Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 03.02.2022, Az.: 1 Ws 280/21

Bestellung eines Verteidigers für Vollstreckungsverfahren; Beiordnung eines Rechtsanwalts für kranken Strafgefangenen

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
03.02.2022
Aktenzeichen
1 Ws 280/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 58908
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Braunschweig - 02.11.2021 - AZ: 50 StVK 620/21

Redaktioneller Leitsatz

Ein Verteidiger ist gemäß § 140 Abs. 2 StPO im Vollstreckungsverfahren beizuordnen, wenn die Sach- und Rechtslage schwierig oder der Strafgefangenen unfähig ist, seine Rechte selbst wahrzunehmen. Dies kann bei einem Strafgefangenen der Fall sein, der einen Schlaganfall erlitten hat. Dann es ist zu prüfen, inwieweit seine Erkrankung Einfluss auf die Kriminalprognose hat.

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts Braunschweig vom 2. November 2021 aufgehoben.

Dem Verurteilten wird Rechtsanwalt W. S., ......., beigeordnet.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Verurteilten fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

I.

Der Beschwerdeführer befand sich seit dem 2. März 2018 in Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel und verbüßte dort zuletzt die Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren aus dem Urteil des Amtsgerichts Hamburg vom 3. Juli 2019. Zwei Drittel dieser Strafe waren am 20. Mai 2021 vollstreckt; am 31. Mai 2022 wäre diese Strafe vollständig vollstreckt (3311 Js 173/17 VRs). Im Anschluss daran ist in einem Verfahren der Staatsanwaltschaft Braunschweig noch eine Restfreiheitsstrafe von 87 Tagen notiert (111 Js 29122/15 VRs).

Die Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel bat mit Schreiben vom 13. September 2021 die Staatsanwaltschaft Hamburg um Prüfung, ob dem Verurteilten gem. § 455 Abs. 4 Ziff. 3 StPO eine Haftunterbrechung gewährt werden könne und fügte diesem Schreiben eine Stellungnahme des Anstaltsarztes vom 9. September 2021 sowie eine Schweigepflichtentbindung des Verurteilten bei. Mit Verfügung vom 13. September 2021 bat der zuständige Rechtspfleger der Staatsanwaltschaft Hamburg die Justizvollzugsanstalt um ergänzende Ausführungen und Vorlage weiterer Belege. Mit Schreiben vom 15. September 2021 teilte die ebenfalls um Prüfung gebetene Staatsanwaltschaft Braunschweig der Staatsanwaltschaft Hamburg mit, dass sie beabsichtige, Haftunterbrechung zu gewähren.

Mit Schriftsatz vom 30. September 2021 legitimierte sich Rechtsanwalt S. gegenüber der Staatsanwaltschaft Hamburg für den Verurteilten, erkundigte sich nach der geplanten Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft, stellte vorsorglich einen Antrag auf Reststrafenaussetzung sowie hilfsweise auf Erlass der Reststrafe im Gnadenwege. Zudem beantragte er seine Beiordnung als Pflichtverteidiger. Er bitte deshalb um Vorlage der Sache an das zuständige Gericht.

Nachdem der Rechtspfleger den Verteidiger mit Schreiben vom 1. Oktober 2021 über den Verfahrensstand informiert hatte, äußerte dieser mit Schriftsatz vom 2. Oktober 2021 sein Unverständnis über die gewählte Verfahrensweise, forderte "sofortige Reaktionen" und bat um "Abgabe einer Duploakte" zur Bescheidung seines Beiordnungsantrags.

Nachdem die von der Justizvollzugsanstalt erbetenen ergänzenden Auskünfte bzw. Stellungnahmen bei der Staatsanwaltschaft Hamburg am 5. Oktober 2021 eingegangen waren, gewährte diese dem Verurteilten mit Bescheid vom 8. Oktober 2021 Haftunterbrechung gem. § 455 Abs. 3 und Abs. 4 Nr. 2 StPO und der Verurteilte wurde entlassen.

Mit Verfügung vom 19. Oktober 2021 übersandte die Staatsanwaltschaft Hamburg den Beiordnungsantrag des Verteidigers an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Braunschweig, wo die Akten am 29. Oktober 2021 eingingen.

Mit Beschluss vom 2. November 2021 hat das Landgericht Braunschweig den Beiordnungsantrag vom 30. September 2021 mit der Begründung abgelehnt, dass zum einen schon die Voraussetzungen der Beiordnung gem. § 140 Abs. 2 StPO analog nicht vorlägen und es sich zudem - da inzwischen Haftunterbrechung gewährt worden sei - um eine (unzulässige) rückwirkende Bestellung handeln würde.

Gegen diesen Beschluss, der dem Verteidiger und dem Verurteilten formlos bekannt gegeben wurde, wendet sich der Verteidiger für den Verurteilten mit einer am 4. November 2021 eingelegten sofortigen Beschwerde. Er vertritt die Auffassung, dass eine rückwirkende Beiordnung zulässig sei. Wegen der Einzelheiten der Beschwerdebegründung wird auf den Schriftsatz vom 4. November 2021 Bezug genommen (Bl. 239ff. d. A.).

