung" liegt aber nur vor, wenn deren Einzelaspekte thematisch und organisatorisch in einem übergeordneten Zusammenhang stehen und zugleich die nicht dem Versammlungsrecht unterfallenden Zwecke aus der Sicht eines durchschnittlichen Betrachters nicht erkennbar im Vordergrund stehen (vgl. BVerwG, Urt .v. 16.05.2007 - 6 C 23/06 -). Jedenfalls am letztgenannten Erfordernis dürfte es hier fehlen, weil sowohl nach den Vorstellungen des Antragstellers als auch in der Kommunikation nach außen der rein infrastrukturelle Aspekt des Camps deutlich in den Vordergrund tritt.

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Ein versammlungsrechtlicher Schutz kann vorliegend wohl ebenfalls nicht aus den sog. Vorwirkungen des Versammlungsrechts hergeleitet werden. Art. 8 Abs. 1 GG schützt zwar den gesamten Vorgang des Sichversammelns, wozu insbesondere auch der Zugang und die Anreise zu einer bevorstehenden bzw. sich bildenden Versammlung gehört (vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.05.1985 - 1 BvR 233/81 u.a. - u. v. 11.06.1991 - 1 BvR 772/90). Unzulässig sind damit z.B. Behinderungen der Anfahrt und schleppende vorbeugende Kontrollen. Die Errichtung und Bereitstellung von Unterkunft und Verpflegung als Teile einer erweiterten Infrastruktur für die Versammlungsteilnehmer, die ggf. auch anderweitig bereit gestellt werden kann, gehört dagegen nach der bisherigen obergerichtlichen Rechtsprechung grundsätzlich nicht hierzu (vgl. OVG Bautzen, Urt. v. 04.06.2009 - 3 B 59/06 -; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 16.12.1993- 1 S 1957/93-; Urt. v. 14.04.2005- 1 S 2362/04 -; OVG Berlin, Beschl. v. 8.7.1999 - 1 SN 63/99 -).

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Es scheint zwar erwägenswert, ob diese Einschätzung auch im vorliegenden Fall ihre Gültigkeit beanspruchen kann. Angesichts der Tatsache, dass die Teilnehmer an den Demonstrationen gegen den Castor-Transport aus dem gesamten Bundesgebiet anreisen und die Möglichkeit von Übernachtung und Verpflegung in Camps wie dem hier streitgegenständlichen maßgebliche Voraussetzung für die Teilnahme an einer über mehrere Tage andauernden Protestaktion ist, wäre eine Ausdehnung des Schutzbereichs des Art. 8 Abs. 1 GG auf diese spezielle Art der Infrastruktur zu erwägen. Letztlich kann dieser Aspekt aber unentschieden bleiben, da sich die angegriffene Verbotsverfügung jedenfalls (auch) aus anderen Gründen als rechtswidrig erweist.

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2.

Selbst wenn man davon ausginge, die Antragsgegnerin sei zu Recht von einer Versammlung und damit von der Anwendbarkeit des VersammIG ausgegangen, so bestehen doch erhebliche Zweifel am Vorliegen der nach § 15 Abs. 1 VersammIG erforderliche Gefahr (dazu a). Jedenfalls stellt sich die angegriffene Verbotsverfügung als unverhältnismäßig dar (dazu b). Dies gilt auch, wenn man der angemeldeten Veranstaltung den Versammlungscharakter abspricht. In diesem Fall könnte die angegriffene Verfügung vom 1. November 2010 sich ggf. als Maßnahme nach dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht auf die Grundlage des Nds. SOG stützen. Auch eine solche Maßnahme müss-te sich aber als verhältnismäßiges Mittel zur Abwehr einer Gefahr im polizeirechtlichen Sinne darstellen, was hier nicht der Fall ist.

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a)

Unter Zugrundelegung der Gefahrenprognose der Antragsgegnerin in der angegriffenen Verfügung, die selbst in unmittelbaren Zusammenhang mit der von der Antragsgegnerin erlassenen Allgemeinverfügung vom 23. Oktober 2010 und der dort aufgestellten Gefahrenprognose steht, hat die Kammer erhebliche Zweifel, ob die Antragsgegnerin ausreichende "erkennbare Umstände" bzw. erkennbare Gefahren benannt hat, die das Verbot des Camps im Sinne einer versammlungsrechtlichen Verfügung oder einer Verfügung im Sinne des Nds. SOG rechtfertigen könnten.

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Die Gefahrenprognose in der Allgemeinverfügung vom 23. Oktober 2010 legt eine Gefährdung der Transportstrecken u.a. durch Camps innerhalb des durch sie erfassten Gebietes und Transportkorridors zu Grunde. Daher begründen die dort benannten "erkennbaren Umstände" für sich betrachtet keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine hinreichende Gefahrprognose für das Gebiet außerhalb des Bereichs, den die Antragsgegnerin selbst auf der Grundlage eben dieser Gefahrenprognose mit der Allgemeinverfügung begrenzt hat.

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Die Antragsgegnerin stützt die angegriffene Verfügung unter anderem auf die Erwägung, in Camps wie dem hier streitgegenständlichen ließen sich Blockadeaktionen unter Zeltdächern, in Anhängern oder im Schutze der Dunkelheit und damit unbeobachtet vorbereiten, und auch das Camp des Antragstellers werde als Ausgangspunkt solcher Blockaden dienen. Während die erstgenannte Annahme zutreffend sein mag, benennt die Antragsgegnerin nach Auffassung der Kammer keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte für ihre Annahme, gerade das Camp des Antragstellers (bzw. der Bäuerlichen Notgemeinschaft) werde als Basis dienen, um solche Blockadeaktionen vorzubereiten und durchzuführen. Die Antragsgegnerin räumt zu Recht ein, die Bäuerliche Notgemeinschaft rufe nicht explizit zu einer Blockade auf. Allerdings sei auf ihrer aktuellen Homepage der Ort Klein Gusborn als Widerstandsort bezeichnet. Allein diese (vorübergehend und zwischenzeitlich in "Wichtige Orte" veränderte) Bezeichnung des in der Nähe des Camps gelegenen Ortes Klein Gusborn auf der Homepage der Notgemeinschaft lässt jedoch keinen Schluss auf die von dem Camp ausgehenden Gefahren zu. Angesichts der Tatsache, dass neben Klein Gusborn auch eine Vielzahl anderer Orte entlang der Transportstrecke auf der Homepage als "Widerstandsorte" bezeichnet wurden, könnte mit Verweis auf diese Bezeichnung nahezu jedes Camp im weiteren Umfeld der Strecke verboten werden.

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Auch auf die Nähe des Camps zu den in Betracht kommenden Transportsrecken des Castortransportes kann die Verbotsverfügung und die ihr zugrunde liegende Gefahrenprognose nicht gestützt werden. Das Camp soll in einer Entfernung von 500 m zu der südlichen und von 1.500 m von der nördlichen Transportstrecke errichtet werden. In der Allgemeinverfügung vom 23. Oktober 2010 ging die Antragsgegnerin erkennbar davon aus, dass (versammlungsrechtliche) Veranstaltungen in einer solchen Entfernung zur Bahntrasse möglich sein müssten. Dass topographische Besonderheiten, etwa die Möglichkeit einer relativ unbemerkten Annäherung an die möglichen Routen des Castorentransportes, auf Grund der Lage des Camps für den Erlass der angegriffenen Verfügung in Betracht zu ziehen gewesen wären, ist nicht ersichtlich. Auch im Übrigen sind topographische Gegebenheiten, die unbemerkt rechtswidrige Angriffe auf die Transportstrecken ermöglichen oder erleichtern könnten, von der Antragsgegnerin weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Angesichts der Entfernung des Camps zur potentiellen Transportstrecke von mind. 500 m hätte die Antragsgegnerin in ihrer Gefahrenprognose darlegen müssen, aufgrund welcher Erwägungen es ihr nicht möglich sein sollte, rechtswidrige Aktionen, die nach ihrer eigenen Prognose vom Camp des Antragstellers ausgehen werden, innerhalb des verbleibenden Korridors von 500 m zu unterbinden. Insofern kann die Antragsgegnerin auch nicht auf die Möglichkeit des "verdeckten" Arbeitens unter dem Schutz von Zelt- oder Hängerplanen oder in der Dunkelheit zu verweisen. Denn um tatsächlich vom Camp aus eine die prognostizierte Gefahr begründende Blockade zu erwirken, müssten die Veranstaltungsteilnehmer zunächst die mind. 500 m zur Transportstrecke zurücklegen. Auf diesem Weg zwischen dem Camp und der möglichen Transportstrecke bietet sich der durch Zelte und Hänger mögliche Schutz nicht. Soweit man auf die Dunkelheit abstellt, ist dies kein dem Camp anhaftender Umstand, sondern eine in gleicherweise an allen anderen Orten im weiteren Umfeld der Strecke anzutreffende Tatsache. Insofern geht von dem Camp keine spezifische Gefährdung des Castortransports aus, die über die allgemein von der Antragsgegnerin geschilderte Gefährdungslage angesichts der Vielzahl der zu erwartenden Demonstranten und deren prognostizierter Gewaltbereitschaft hinausginge.

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Die Kammer lässt angesichts der nachfolgenden Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit (unter c) im Rahmen der hier nur möglichen summarischen Prüfung offen, ob der Antragsgegnerin in ihrer Gefahrenprognose dahingehend gefolgt werden kann, aufgrund der Geschehnisse der vergangenen Jahre im Zusammenhang mit Traktorenblockaden durch wendländische Bauern sei mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass auch das streitgegenständliche Camp zum Ausgangspunkt solcher Blockaden gemacht werde. Die Antragsgegnerin hat sich auch in ihrer Stellungnahme vom 3. November 2010 nicht zu den Angaben des Antragstellers geäußert, er plane nach Beendigung der Aufbauarbeiten am 4. November 2010 lediglich den Einsatz von höchstens zwei Traktoren zum Transport von Lebensmitteln. Auch zu den Möglichkeiten, Traktoren auf der Strecke von immerhin mindestens 500 m zur Transportstrecke im Falle einer beabsichtigten Blockade rechtszeitig zum Stehen zu bringen, äußert sich die Antragsgegnerin nicht. Die Ausführungen der Antragsgegnerin lassen aus Sicht der Kammer darüber hinaus im Unklaren, aufgrund welcher Erwägungen eine Zentrierung von Traktoren in einem mind. 500 m von der Transportstrecke entfernten Camp eine größere Gefahr von Blockaden darstellt, als eine Situation, in der dieselbe Anzahl von Traktoren sich an einem beliebigen anderen Ort im Umfeld der Transportstrecke, jedenfalls außerhalb des mit Allgemeinverfügung vom 23. Oktober 2010 festgesetzten 50 m-Korridors, befinden. Insoweit spricht vieles dafür, dass die bisher durch die Antragsgegnerin gemachten Angaben nicht ausreichen, um eine Gefahr im eingangs skizzierten Sinne hinreichend detailliert und nachvollziehbar darzulegen.

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b)

Soweit die Antragsgegnerin in ihrer Stellungnahme vom 3. November 2010 darauf abstellt, aufgrund der bisherigen Erfahrungen sei damit zu rechnen, dass friedliche Versammlungen von gewaltbereiten Personen benutzt würden, um im Schutze der Versammlung rechtswidrige Aktionen durchzuführen, ist dies nicht von der Hand zu weisen. Hinweise auf die Ausnutzung auch des Camps des Antragstellers zur Vorbereitung von Blockadeaktionen ergeben sich insbesondere aus den Internetseiten der Organisation "ro-binwood", auf der u.a. das Camp Gusborn als "ein guter Ort" beworben wird, "um uns gemeinsam auf Aktionen vorzubereiten". Insofern ist auch die Befürchtung der Antragsgegnerin, innerhalb des Camps könnten blockadewillige Personen eine Blockade vorbereiten, naheliegend. Wird eine Verbotsverfügung - wie hier - nicht nur auf Situationen bezogen, in denen Rechtsgütergefährdungen von der angemeldeten Versammlung selbst ausgehen, sondern auch auf solche, in denen Dritte aus Anlass der Versammlung und gegebenenfalls parallel zu deren Zielsetzung, wenn auch hinsichtlich der konkreten Umstände möglicherweise ohne Billigung durch den Veranstalter oder Leiter der Versammlung, zu Störern werden, können versammlungsbeschränkende Maßnahmen allerdings

