Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 20.01.2012, Az.: Ss (OWiZ) 206/11
Verpflichtung eines Gerichts zur Bearbeitung sehr vieler Bußgeldverfahren als Begründung für die Ablehnung eines Terminsverlegungsantrags
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 20.01.2012
- Aktenzeichen
- Ss (OWiZ) 206/11
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2012, 10340
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:2012:0120.SS.OWIZ206.11.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- AG Helmstedt - 20.10.2011
Rechtsgrundlage
- § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG
Fundstellen
- StRR 2012, 83
- VRR 2012, 123
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Auch im Bußgeldverfahren kann der Betroffene nicht darauf verwiesen werden, sich bei terminlicher Verhinderung seines Verteidigers durch einen anderen Verteidiger (oder gar durch sich selbst) verteidigen zu lassen.
- 2.
Ein Terminsverlegungsantrag darf grundsätzlich nicht mit der Begründung abgelehnt werde, das Gericht habe sehr viele Bußgeldverfahren zu bearbeiten.
In der Bußgeldsache
...
wegen ordnungswidrigen Verhaltens im Straßenverkehr
hat der Senat für Bußgeldsachen des OLG Braunschweig am 20.01.2012 durch den Einzelrichter
beschlossen.
Tenor:
Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Helmstedt vom 20. Oktober 2011 wird zugelassen.
Das genannte Urteil wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Zulassungsbeschwerde - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Helmstedt zurückverwiesen.
Gründe
Der Landkreis Helmstedt erließ gegen den Betroffenen am 18. Juli 2011 einen Bußgeldbescheid. Auf dessen Einspruch bestimmte das Gericht Termin zur Hauptverhandlung auf den 20. Oktober 2011. Mit Schriftsatz vom 7. Oktober 2011 beantragte der Betroffene, ihn vom persönlichen Erscheinen zu entbinden. Außerdem suchte er um die Verlegung des Verhandlungstermins nach, weil sein Verteidiger wegen einer Fortbildungsveranstaltung verhindert sei.
Das Gericht befreite den Betroffenen mit Verfügung vom 19. Oktober vom persönlichen Erscheinen, lehnte jedoch die begehrte Terminsverlegung ab und teilte dies dem Verteidiger des Betroffenen um 9.27 Uhr per Fax mit. Daraufhin legte der Betroffene gegen die Ablehnung der Terminsverlegung am 19. Oktober um 18.05 Uhr Beschwerde ein und lehnte den zuständigen Richter zugleich wegen der Besorgnis der Befangenheit ab. Wegen der Einzelheiten des Schriftsatzes, der im Zulassungsantrag wörtlich wiedergegebene wird, wird auf BI. 67 - 70 d.A. verwiesen.
Das Amtsgericht Helmstedt führte dennoch am 20. Oktober in Abwesenheit des Betroffenen und seines verhinderten Verteidigers die Hauptverhandlung durch. Während der Hauptverhandlung verkündete das Gericht einen Beschluss, in dem die Unzulässigkeit der Beschwerde und des Befangenheitsgesuchs festgestellt wird. Das Befangenheitsgesuch verfolge "erkennbar das Ziel, die verweigerte Terminsverlegung noch auf diesem Wege zu erreichen". Eine weitere Begründung enthält der Beschluss nicht.
Sodann verurteilte das Amtsgericht den Betroffenen durch das angefochtene Urteil wegen eines fahrlässigen Verkehrsverstoßes (ungenügender Sicherheitsabstand) zu einer Geldbuße von 100,- EUR.
Gegen das am 31. Oktober 2011 zugestellte Urteil hat der Betroffene mit einem am 2. November 2011 eingegangenen Schriftsatz die Zulassung der Rechtsbeschwerde beantragt und diese in einem weiteren, am 7. Dezember 2011 eingegangenen Schriftsatz mit der Versagung rechtlichen Gehörs begründet. Er beantragt, die Rechtsbeschwerde zuzulassen und das Urteil des Amtsgerichts Helmstedt aufzuheben. Die Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig beantragt, die Rechtsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen. Der Zulassungsantrag, mit dem der Betroffenen einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör rügt, entspricht den Vorschriften zur Begründung einer Verfahrensrüge (§ 344 Abs.2 Satz 2 StPO i.V.m. § 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG).
