Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 21.07.2011, Az.: Ws 178/11
Anfallen der zusätzlichen Verfahrensgebühr Nr. 4141 VV RVG im Falle der Revisionsrücknahme bei Bestehen von konkreten Anhaltspunkten der ausnahmsweisen Anberaumung der Hauptverhandlung
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 21.07.2011
- Aktenzeichen
- Ws 178/11
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 36149
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:2011:0721.WS178.11.0A
Rechtsgrundlagen
- Nr. 4141 VV RVG
- § 84 Abs. 2 BRAGO
Fundstellen
- ZAP 2012, 446
- ZAP EN-Nr. 269/2012
Amtlicher Leitsatz
Im Falle der Revisionsrücknahme fällt die zusätzliche Verfahrensgebühr Nr. 4141 VV RVG nur an, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ausnahmsweise eine Hauptverhandlung anberaumt wird.
Tenor:
Auf die Beschwerde des Bezirksrevisors bei dem Landgericht Braunschweig wird der Beschluss des Landgerichts Braunschweig vom 8. Juni 2011 aufgehoben.
Die Erinnerung des Rechtsanwalts W... S... gegen den Vergütungsfestsetzungsbeschluss des Landgerichts Braunschweig vom 18. April 2011 wird als unbegründet verworfen.
Das Beschwerdeverfahren ist gebührenfrei; Kosten werden nicht erstattet.
Gründe
Die Beschwerde hat Erfolg.
I.
Der Verteidiger Rechtsanwalt S. nahm an der Hauptverhandlung erster Instanz gegen die Angeklagte vor dem Landgericht Braunschweig teil. Gegen das Urteil des Landgerichts legten sowohl die Staatsanwaltschaft als auch er zu Gunsten der Angeklagten Revision ein, zugleich rügten beide Seiten die Verletzung materiellen Rechts. Nachdem die Urteilsausfertigung mit den schriftlichen Urteilsgründen erstellt und zugestellt worden war, nahmen sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Verteidiger jeweils die Revision zurück. Der Verteidiger beantragte für das Revisionsverfahren die Festsetzung der Verfahrensgebühr nach Nr. 4130 VV RVG sowie - darüber hinaus - die Festsetzung der Gebühr Nr. 4141 VV RVG als zusätzlicher Gebühr, da durch seine anwaltliche Mitwirkung, nämlich insbesondere durch die Rücknahme der Revision, die Hauptverhandlung entbehrlich geworden sei. Durch den Vergütungsfestsetzungsbeschluss des Landgerichts Braunschweig vom 18. April 2011 wurde jedoch die letztgenannte Gebühr abgesetzt, "da zum Zeitpunkt der Rücknahme der Revision die Akten noch nicht dem BGH vorlagen und daher auch noch nicht beurteilten werden konnte, ob dort einer Hauptverhandlung stattfinden würde". Hierbei bezog sich die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle auf eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamburg vom 16. Juni 2008 (2 Ws 82/08; StRR 2009, 239). Auf die vom Verteidiger hiergegen eingelegte Erinnerung hat die zuständige Strafkammer des Landgerichts durch den angefochtenen Beschluss auch die Vergütung nach Nr. 4141 VV RVG nebst Mehrwertsteuer in Höhe von 490,28 € festgesetzt. Dagegen hat der Bezirksrevisor beim Landgericht Braunschweig Beschwerde eingelegt und beruft sich auf die von zahlreichen Oberlandesgerichten vertretene Auffassung, wonach die genannte Gebühr nur entstehen könne, wenn im Einzelfall Anhaltspunkte dafür vorliegen würden, dass bei einer Fortführung der Revision des Angeklagten eine Hauptverhandlung durchgeführt worden wäre; letzteres lasse sich jedenfalls nicht beurteilen, solange die Revision nicht dem Revisionsgericht vorgelegt worden sei.
II.
Die Beschwerde ist nach Auffassung des Senats, der nach den §§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 8 S. 1, 2. Halbsatz RVG (im Umkehrschluss) in der Besetzung mit drei Richtern zu entscheiden hat, zulässig und auch in der Sache selbst begründet. Der Senat teilt die Auffassung des Bezirksrevisors, dass im Falle der Revisionsrücknahme die Befriedungsgebühr nach Nr. 4141 VV RVG nur anfällt, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ausnahmsweise eine Hauptverhandlung anberaumt wird.