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nur unter dem Gesichtspunkt des polizeilichen Notstands gerechtfertigt sein (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.03.2001 -1 BvQ 15/01 -). Die Rechtsfigur des polizeilichen Notstands setzt voraus, dass die Gefahr nicht auf andere Weise abgewehrt bzw. die Störung nicht auf andere Weise beseitigt werden kann und die Verwaltungsbehörde nicht über ausreichende eigene, eventuell durch Amts- und Vollzugshilfe ergänzte Mittel und Kräfte verfügt, um die betroffenen Rechtsgüter wirksam zu schützen (BVerfG, a.a.O.). Ein polizeilicher Notstand kann auch dann angenommen werden, wenn sich die Masse der Versammlungsteilnehmer ordnungsgemäß verhält und nur eine Minderheit rechtswidrig agiert. Entscheidend ist allein, in welchem Maße diese Minderheit gegen geltendes Recht verstößt und inwieweit es Polizeikräften möglich ist, diese Minderheit von ihrem rechtswidrigen Tun abzuhalten (vgl. Nds. OVG, Urt. v. 29.05.2008 -11 LC 138/06 -). Tatsachen, die die Annahme eines polizeilichen Notstands hier rechtfertigen könnten, hat die Antragsgegnerin, die als Versammlungsbehörde die materielle Feststellungs- und Beweislast für die das Verbot rechtfertigenden Umstände trägt (vgl. BVerfG. Beschl. v. 09.06.2006 -1 BvR 1429/06 -), indes nicht vorgetragen. Dazu, dass und aus welchen Gründen es der Antragsgegnerin nicht möglich sein sollte, blockadewillige Störer, die sich den möglichen Transportstrecken nähern, auf dem zumindest 500 m langen Weg zur Strecke erforderlichenfalls "abzufangen", hat die Antragsgegnerin - wie bereits ausgeführt - bislang nicht, jedenfalls nicht in ausreichendem Maße vorgetragen. Allein die von der Antragsgegnerin angeführte Möglichkeit, innerhalb des Camps Blockadeaktionen abzustimmen und vorzubereiten, begründet nach Auffassung der Kammer keine Gefahr im oben beschriebenen Sinne.

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c)

Selbst wenn man - entgegen den vorstehend geäußerten Zweifeln - die Gefahrenprognose der Antragsgegnerin als hinreichend beurteilen wollte, so wäre das angegriffenen Verbot angesichts der vorstehenden Ausführungen doch jedenfalls unverhältnismäßig.

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Auszugehen ist davon, dass ein vollständiges Versammlungsverbot unverhältnismäßig ist, wenn die zu erwartenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit durch Auflagen ausgeschlossen oder erheblich verringert werden können (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 5.5.2006 -11 ME 117/06 -). So liegt der Fall hier. Die Antragsgegnerin stellt zur Begründung ihrer Verbotsverfügung im Wesentlichen auf die Gefahr von Blockaden der Castor-Transportstrecken ab und bringt diese - nicht von der Hand zu weisende - Gefahr von Blockaden in einen unmittelbaren Zusammenhang zu dem geplanten Camp des Antragstellers. Die Gefahr ergibt sich nach Auffassung der Antragsgegnerin aus der Möglichkeit, dass entgegen dem Bekunden des Antragstellers im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eine Mehr- oder Vielzahl von Traktoren dauerhaft in dem Camp "stationiert" werden, um von dort je nach Bedarf zu einer der beiden Transportsrecken zu gelangen und sich an Blockaden zu beteiligen. Zudem verweist die Antragsgegnerin auf die Möglichkeit, dass in dem Camp sonstige Blockademittel (Betonfelgen, Betonpyramiden etc.) zusammengezogen werden könnten, um sie von dort aus zur Transportstrecke zu verbringen.

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Mit ihrem diesbezüglichen Vortrag genügt die Antragsgegnerin nicht dem Gebot der Verhältnismäßigkeit im Allgemeinen und dem Gebot des Einsatzes des mildesten Mittels im Besonderen. Die Antragsgegnerin hat - worauf der Antragsteller zu Recht hinweist - nicht dargelegt, dass und aus welchen Gründen nicht auch der Einsatz beschränkender Auflagen als im Vergleich zu einem Totalverbot milderes Eingriffsmittel den von ihr prognostizierten Gefahren hinreichend sicher und wirksam begegnen können. Der Antragsteller hat sich ausdrücklich dazu bereit erklärt, eine Auflage zur Beschränkung des Traktoreneinsatzes zu akzeptieren. Auch das Verbringen anderer Blockademittel wie Betonfelgen oder Betonpyramiden in das Camp ließe sich ggf. durch entsprechende Auflagen unterbinden. Da die Antragsgegnerin bislang - soweit ersichtlich - solche milderen Mittel nicht ernsthaft in Betracht gezogen und ggf. deren Ungeeignetheit substantiiert dargelegt hat, verstößt die angegriffene Verbotsverfügung gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 53 Abs. 2, 52 Abs. 1 und 2 GKG.

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Rechtsmittelbelehrung

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Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde statthaft.

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Siebert
Dr. Thorn-Christoph
Dr. Vogt