Er hat auch in der Sache Erfolg. Das Amtsgericht Helmstedt hat einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör i.S.d. § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG begangen, indem es am 20. Oktober 2011 das Befangenheitsgesuch vom 19. Oktober 2011 ohne die gebotene Auseinandersetzung mit dem Inhalt dieses Gesuchs gemäß § 26a StPO als unzulässig verworfen und sodann in Abwesenheit des Verteidigers die Hauptverhandlung durchgeführt hat. Diese Vorgehensweise war rechtswidrig, weil im Befangenheitsgesuch Verfahrensverstöße aufgezeigt wurden und deshalb das Regelverfahren nach § 27 StPO hätte gewählt werden müssen. Nach § 26a StPO darf nur vorgegangen werden, wenn es sich um eine reine Formalentscheidung handelt, die keine Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen des Einzelfalles erfordert (BVerfG, Beschluss vom 02.06.2005, 2 BvR 625/01, 2 BvR 638/01, [...], Rn. 57; BVerfG, Beschluss vom 27.04.2007, 2 BvR 1674/06, [...], Rn. 53 ff., 56).
1.
Der Zulassungsantrag zeigt auf, dass das Verlegungsgesuch durch die Verfügung vom 19. Oktober 2011 nicht mit einer ermessenfehlerfreien Begründung abgelehnt wurde.
In einem Bußgeldverfahren hat der Betroffene regelmäßig das Recht, sich durch einen Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen. Diese Gewährleistung ist Ausdruck seines von Art 2 GG geschützten Anspruchs auf ein faires Verfahren (OLG Köln, Beschluss vom 22.10.2004, 8 Ss-OWi 48/04, [...], Rn. 19, 21; OLG Thüringen, Beschluss vom 13.08.2007, 1 Ss 145/07, [...], Rn. 8; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 31.01.2006, 1 Ss 165/05, [...], Rn. 6; BayObLG, Beschluss vom 31.10.2001, 1 ObOWi 433/01, [...], Rn. 5). Der Vorsitzende ist deshalb unter anderem gehalten, über Terminsverlegungsanträge nach pflichtgemäßem Ermessen unter. Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles zu entscheiden (OLG Thüringen, a. a. 0.; OLG Karlsruhe, a. a. 0.; OLG Oldenburg, Beschluss vom 31.08.2010, 2 SsRs 170/10, [...], Rn. 8; OLG Bamberg, Beschluss vom04.03.2011, 2 Ss (OWi) 209/11, [...], Rn. 7). Die Entscheidung leidet hier an einem Ermessensfehler, weil sich das Amtsgericht bei Ablehnung der Terminsverlegung - neben einzelfallbezogenen Umständen (geringes Gewicht, einfacher Sachverhalt) - jedenfalls auch auf die Vielzahl der dort sonst jährlich anhängigen Bußgeldverfahren gestützt hat: Dieser Umstand durfte bei der Ermessensentscheidung keine Berücksichtigung finden, weil die Geschäftslage des erkennenden Gerichts - mag sie auch noch so besorgniserregend sein - eine etwaige Abweichung vom Grundsatz des fairen Verfahrens schon unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht zu rechtfertigen vermag (OLG Braunschweig, Beschluss vom 04.05.2004, 1 Ss 5/04, [...], Rn. 10 [Strafverfahren], OLG Braunschweig, Beschluss vom17.03.2008, Ss 33/08, [...], Rn. 12; OLG Braunschweig, Ss (OWiZ) 140/11;OLG Hamm, Beschluss vom 26.04.2007, 4 Ss (OWi) 303/07, [...], Rn. 14). Dass der - dem Betroffenen nicht anzulastenden - allgemeinen Geschäftslage des Gerichts bei der Entscheidung maßgebliche Bedeutung zukam, zeigt sich insbesondere daran, dass Terminsverlegungen nach der Auffassung des Amtsgerichts "nur in ganz engen Ausnahmefällen" möglich sein sollen, weil "außerordentlich viele Bußgeldsachen ... verhandelt werden müssen".
Ein weiterer Verfahrensfehler liegt darin, dass das Gericht den Betroffenen am 19. Oktober darauf verwies, sich entweder von einem anderen Mitglied der Kanzlei oder von einem anderen Anwalt verteidigen zu lassen, hilfsweise die Verteidigung selbst zu übernehmen, ohne sich damit auseinanderzusetzen, ob dies dem Betroffenen angesichts des enormen Zeitdrucks - die Hauptverhandlung war bereits für den nächsten Tag terminiert - noch zuzumuten ist (vgl. hierzu: OLG Koblenz, Beschluss vom 27.07.2009, 1 Ss 102/09, [...],_Rn. 27). Das Gericht hätte-bei der Ermessensentscheidung dem Umstand Rechnung tragen müssen, dass es dem Betroffenen erhebliche Schwierigkeiten bereiten wird, so kurzfristig einen anderen Anwalt zu beauftragen oder gar selbst eine Verteidigungsstrategie zu entwickeln.
Dass eine Terminsverlegung bei der Verhinderung eines Verteidigers in einfach gelagerten Fällen mit einer rein individuellen Begründung ggf. abgelehnt werden kann (vgl. hierzu: OLG Hamm, Beschluss vom 03.08.1999, 2 Ss OWi 590/99, [...], Rn. 15; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 31.01.2006, 1 Ss 165/05, [...], Rn. 7; OLG Koblenz, Beschluss vom 10.09.2009, 2 SsRs 54/09, [...], Rn. 7) ändert, weil abstrakt auf die Geschäftslage des Gerichts abgestellt wurde, am Ermessensfehler nichts. Und es ist für die Frage, ob ein Verfahrensfehler in der unterlassenen Berücksichtigung des Ablehnungszeitpunktes liegt, ebenfalls ohne Bedeutung, dass der Verteidiger die späte Entscheidung evt. schuldhaft dadurch verursacht haben könnte, dass er die Verfahrensakten dem Gericht - wie dem Zulassungsantrag zu entnehmen ist - erst am 18. August 2011 übermittelt hat. Denn dieses Verhalten ist dem Betroffenen nicht zuzurechnen.
2.
Im Gegensatz zur Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft liegt auch ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör vor. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, auf den wesentlichen Vortrag einzugehen und sich mit diesem Vorbringen auseinanderzusetzen (BVerfG, NZV 2005, S. 51; OLG Köln, Beschluss vom 04.02.1999, Ss 45/99, [...], Rn. 7; OLG Braunschweig, Beschluss vom 22.06.2010, Ss (OWiZ) 121/10, unveröffentlicht). Ein Gericht ist, will es keinen Verstoß gegenArt 103 Abs. 1 GG begehen, in besonderer Weise verpflichtet, den Inhalt eines Ablehnungsgesuchs vollständig zu erfassen, wenn es erwägt, gemäß § 26a StPO zu verfahren (BVerfG, Beschluss vom 02.06.2005, 2 BvR 625/01, 2 BvR 638/01, [...], Rn. 57). Eine Auseinandersetzung mit den genannten Verfahrensverstößen ist dem Beschluss, mit dem das Befangenheitsgesuch gemäß § 26a StPO als unzulässig verworfen wurde, indes nicht zu entnehmen, obgleich das Befangenheitsgesuch ausdrücklich hierauf gestützt war. Das Gericht beschränkt sich vielmehr auf die - ebenfalls nicht begründete - Feststellung, das Gesuch verfolge allein das Ziel, die begehrte Terminsverlegung mit Hilfe des Befangenheitsantrags zu erreichen.
Das Urteil beruht auf der Gehörsverletzung. Hätte sich das Gericht, wie es gemäß Art 103 Abs. 1 GG geboten gewesen wäre, mit dem inhaltlichen Vorbringen des Betroffenen auseinandergesetzt, hätte es erkannt, dass wegen Art 101 S. 2 GG eine Entscheidung im Regelverfahren gemäß § 27 StPO herbeizuführen ist, weil nicht nur eine Formalentscheidung zu treffen ist, sondern das vorangegangene Verhalten des Richters zu beurteilen ist.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass den im Befangenheitsgesuch genannten Verfahrensfehlern nicht das erforderliche Gewicht zukommt (zu den Anforderungen an ein Befangenheitsgesuch wegen Verfahrensverstößen: BGHR StPO § 24 Abs. 2 Befangenheit 19 Verfahrensverstoß Rn. 5), um im Regelverfahren die Besorgnis der Befangenheit zu rechtfertigen. Auf die sachliche Berechtigung des Ablehnungsgesuchs kommt es nicht an, wenn der abgelehnte Richter - wie hier - unter grundlegendem Verstoß gegen Art 101 GG selbst entscheidet, obgleich die Verfahrensvoraussetzungen (§ 26a StPO) offenkundig nicht gegeben sind (BVerfG, Beschluss vom 02.06.2005, 2 BvR 625/01, 2 BvR 638/01, [...], Rn. 73; BGH, Beschluss vom 10.08.2005, 5 StR 180/05, [...], Rn. 20; OLG Celle, Beschluss vom 28.02.2007, 322 Ss 21/07, [...], Rn. 7, 12).
Die Senat hat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Sache in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 2 StPO an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückzuverweisen (vgl. Karlsruher Kommentar/Senge, 3.AufI., § 79 OWiG Rn. 161).
Die Entscheidung über die Kosten der Zulassungsbeschwerde ist dem Amtsgericht vorbehalten, da derzeit der endgültige Erfolg des Rechtsmittels nicht absehbar ist.