Nach dem eindeutigen Wortlaut des Tatbestandes der Gebührenbeschreibung der Nr. 4141 VV RVG ist Voraussetzung für das Entstehen der Gebühr, dass "die Hauptverhandlung entbehrlich" wird. Die (kleiner gedruckten) näheren Ausführungen nach diesem Gebührentatbestand stellen lediglich weitere Voraussetzungen und Erklärungen für diesen Gebührentatbestand dar, sodass sich entgegen der Auffassung des Landgerichts aus Abs. 1 Nr. 3 dieser näheren Ausführungen nicht der Schluss ziehen lässt, dass der oben beschriebene Gebührentatbestand - das Entbehrlichwerden der Hauptverhandlung - dadurch wieder obsolet würde. Vielmehr ist durch die Neuregelung dieses Gebührentatbestandes der Grundgedanke zu § 84 Abs. 2 BRAGO übernommen worden, dass eine intensive und zeitaufwendige Tätigkeit des Verteidigers außerhalb der Hauptverhandlung gebührenrechtlich honoriert werden soll, wenn diese intensiven Tätigkeiten zu einer Vermeidung der Hauptverhandlung und damit zum Verlust der Hauptverhandlungsgebühr führen (vgl. BT-Drs. 15/1971, S. 219 bis 230 - zu Nr. 4141 - OLG Hamm, NStZ-RR 2007, 160 [OLG Hamm 20.06.2006 - 4 Ws 144/06], [OLG Hamm 20.06.2006 - 4 Ws 144/06] m. w. N.). Demgemäß ist aber die vom Gesetzgeber gewollte Honorierung dort nicht angezeigt, wo der Anfall der Hauptverhandlungsgebühr gar nicht zu erwarten steht. Würde man mit dem Oberlandesgericht Düsseldorf (Beschl. v. 12.09.2005, zit. nach www.buhrhoff.de) gleichwohl die Gebühr zuerkennen, stünde sich der Verteidiger, der die eingelegte (und ggf. begründete) Revision zurücknimmt, gebührenrechtlich besser als der, der das Revisionsverfahren durchführt, ohne dass es zu einer Hauptverhandlung kommt. Das würde geradezu einen Anreiz schaffen, eine Revision einzulegen, mit der allgemeinen Sachrüge zu begründen und anschließend wieder zurückzunehmen. Statt zu einer Arbeitsentlastung bei der Justiz käme es zu einer Mehrbelastung der Instanzgerichte, da die Urteilsgründe wegen des - später zurückgenommenen - Rechtsmittels nicht nach § 267 Abs. 4 StPO abgekürzt werden könnten; genau dieser Mehraufwand ist im vorliegenden Fall beim Landgericht entstanden (vgl. zu dieser Begründung auch OLG Köln, StRR 2009, 239 und OLG Hamm, a. a. 0.).
Diese vom Senat vertretene Auffassung, die der herrschenden Meinung der Oberlandesgerichte entspricht (Buhrhoff in Gerold/Schmidt, RVG, 19. Auflage, VV 4141, Rn. 35, m. zahlr. Nachw.) wird insbesondere dadurch gestützt, dass im Gegensatz zum Strafbefehlsverfahren nach Einspruch und zum Berufungsverfahren, die beide gleichwertig unter Abs. 1 Nr. 3 der zusätzlichen Bestimmungen unter dem genannten Gebührentatbestand erwähnt werden, nach Einlegung der Revision die Durchführung einer Hauptverhandlung faktisch die Ausnahme und die Beschlussentscheidung nach § 349 Abs. 2 StPO oder/und § 349 Abs. 4 StPO die Regel ist, sodass die Wirkung der Rücknahme einer Revision hinsichtlich ihrer Einsparwirkung mit den beiden anderen Konstellationen des Einspruchsverfahrens nach dem Strafbefehl und des Berufungsverfahrens nicht verglichen werden kann (vgl. Senat, Beschl. v. 16.03.2006 - Ws 25/06 -). Allein die theoretische Möglichkeit der Durchführung einer Hauptverhandlung nach Einlegung der Revision und ggfs. nach ihrer Begründung rechtfertigt daher nicht den Anfall der geltend gemachten Zusatzgebühr (Brandenburgisches OLG, NStZ-RR 2007, 288). Etwas anderes ergibt sich im vorliegenden Fall auch nicht daraus, dass auch die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt hat, die gemäß § 349 Abs. 5 StPO im Regelfall zwingend zu einer Revisionshauptverhandlung führen würde. Denn diese Revision ist ja gerade wieder - bereits vor der Revisionsrücknahme durch den Verteidiger - zurückgenommen worden, sodass auch dieser Umstand in der vorliegenden Konstellation nicht zu einer Revisionshauptverhandlung führen konnte, als der Verteidiger (und die Angeklagte) vor der Frage standen, ob die Revision zurückgenommen werden soll. Die vorliegende Verfahrensweise legt eher ein taktisches Verhalten nahe (ohne dass die vorliegenden Umstände, die für ein taktisches Verhalten sprechen könnten, für den vorliegenden Fall entscheidungserheblich sind).
Mit dieser Entscheidung setzt sich der Senat auch nicht in Widerspruch mit seiner bereits zitierten Entscheidung vom 16, März 2006. Dort hatte der Senat über einen Fall zu entscheiden, in welchem die Revision vom Verteidiger noch gar nicht begründet war. Damit braucht der Senat lediglich zu entscheiden, dass es für die Erfüllung des Tatbestandes der Nr. 4141 VV RVG der "Mindestvoraussetzung" bedarf, "dass wenigstens schon die theoretische Möglichkeit der Anberaumung eines Verhandlungstermins nach § 350 StPO besteht". Ob - mit der herrschenden Meinung in Übereinstimmung mit der vorliegenden Entscheidung - weitere Voraussetzungen erfüllt sein müssen, konnte wegen der damaligen Fallkonstellation dahingestellt bleiben.
Diese vom Senat mit der herrschenden Meinung vertretene Ansicht erscheint auch nicht unbillig. Die im Anschluss an die (gebührenrechtlich neutrale) Einlegung der Revision vorzunehmende prüfende und beratende Tätigkeit des Rechtsanwalts wird durch die Gebühr Nr. 4130/4131 VV RVG abgedeckt. Diese umfasst die Prüfung und Beratung, ob und mit welchem Inhalt die Revision durchgeführt werden soll. Ergebnis dieser Beratung kann sein, die Revision weitergehend zu begründen oder aber auch sie mangels Erfolgsaussicht zurückzunehmen (vgl. auch zu dieser Begründung OLG Hamm, a. a. O.). Dies gilt auch gerade im vorliegenden Fall, in welchem die Revision möglicherweise nur vorsorglich eingelegt und mit der nicht näher ausgeführten Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründet worden ist und die Frage der Durchführung der Revision ersichtlich erst nach Vorlage der schriftlichen Urteilsgründe geprüft werden sollte.
III.
Die Entscheidung, dass das Verfahren gebührenfrei ist und Kosten nicht erstattet werden, beruht auf § 56 Abs. 2 S. 2 und 3 RVG.