Die Generalstaatsanwaltschaft hat zunächst beantragt, die sofortige Beschwerde wegen fehlender Beschwer als unzulässig zu verwerfen.

Der Senat hat den Hinweis erteilt, dass der Beiordnungsantrag - entgegen dem Verständnis der Strafvollstreckungskammer und der Generalstaatsanwaltschaft - nicht allein im Zusammenhang mit der (mittlerweile erfolgten) Haftunterbrechung, sondern auch im Zusammenhang mit dem Antrag, die Reststrafe zur Bewährung auszusetzen, gestellt worden sein dürfte, über den die Strafvollstreckungskammer noch nicht entschieden habe.

Die Generalstaatsanwaltschaft stellt nunmehr den Antrag, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

Der Verteidiger hat mit Schriftsatz vom 27. Januar 2022 weiter ausgeführt.

II.

Die sofortige Beschwerde ist statthaft (§ 142 Abs. 7 Satz 1 StPO) und sowohl form- als auch fristgerecht eingelegt worden.

Das Rechtsmittel ist auch begründet.

1.

Prozessuale Überholung ist im Hinblick auf den Antrag auf Reststrafenaussetzung (sowie den hilfsweise gestellten Antrag auf gnadenweisen Erlass der Reststrafen, über den hingegen die hamburgische Justizbehörde [§ 2 Abs. 1 Hamburgische Gnadenordnung] und der Leitende Oberstaatsanwalt der Staatsanwaltschaft Braunschweig [§ 4 Niedersächsische Gnadenordnung] zu entscheiden hätten) entgegen der Auffassung der Strafvollstreckungskammer nicht eingetreten. Die zwischenzeitlich gewährte Haftunterbrechung gem. § 455 Abs. 4 Nr. 3 StPO führt nicht dazu, dass über den Antrag auf Reststrafenaussetzung nicht mehr zu entscheiden wäre. Denn allein durch die gewährte Haftunterbrechung ist die Strafvollstreckung nicht erledigt (BGH, Beschluss vom 8. Oktober 1999, 2 ARs 408/99 - 2 AR 171/11, juris [nach Abschiebung gemäß § 456 a StPO], OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22. Januar 2002, 3 Ws 530/01, juris; Hubrach in Leipziger Kommentar, StGB, 13. Aufl., § 57, Rn. 79).

2.

Die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO liegen vor.

Im Vollstreckungsverfahren ist dem Verurteilten in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Sach- und Rechtslage schwierig ist oder die Unfähigkeit des Verurteilten, seine Rechte sachgemäß wahrzunehmen, das gebietet (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 2. Mai 2002, 2 BvR 613/02, juris, Rn. 11; OLG München, Beschluss vom 29. Juli 2014, 1 Ws 526/14, juris, Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 140, Rn. 34).

Vorliegend ist zumindest die Sach- und Rechtslage schwierig. Zwar wurde die Behauptung des Verteidigers, der Verurteilte leide unter einer fortschreitenden Demenz, bislang durch nichts belegt; auch ist nicht ersichtlich oder wurde dies vorgetragen, dass der Verurteilte unter rechtlicher Betreuung stünde. Jedoch ist der Verurteilte nach einem Schlaganfall körperlich immerhin so schwer erkrankt, dass dies nach Einholung ärztlicher Stellungnahmen zu einer Haftunterbrechung geführt hat, so dass die Strafvollstreckungskammer nun den Einfluss der Erkrankung auf die Kriminalprognose aufzuklären hat. Die Kammer wird sich zu diesem Zweck eingehend mit dem aktuellen Gesundheitszustand des Verurteilten und den bereits vorhandenen ärztlichen Stellungnahmen (vgl. u.a. die in der Stellungnahme des Anstaltsarztes A. geschilderten Beeinträchtigungen, Bl. 194, 216 d. VH) - auseinandersetzen und diese in Beziehung zu den begangenen Straftaten setzen müssen. Neben dieser Schwierigkeit auf tatsächlicher Ebene kommt hier noch hinzu, dass - wie sich aus der oben dargestellten Prozessgeschichte ergibt - der Vollstreckungsfall in rechtlicher Hinsicht Fragen aufwirft, die sowohl die Strafvollstreckungskammer als auch die Generalstaatsanwaltschaft zunächst verkannt haben.

3.

Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass die Strafvollstreckungskammer nunmehr nicht nur über den Antrag auf Aussetzung der Reststrafe im vorliegenden Verfahren der Staatsanwaltschaft Hamburg (3311 Js 173/17 VRs), sondern auch im Verfahren der Staatsanwaltschaft Braunschweig (111 Js 29122/15 VRs) zu entscheiden haben wird (§ 454b Abs. 4 StPO).

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO.