Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 27.09.2021, Az.: 2 Ws 258/21

Absehen von Vorwegvollstreckung geringerer Verurteilungen gegenüber lebenslanger Freiheitsstrafe; Widerruf von Restfreiheitsstrafen; Wichtiger Grund im Sinne des § 43 Abs. 4 StVollStrO

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
27.09.2021
Aktenzeichen
2 Ws 258/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 63763
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2021:0927.2WS258.21.00

Verfahrensgang

vorgehend
LG Hannover - AZ: 38 StVK 37/20
LG Hannover - AZ: 38 StVK 38/20
LG Hannover - AZ: 38 StVK 39/20
LG Hannover - AZ: 38 StVK 40/20
LG Hannover - AZ: 38 StVK 41/20

Fundstelle

  • StV 2022, 316

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    In Fällen, bei denen infolge der rechtskräftigen Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe offene Reststrafen aus früheren Verurteilungen widerrufen werden, liegt ein wichtiger Grund i.S.v. § 43 Abs. 4 StrVollstrO vor, der es im Sinne einer Ermessensreduzierung auf Null zwingend erforderlich macht, von der gem. § 454b Abs. 2 S. 2 StPO grundsätzlich vorgesehenen Vorwegvollstreckung der widerrufenen Reststrafen abzusehen.

  2. 2.

    Zwar ist die Strafvollstreckungskammer beim Zusammentreffen von Freiheitsstrafen und Strafresten grundsätzlich an die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde über die Reihenfolge der Vollstreckung gebunden; die Bindungswirkung entfällt indes, wenn die Vollstreckungsbehörde den Vorwegvollzug von Restfreiheitsstrafen nach Widerruf vor dem Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe anordnet.

Tenor:

1.) Auf die sofortigen Beschwerden der Staatsanwaltschaft Hildesheim und des Verurteilten gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer 6 des Landgerichts Hannover vom 29. Juni 2021 wird festgestellt, dass 15 Jahre der lebenslangen Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Hildesheim vom 17.11.2006 am 11.06.2021 verbüßt waren.

2.) Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass die besondere Schwere der Schuld die weitere Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe bis zum Ablauf von 20 Jahren gebietet.

3.) Die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird als unbegründet verworfen.

4.) Die Kosten der sofortigen Beschwerde der Staatsanwaltschaft und die dem Verurteilten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse zu 2/3 auferlegt; im Übrigen trägt der Verurteilte, der auch die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen hat, die diesbezüglich entstandenen Kosten sowie seine notwendigen Auslagen.

Gründe

I.

Der Verurteilte verbüßt derzeit eine lebenslange Freiheitsstrafe aus der Verurteilung durch das Landgericht Hildesheim vom 17.11.2006 (12 Ks 17 Js 16608/06) wegen Mordes. Die besondere Schwere der Schuld wurde festgestellt und die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung angeordnet.

Der Verurteilte war bereits zuvor zahlreiche Male strafrechtlich in Erscheinung getreten, u.a. wie folgt:

Am 25. Mai 1988 verurteilte ihn das Amtsgerichts Warendorf (Az.: 7 Ls 55 Js 2144/87) wegen gemeinschaftlichen Diebstahls in Tateinheit mit fortgesetztem Fahren ohne Fahrerlaubnis, fortgesetzten gemeinschaftlichen Raubes in einem besonders schweren Fall in Tateinheit mit fortgesetzter gemeinschaftlicher Körperverletzung sowie fortgesetzter gemeinschaftlicher Urkundenfälschung in Tateinheit mit fortgesetztem gemeinschaftlichem Betrug und versuchter Nötigung zu einer Jugendstrafe von 5 Jahren. Durch Beschluss des Amtsgerichts Iserlohn vom 26.11.1990 wurde der Rest der Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt und der Angeklagte am 28.11.1990 aus der Haft entlassen. Mit Beschluss vom 16.01.1996 widerrief das Amtsgerichts Osnabrück die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung, nachdem der Verurteilte eine Vielzahl weiterer Straftaten begangen hatte und am 08.02.1995 festgenommen worden war. In der Folgezeit wurde die Vollstreckung der Jugendstrafe vom Vollstreckungsleiter gem. § 85 Abs. 6 JGG an die nach den allgemeinen Vorschriften zuständige Vollstreckungsbehörde abgegeben.

Am 02. März 1992 verurteilte ihn das Amtsgericht Osnabrück (Az.: 5 Ls 12 Js 17652/91) wegen Unterschlagung zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 8 Monaten, deren Vollstreckung zunächst zur Bewährung ausgesetzt, in der Folgezeit allerdings wegen weiterer Straftaten des Verurteilten in der Bewährungszeit durch Beschluss des Amtsgerichts Osnabrück vom 08.09.1995 widerrufen wurde.

Am 29.05.1996 wurde der Verurteilte schließlich durch das Landgericht Essen (Az.: 31/57 Js 610/95 - 21/95) wegen schweren Raubes in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung der Einzelstrafen weiterer Verurteilungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 10 Jahren und 6 Monaten verurteilt.

Die Strafen aus allen drei Verurteilungen wurden in der Folgezeit nicht vollständig vollstreckt; durch Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Osnabrück mit Sitz in Lingen vom 23.04.2004 wurde die Vollstreckung der Strafreste aus den Verurteilungen des Amtsgerichts Osnabrück und des Landgerichts Essen zum ersten Mal und die Vollstreckung des Strafrestes aus der Verurteilung des Amtsgerichts Warendorf zum zweiten Mal zur Bewährung ausgesetzt, die Bewährungszeit auf 4 Jahre festgesetzt und der Verurteilte infolgedessen am 10.05.2004 aus der JVA Meppen entlassen.

Am 02.06.2006 beging der Verurteilte sodann den der Verurteilung des Landgerichts Hildesheim vom 17.11.2006 zugrundeliegenden Mord an seiner Ehefrau, wobei er aus niedrigen Beweggründen handelte und das Mordmerkmale der Heimtücke verwirklichte.

Nach den Feststellungen des Urteils hatte sich das spätere Tatopfer, die Ehefrau des Verurteilten, entschlossen, ihren Ehemann, der sie bereits am 06.12.2004 gewürgt hatte, täglich Cannabis konsumierte und insbesondere aufgrund seiner Spielsucht erheblich verschuldet war, zu verlassen. Infolgedessen hatte sie sich am 30.05.2006 heimlich mit den beiden gemeinsamen Kindern in ein Frauenhaus begeben, während der Verurteilte eine Gerichtsverhandlung als Angeklagter in einem gegen ihn gerichteten Strafverfahren bei dem Amtsgericht Peine wahrnahm. Der Verurteilte, dessen Einsichts- und Steuerungsfähigkeit nicht beeinträchtigt war, wollte die Trennung nicht akzeptieren, ermittelte durch Nachforschungen den Aufenthaltsort seiner Frau und lauerte ihr am Tattage, dem 02.06.2006 bewaffnet mit einem Küchenmesser mit einer Klingenlänge von 20 cm auf. Sodann verfolgte er sie bis zur Geschäftsstelle des D... in der H. 9 in P., betrat das Gebäude, und stach - wie von Anfang an geplant - mehrfach auf seine Ehefrau ein, um sie zu töten. Ein Stich drang wuchtig oberhalb des linken Schlüsselbeins in den unteren Hals der Geschädigten ein, wodurch diese bereits kurz danach verstarb.

Das Urteil des Landgerichts Hildesheim vom 17.11.2006 ist seit dem 04.04.2007 rechtskräftig. Unter Anrechnung der Untersuchungshaft wurde im Vollstreckungsblatt für den Ablauf von 15 Jahren der lebenslangen Freiheitsstrafe zunächst der 11.06.2021 notiert.

Aufgrund der dargestellten Verurteilung vom 17.11.2006 wurde in der Folgezeit die Aussetzung der Reststrafen aus den Urteilen des Amtsgerichts Warendorf vom 25. Mai 1988, des Amtsgerichts Osnabrück vom 02.03.1992 und des Landgerichts Essen vom 29.05.1996 rechtskräftig widerrufen.

Hierauf änderte die Vollstreckungsbehörde die Vollstreckungsreihenfolge, vollstreckte die widerrufenen Strafreste vor der lebenslangen Freiheitsstrafe und errechnete als neuen Termin für den Ablauf von 15 Jahren der lebenslangen Freiheitsstrafe den 25.08.2025.

Den hierauf gestellten Antrag des Verurteilten auf erneute Änderung der Vollstreckungsreihenfolge und Vorwegvollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe verwarf die Staatsanwaltschaft Hildesheim mit Bescheid vom 19.06.2008. Das hiergegen eingelegte Rechtsmittel des Verurteilten wies die Generalstaatsanwaltschaft Celle mit Bescheid vom 08.07.2008 zurück. Der Senat hat den Antrag des Verurteilten auf gerichtliche Entscheidung gem. § 23 EGGVG mit Beschluss vom 31.07.2008 verworfen (Az.: 2 VAs 13/08). Die gegen diesen Beschluss vom Verurteilten eingelegte Verfassungsbeschwerde wurde mit Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 08.10.2008 (Az.: 2 BvR 1875/08) nicht zur Entscheidung angenommen.

Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 11.03.2020 hat der Verurteilte beantragt, die Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe aus der Verurteilung des Landgerichts Hildesheim vom 17.11.2006, der Reststrafen aus den Verurteilungen des Amtsgerichts Warendorf vom 25. Mai 1988, des Amtsgerichts Osnabrück vom 02. März 1992 und des Landgerichts Essen vom 29.05.1996 sowie der mit Urteil des Landgerichts Hildesheim vom 17.11.2006 ebenfalls verhängten Sicherungsverwahrung zur Bewährung auszusetzen.

Die Strafvollstreckungskammer 6 des Landgerichts Hannover hat mit Beschluss vom 29. Oktober 2020 ein Sachverständigengutachten zu der Frage in Auftrag gegeben, ob die durch die Tat vom 02.06.2006 zutage getretene Gefährlichkeit des Verurteilten fortbesteht und ob der Zweck der Maßregel die angeordnete Unterbringung in der Sicherungsverwahrung noch erfordert. Ausweislich der Gründe des Beschlusses sah sich das Landgericht nicht an die von der Staatsanwaltschaft festgelegte Vollstreckungsreihenfolge gebunden und erachtete infolge einer Änderung der Vollstreckungsreihenfolge im Sinne einer "Umbuchung" 15 Jahre der lebenslangen Freiheitsstrafe bereits am 11.06.2021 für verbüßt.

Der Sachverständige Dr. med. C. R., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, erstattete am 21.02.2021 sein schriftliches Prognosegutachten.

Nach mündlicher Anhörung des Verurteilten und seines Verteidigers sowie des Sachverständigen entschied die Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 29. Juni 2021, dass die weitere Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe und die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung aus dem Urteil des Landgerichts Hildesheim vom 17.11.2006 nicht zur Bewährung ausgesetzt werden, und stellte fest, die besondere Schwere der Schuld gebiete die Verbüßung von 19 Jahren der lebenslangen Freiheitsstrafe. Zu einer Entscheidung über die Strafen aus den Urteilen des Amtsgerichts Warendorf vom 25. Mai 1988, des Amtsgerichts Osnabrück vom 02. März 1992 und des Landgerichts Essen vom 29.05.1996 sah sich das Landgericht nicht berufen.

Hiergegen wenden sich der Verurteilte sowie die Staatsanwaltschaft mit dem Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde, wobei die Staatsanwaltschaft allein die Festsetzung einer Mindestverbüßungszeit von 22 Jahren anstrebt.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die sofortige Beschwerde des Verurteilten zu verwerfen und auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft den angefochtenen Beschluss dahingehend abzuändern, dass die besondere Schwere der Schuld eine Verbüßung von 22 Jahren der lebenslangen Freiheitsstrafe gebietet.

II.

Die statthaften und insgesamt zulässigen sofortigen Beschwerden von Staatsanwaltschaft und Verurteilten führen zu der aus dem Tenor ersichtlichen deklaratorischen Klarstellung des Vollstreckungsstands der lebenslangen Freiheitsstrafe (vgl. die folgenden Ausführungen zu Ziffer 1). Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat der Senat zudem die Mindestverbüßungsdauer der lebenslangen Freiheitsstrafe auf 20 Jahre Freiheitsstrafe festgesetzt (Ziffer 2) und das weitergehende Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft und das Rechtsmittel des Verurteilten in Gänze als unbegründet verworfen (Ziffer 3).

1.) Die Strafvollstreckungskammer hat über den Antrag des Verurteilten vom 11.03.2020 zunächst zutreffend eine inhaltliche Prüfung der Voraussetzungen von § 57a Abs. 1 Nr. 2 StGB vorgenommen und das Begehr des Verurteilten nicht wegen verfrühter Antragstellung als unzulässig zurückgewiesen.

Über die Frage, ob und gegebenenfalls für welche Dauer die im Erkenntnisverfahren bejahte besondere Schwere der Schuld eine Vollstreckung über fünfzehn Jahre hinaus gebietet, ist nach der Rechtsprechung einheitlich im Rahmen des Aussetzungsverfahrens nach § 57a Abs. 1 StGB, § 454 Abs. 1 StPO zu befinden; nach dem in § 454 Abs. 1 Satz 4 Nr. 2b StPO verankerten gesetzgeberischen Willen soll das Prüfverfahren grundsätzlich nach Ablauf einer 13jährigen Vollzugsdauer eingeleitet werden. Auch in der Rechtsprechung ist anerkannt, dass die Prüfung in der Regel erst bei Ablauf einer Verbüßungszeit von dreizehn Jahren der lebenslangen Freiheitsstrafe erfolgen soll (OLG Hamburg, Beschluss vom 30.11.1995 - 2 Ws 360/95, NStZ-RR 1996, 124).Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes drängt sich kein bestimmter genereller Zeitpunkt auf, von dem ab regelmäßig schon vor Erreichen einer Verbüßungszeit von 13 Jahren über die mögliche Strafaussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung entschieden werden müsste (BVerfG, 2. Kammer des Zweiten Senats, Beschluss vom 21.12.1994 - 2 BvR 2504/93, NJW 1995, 3246). Für eine ausnahmsweise frühere Entscheidung im Einzelfall verlangt das Bundesverfassungsgericht eine konkrete und nachvollziehbare Darlegung durch den Verurteilten, warum anderenfalls seine Chance auf frühestmögliche Entlassung nach Ablauf der Mindestverbüßungszeit von fünfzehn Jahren in Gefahr geriete (BVerfG a.a.O.).

Vorliegend sind unter Berücksichtigung der von der Staatsanwaltschaft vorgesehenen Vollstreckungsreihenfolge 15 Jahre der lebenslangen Freiheitsstrafe erst am 25. August 2025 verbüßt.

Gleichwohl war die Strafvollstreckungskammer angesichts der Besonderheiten des vorliegend zu beurteilenden Einzelfalls keineswegs gehalten, den Antrag des Verurteilten wegen verfrühter Antragstellung ohne sachliche Prüfung abzulehnen.

Zwar ist die Strafvollstreckungskammer beim Zusammentreffen von Freiheitsstrafen und Strafresten grundsätzlich an die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde über die Reihenfolge der Vollstreckung gebunden, denn dem Verurteilten steht gegen die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde der Rechtsweg gemäß § 23 EGGVG zum Oberlandesgericht offen (Senat, Beschluss vom 18. Januar 2013, Az.: 2 Ws 2/13; Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 13. November 1992 - 2 Ws 523 - 525/92 -, juris). Diesen Rechtsweg hat der Verurteilte vorliegend im Ergebnis erfolglos beschritten; das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung 08.10.2008 (Az.: 2 BvR 1875/08) allerdings explizit hervorgehoben, dass die Strafvollstreckungskammer in Fällen, bei denen die Vollstreckungsbehörde durch den Vorwegvollzug von Restfreiheitsstrafen nach Widerruf schuldhaft Umstände schafft, die eine spätere Strafaussetzung dieser verbüßten Strafen faktisch ausschließen, an die Beurteilung der Vollstreckungsbehörde zur Vollstreckungsreihenfolge nicht gebunden ist. Vielmehr obliege den Gerichten bei der Prüfung der Voraussetzungen von §§ 57, 57a StGB im Hinblick auf das Freiheitsgrundrecht und das Gebot des fairen Verfahrens die Prüfung der Frage, ob die von der Staatsanwaltschaft angeordnete Vorwegvollstreckung widerrufener Restfreiheitsstrafen vor der Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe und der damit verbundene Ausschluss einer (erneuten) Aussetzung der Reststrafen zur Bewährung mit Recht und Gesetz in Einklang zu bringen ist (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 02. Mai 1988 - 2 BvR 321/88 -, juris).

Diese Prüfung ergibt vorliegend, dass der Vorwegvollzug der widerrufenen Reststrafen vor der Verbüßung der lebenslangen Freiheitsstrafe aus der Verurteilung durch das Landgericht Hildesheim vom 17.11.2006 nicht auf einer tragfähigen Grundlage beruht.

a) Die Frage, in welcher Reihenfolge mehrere Freiheitsstrafen zu vollstrecken sind, wird auf der gesetzlichen Grundlage des § 454b StPO durch die Vorschrift des § 43 StrVollstrO geregelt.

Einleitend bemerkt der Senat insoweit, dass dem Umstand, dass mit der Verurteilung durch das Amtsgericht Warendorf vom 25.05.1988 eine Jugend- und keine Freiheitsstrafe ausgeurteilt wurde, deren Aussetzung zur Bewährung widerrufen wurde, keine Bedeutung zukommt.

Zwar trifft § 89a Abs. 1 S. 4 JGG gegenüber der Vorschrift des § 454b StPO eine spezielle Regelung für die Vollstreckung widerrufener Jugendstrafen. Nach dieser Vorschrift kann die Vollstreckung eines Strafrests, der auf Grund Widerrufs seiner Aussetzung vollstreckt wird, unterbrochen werden, wenn mindestens sechs Monate des Strafrests verbüßt sind und eine erneute Aussetzung in Betracht kommt. Jedenfalls in Fällen, bei denen - wie vorliegend - der Verurteilte rechtskräftig aus dem Jugendstrafvollzug mit anschließender Übertragung der Vollstreckungszuständigkeit auf die Staatsanwaltschaft herausgenommen wurde, ist § 89a Abs. 1 S. 4 JGG jedoch bereits nach § 85 Abs. 6 S. 2 JGG nicht mehr anwendbar. Denn diese Vorschrift stellt als Ausnahme von dem nach allgemeinem Prozessrecht grundsätzlich geltenden Unterbrechungsverbot für widerrufene Strafreste (§ 454 b Abs. 2 S. 2 StPO) eine "bloß" verfahrensrechtliche Regelung ohne materiell-rechtlichen Gehalt dar. Auch der widerrufene Rest einer Jugendstrafe ist wie ein Strafrest nach allgemeinem Strafrecht bei entsprechend günstiger Kriminalprognose sofort, d. h. jederzeit und ohne sechsmonatige (An)Vollstreckung erneut aussetzungsfähig (OLG Dresden, Beschl. v. 12.10.2015 - 2 VAs 19/15, NStZ 2016, S. 109; OLG Stuttgart, Beschluss vom 30.12.2019 - 4 VAs 6/19, BeckRS 2019, 35832).

Nach alledem war die Frage, ob die widerrufenen Reststrafen aus den drei nicht vollständig vollstreckten Strafen der Vorverurteilungen vor der lebenslangen Freiheitsstrafe zu vollstrecken waren, allein nach § 454b StPO i.V.m. § 43 StrVollstrO zu beurteilen.

b) Es steht außer Frage, dass der Zweck der in § 454b Abs. 2 S. 1 StPO zwingend angeordneten Vollstreckungsunterbrechung darin liegt, dem Verurteilten die Chance zu erhalten, dass der noch nicht vollstreckte Rest der ersten Strafe zusammen mit dem letzten Drittel der zweiten Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird. Zwar nehmen Strafreste, deren Aussetzung widerrufen worden ist, grundsätzlich nicht an der durch § 454b Abs. 2 Satz 1 StPO in Verbindung mit §§ 57, 57a StGB gewährleisteten gemeinsamen Aussetzungsentscheidung teil (§ 454b Abs. 2 Satz 2 StPO) und sind deshalb regelmäßig der Vorwegvollstreckung überantwortet (BGH, Beschluss vom 09. Februar 2012 - 5 AR (VS) 40/11 -, BGHSt 57, 155-159, Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 21. September 2020 - 203 VAs 215/20 -, juris; OLG Jena, Beschluss vom 23.01.2014 - 1 Ws 1/14, BeckRS 2014, 9315; BeckOK StPO/Coen, 36. Ed. 1.1.2020, StPO § 454b Rn. 6; MüKoStPO/Nestler, 1. Aufl. 2019, StPO § 454b Rn. 22), denn das Bedürfnis, einem Verurteilten nach einem Bewährungsversagen die Chance auf abermalige Strafaussetzung zu gewähren, wiegt deutlich geringer. Zudem bliebe die Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung im Hinblick auf den Aufschub der Strafvollstreckung andernfalls regelmäßig ohne alsbald spürbare Wirkung auf den Verurteilten (BGH a.a.O.).

In der Rechtsprechung ist allerdings anerkannt, dass § 43 Abs. 4 StVollstrO der Vollstreckungsbehörde durch Einräumung eines Ermessens erlaubt, die besonderen Umstände eines jeden Einzelfalls zu berücksichtigen (Bayerisches Oberstes Landesgericht, a.a.O.). Den Vollstreckungsbehörden wird im Rahmen des § 43 Abs. 4 StVollstrO hinsichtlich der Annahme eines wichtigen Grundes, um von der grundsätzlich vorgesehenen Vollstreckungsreihenfolge abzuweichen, ein Beurteilungsspielraum gewährt (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 10.01.2019 - 2 VAs 60/18, BeckRS 2019, 147; Wolf in: Pohlmann/Jabel/Wolf, Strafvollstreckungsordnung, § 43 StVollstrO). Ein Absehen vom vollständigen Vorwegvollzug widerrufener Strafreste kommt dabei nur in geeigneten Einzelfällen in Betracht, d.h. wenn konkrete Umstände vorliegen, hinter denen auch das erhöhte Vollstreckungsinteresse zurückzustehen hat. Dies ist unter Berücksichtigung des kaum auflösbaren Spannungsverhältnisses, das der Gesetzgeber dadurch geschaffen hat, dass die materiell-rechtliche Vorschrift des § 57 StGB nicht mit der verfahrensrechtlichen Regelung des § 454 Abs. 2, S. 2 StPO harmoniert, der Fall, wenn eine realistische, durch Tatsachen belegbare Chance dafür besteht, dass sich die Prognose noch vor Erreichen desjenigen Zeitpunkts, zu dem eine Aussetzungsentscheidung hinsichtlich der neuen Strafe auch dann in Betracht käme, wenn die alten Strafreste vorab verbüßt werden, zum Günstigen wendet (OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 7. 4. 2000 - VAs 11/00, NStZ-RR 2000, 282; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15. Mai 2001 - 2 VAs 3/01 -, juris). Insbesondere eine zu vollstreckende langfristige neue Strafe kann ein "wichtiger Grund" i.S.v. § 43 Abs. 4 StVollstrO sein, um von der üblichen Vollstreckungsreihenfolge abzuweichen (BGH a.a.O., KK-StPO/Appl, 8. Aufl. 2019, StPO § 454b Rn. 17, OLG Dresden StraFo 2012, 382), denn je eher noch eine Chance positiver Förderung im Vollzug besteht und je länger die noch zu verbüßende Haftzeit, innerhalb deren sich die Prognose möglicherweise noch zum Günstigeren wenden könnte, desto eher ist es geboten, einem Antrag auf Änderung der Vollstreckungsreihenfolge stattzugeben (OLG Frankfurt a.a.O.).

Hieran gemessen lag ein wichtiger Grund i.S.v. § 43 Abs. 4 StrVollstrO vor, der es zwingend erforderlich machte, von der durch die Vollstreckungsbehörde indes angeordneten Vorwegvollstreckung der Reststrafen aus den Urteilen des Amtsgerichts Warendorf vom 25. Mai 1988, des Amtsgerichts Osnabrück vom 02. März 1992 und des Landgerichts Essen vom 29.05.1996 abzusehen.

Denn gegen den Verurteilten wurde durch das Urteil des Landgerichts Hildesheim vom 17.11.2006 eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt. In derartigen Fällen ist das Ermessen der Vollstreckungsbehörde auf Null reduziert; die infolge der Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe widerrufenen restlichen Freiheitsstrafen dürfen nicht vor der lebenslangen Freiheitsstrafe vollstreckt werden.

Dabei hat der Senat in die Bewertung eingestellt, dass die Umstellung der Vollstreckungsreihenfolge und die Vorwegvollziehung der lebenslangen Freiheitsstrafe zur Folge haben, dass der Widerruf der Reststrafen aus den vorgenannten Verurteilungen zu einer bloßen Formalie mutiert und faktisch ins Leere geht, denn eine etwaige Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung hätte zwingend auch die erneute Aussetzung der im Anschluss notierten zeitigen Reststrafen zur Folge. Zudem würde ein etwaiger Widerruf sämtlicher zur Bewährung ausgesetzter Freiheitsstrafen ausschließlich die (erneute) Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe nach sich ziehen, während die zeitigen Strafreste lediglich als Anschlussvollstreckung zu notieren wären, ohne dass diese jemals vollstreckt würden. Der Senat hat überdies berücksichtigt, dass mit der zwingenden Vorwegvollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe vor den widerrufenen Reststrafen eine Privilegierung von Verurteilten verbunden ist, die einen Mord begangen haben, denn Verurteilte, die weniger schwerwiegende Delikte begehen und deren widerrufene Reststrafen nach § 454b Abs. 2 S. 2 StPO vor der neu verhängten Freiheitsstrafe vollzogen werden, kommen gerade nicht in den Genuss, dass ein Widerruf von zur Bewährung ausgesetzten Reststrafen faktisch ohne jede Auswirkung bleibt.

Das dargestellte Leerlaufen der mit dem Bewährungswiderruf vorrangig verfolgten negativen spezialpräventiven Zielsetzung ist indes unter Berücksichtigung des Resozialisierungsgedankens hinzunehmen. Ein Bedürfnis dafür, den Zeitpunkt der Verbüßung von 15 Jahren der lebenslangen Freiheitsstrafe und damit den frühest möglichen Entlassungstermin eines zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe Verurteilten durch den Vorwegvollzug widerrufener Reststrafen hinauszuzögern, ist nicht erkennbar. Denn eine Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung kommt auch nach Ablauf von 15 Jahren gem. § 57a Abs. 1 Nr. 3 StGB nur dann in Betracht, wenn dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann.

Bei Antritt des Vollzuges der lebenslangen Freiheitsstrafe ist gesetzlich festgelegt, dass eine Vollstreckungsdauer von mindestens 15 Jahren zur Verfügung steht, um die Legalprognose des Verurteilten so zu verbessern, dass von ihm für die Allgemeinheit keine Gefahr mehr ausgeht. Auch unter Berücksichtigung der mit der Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe verbundenen erheblichen Schuld des Verurteilten und seiner damit in der Regel einhergehenden ungünstigen Prognose zu Beginn des Vollzuges ist zu konstatieren, dass schon allein dieser erhebliche Zeitraum zu Beginn der Vollstreckung stets jedenfalls die Möglichkeit begründet, der Verurteilte könnte nach Ablauf dieser 15 Jahre so sehr resozialisiert sein, dass seine Entlassung verantwortet werden kann.

Im vorliegend zu beurteilenden Fall kommt hinzu, dass gegen den Verurteilten nicht nur eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt, sondern darüber hinaus die besondere Schwere der Schuld festgestellt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet wurde.

Hierdurch war bereits mit Rechtskraft der Verurteilung durch das Landgericht Hildesheim vom 17.11.2006 festgelegt, dass eine Mindestverbüßungszeit von mehr als 15 Jahren jedenfalls möglich erscheint und deren etwaige Dauer erst gegen Ende der Vollzugszeit festgelegt werden würde. Zudem war damit sichergestellt, dass der Verurteilte erst nach einer erfolgreichen Resozialisierung und nach Verbüßung einer Haftzeit, die der von ihm verwirklichten Schuld ausreichend Rechnung trägt, in die Freiheit entlassen werden kann. Durch die zugleich angeordnete Unterbringung in der Sicherungsverwahrung war zudem seit Inkrafttreten von § 67c Abs. 1 Nr. 2 StGB am 01.06.2013 sichergestellt, dass dem Verurteilten schon während des Strafvollzuges auf der Grundlage einer umfassenden Behandlungsuntersuchung und eines regelmäßig fortzuschreibenden Vollzugsplans eine Betreuung anzubieten sein würde, die individuell, intensiv sowie geeignet ist, seine Mitwirkungsbereitschaft zu wecken und zu fördern, insbesondere eine psychiatrische, psycho- oder sozialtherapeutische Behandlung, die auf ihn zugeschnitten ist, soweit standardisierte Angebote nicht Erfolg versprechend sind, und die zum Ziel hat, seine Gefährlichkeit für die Allgemeinheit entscheidend zu mindern. Auch hieraus wird deutlich, dass eine erfolgreiche Resozialisierung in der von Anfang an festgelegten langen Vollzugsdauer auch nach der Vorstellung des Gesetzgebers jedenfalls im Bereich des Möglichen liegt.

Gelingt dies, ist der Sinn und Zweck des Strafvollzuges erreicht; ein Bedürfnis, den Verurteilten im Strafvollzug zu halten, ist nicht mehr gegeben. Es liefe dem Grundgedanken des Strafvollzuges zuwider, wenn durch den Vorwegvollzug widerrufener Reststrafen der gesetzlich festgelegte Zeitpunkt der Mindestverbüßung einer lebenslangen Freiheitsstrafe von 15 Jahren hinausgezögert würde.

Hinzu kommt, dass dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten verfassungsrechtlich stets die Chance zu gewähren ist, vor seinem Tod wieder in die Freiheit zu gelangen (vgl. hierzu: BVerfG, Urteil vom 21. Juni 1977 - 1 BvL 14/76 -, BVerfGE 45, 187-271; BVerfG, Beschluss vom 08. November 2006 - 2 BvR 578/02 -, BVerfGE 117, 71-126). Dieses Recht könnte in Fällen, bei denen der Verurteilte bereits bei Antritt der lebenslangen Freiheitsstrafe erhebliche Vorerkrankungen oder ein hohes Lebensalter aufweist, durch einen Vorwegvollzug widerrufener Reststrafen und dem damit verbundenen Hinauszögern des Vollzuges von 15 Jahren Freiheitsstrafe gefährdet werden, ohne dass dem eine fortdauernde Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit zugrunde liegen würde.

Nach alledem war das Ermessen der Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde im vorliegenden Fall auf Null reduziert; die fehlerhaft festgelegte Vollstreckungsreihenfolge war umzustellen, so dass 15 Jahre der lebenslangen Freiheitsstrafe bereits am 11.06.2021 vollstreckt waren. Die Prüfung, ob und wenn ja wie lange die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung gebietet, war mithin veranlasst und keineswegs unzulässig.

Lediglich der Vollständigkeit und im Hinblick auf die Beschwerdebegründung des Verteidigers bemerkt der Senat in diesem Zusammenhang, dass das Verschlechterungsverbot der Überprüfung durch den Senat, ob die Strafvollstreckungskammer infolge verfrühter Antragstellung an der Festsetzung der Mindestverbüßungszeit gehindert war, nicht entgegensteht.

Das Verbot der reformatio in peius hat der Gesetzgeber ausdrücklich nur für das Berufungs-, Revisions- und Wiederaufnahmeverfahrenangeordnet; es betrifft zudem ausschließlich die Rechtsfolgen (Gössel in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2012, § 331, Rn. 9 m.w.N.); es entfaltet im Beschwerdeverfahren grundsätzlich keine Geltung und kommt nach der Rechtsprechung nur in Ausnahmefällen zur Anwendung, nämlich wenn Rechtsfolgen zu Lasten eines Beschuldigten ähnlich einem Urteil endgültig in einer der materiellen Rechtskraft fähigen Weise festgelegt werden (OLG Celle, Beschluss vom 08.07.2021, Az.: 3 Ws 196/21; Matt in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2014, § 309, Rn. 22 m.w.N.). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier schon deshalb nicht vor, weil die Frage der Vollstreckungsreihenfolge von verschiedenen, gegen den Verurteilten verhängten Strafen keine Rechtsfolgenentscheidung darstellt.

Zudem geht der Einwand des Verurteilten, die Strafvollstreckungskammer habe eine Zulässigkeit seines Antrages vom 11.03.2020 nur im Falle einer rückwirkenden Aussetzung der widerrufenen Reststrafe aus den Urteilen des Amtsgerichts Warendorf vom 25. Mai 1988, des Amtsgerichts Osnabrück vom 02. März 1992 und des Landgerichts Essen vom 29.05.1996 annehmen können, fehl. Wie dargelegt führt alleine eine Umstellung der Vollstreckungsreihenfolge dazu, dass 15 Jahre der lebenslangen Freiheitsstrafe bereits am 11.06.2021 vollstreckt waren, ohne dass hiermit eine Entscheidung über die (erneute) Strafaussetzung zur Bewährung verbunden wäre.

2.) Die Strafvollstreckungskammer hat zwar gem. § 57a Abs. 1 Satz 1 Nummer 2 StGB zu Recht festgestellt, dass die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe erfordert. Hinsichtlich der festgesetzten Mindestverbüßungsdauer erachtet der Senat jedoch einen 20-jährigen Vollzug der Strafe für erforderlich, aber auch ausreichend.

Nicht nur bei der Beurteilung der Frage, ob, sondern auch wie lange die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten i. S. d. § 57a Abs. 1 Nr. 2 StGB die weitere Vollstreckung gebietet, ist von der Strafvollstreckungskammer eine vollstreckungsrechtliche Gesamtwürdigung dergestalt vorzunehmen, dass eine eigene, auf den Entscheidungszeitpunkt bezogene Wertung vorzunehmen ist (BVerfG, Kammerbeschluss vom 30. April 2009 - 2 BvR 2009/08 -, juris). Die Frage, ob und wie lange die besondere Schuldschwere eine Fortsetzung der Vollstreckung über 15 Jahre hinaus gebietet, hat das Vollstreckungsgericht auf doppelter Beurteilungsgrundlage zu prüfen. Zum einen sind die tatschuldrelevanten Faktoren zu berücksichtigen (vgl. Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 9. Oktober 2002 - 1 Ws 325/02 (138/02) -, juris), wobei insoweit eine Bindung an die im Erkenntnisverfahren getroffenen Feststellungen zur besonderen Schuldschwere besteht (BVerfG, Beschluss vom 3. Juni 1992 - 2 BvR 1041/88 -, BVerfGE 86, 288 - 369). Zum anderen fließen in die vollstreckungsrechtliche Gesamtwürdigung auch diejenigen Umstände ein, die die Entwicklung des Verurteilten im Strafvollzug prägen (OLG Nürnberg, Beschluss vom 28. Januar 1997 - Ws 1211/96 -, juris; OLG Koblenz, Beschluss vom 8. März 1994 - 2 Ws 151/94 -, juris; Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 17. Februar 1994 - 2 Ws 602/93 -, juris). Im Rahmen dieser Gesamtwürdigung können Umstände Bedeutung erlangen wie ein hohes Lebensalter des Verurteilten, eine schwere Dauererkrankung, Sühneanstrengungen und Wiedergutmachungsbemühungen gegenüber Angehörigen des Opfers, Suizidversuche aus Verzweiflung über die Tat und eigene Bemühungen um die soziale Integration (BVerfG, Kammerbeschluss vom 22. Mai 1995 - 2 BvR 671/95 -, juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 14. September 1990 - 1 Ws 153/90 -, juris).

Den dargestellten Anforderungen an die vorzunehmende vollstreckungsrechtliche Gesamtwürdigung wird der angefochtene Beschluss weitgehend, aber nicht vollständig gerecht.

a) Die von dem Verurteilten im Antragsvorbringen sowie in der Beschwerdebegründung vorgebrachten Einwände gegen die vollstreckungsrechtliche Gesamtabwägung der Strafvollstreckungskammer greifen nicht durch.

Soweit er geltend macht, seine positive Persönlichkeitsentwicklung im Vollzug sei im Rahmen der Prüfung, ob die besondere Schwere der Schuld die weitere Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe gebiete, zu seinen Gunsten in die Bewertung einzustellen, liegt dem Einwand eine unzutreffende Einschätzung des bisherigen Strafvollzuges zugrunde. Der Verurteilte ist während seiner Inhaftierung durch zahlreiche Disziplinarmaßnahmen und sogar strafbares Verhalten in Erscheinung getreten. Dem Gutachten des Sachverständigen Dr. med. R. vom 21. Februar 2021, dessen Einholung wohl entbehrlich gewesen sein dürfte (vgl. hierzu: OLG Hamm, Beschluss vom 04. Juli 2017 - 1 Ws 280/17 -, juris; BGH, Beschluss vom 28. Januar 2000 - StB 1/00 -, juris), ist zu entnehmen, dass der Verurteilte die Verantwortung für seine Probleme und Konflikte weiterhin auf andere Beteiligte externalisiert und sich als Opfer seines ihm feindlich gesinnten Umfelds betrachtet. Eine tiefergreifende Therapie der Persönlichkeitsproblematik des Verurteilten sei trotz der langjährigen Inhaftierung bislang nicht erfolgt, eine ausreichende Bearbeitung seiner dissozialen Verhaltensbereitschaft und seiner narzisstischen Kränkbarkeit nicht zu verzeichnen.

Soweit der Verurteilte seine mangelnde Erprobung in Freiheit bemängelt, ist zu konstatieren, dass seine im Gutachten überzeugend festgehaltene, erhebliche fortdauernde Gefährlichkeit für die Allgemeinheit maßgeblich dazu beiträgt, dass ihm keine weitgehenden, insbesondere unbeaufsichtigten Vollzugslockerungen gewährt werden können. Die Strafvollstreckungskammer hat zudem entgegen den Ausführungen in der Beschwerdebegründung bei der Festsetzung der Mindestverbüßungszeit sowohl den erheblich beeinträchtigten Gesundheitszustand des Verurteilten als auch die Tatsache in den Blick genommen, dass eine progressive Steigerung der Auswirkungen des Strafvollzuges mit zunehmendem Lebensalter und Fortschreiten der Haftzeit gegeben ist.

b) Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer lässt gleichwohl einen maßgeblichen Umstand, der bei der vollstreckungsrechtlichen Gesamtabwägung zu berücksichtigen war, außer Acht.

Zwar hat das Landgericht die vielfachen Vorstrafen des Verurteilten und sein Bewährungsversagen in die Bewertung eingestellt und damit die dem Verurteilten vorzuwerfende Missachtung der Warnfunktion, die ihm infolge seiner zuvor verbüßten längeren Haftstrafen wegen der neuen, zu lebenslanger Freiheitsstrafe führenden Tat vorzuwerfen ist, zutreffend gewürdigt. Auch die übrigen, von der Staatsanwaltschaft und der Generalstaatsanwaltschaft vorgebrachten Kriterien wurden - wie der Verurteilte zutreffend einwendet - im angefochtenen Beschluss erörtert und angemessen berücksichtigt. Die Strafvollstreckungskammer hat allerdings den Umstand, dass die mit der Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe sanktionierte Anlasstat den Widerruf der zur Bewährung ausgesetzten Reststrafen aus den Verurteilungen des Amtsgerichts Warendorf vom 25. Mai 1988, des Amtsgerichts Osnabrück vom 02. März 1992 und des Landgerichts Essen vom 29.05.1996 nach sich zog, ausschließlich zu Gunsten des Verurteilten berücksichtigt. Insoweit hat die Kammer aus dem Blick verloren, dass der Widerruf angesichts der von der Strafvollstreckungskammer selbst angenommenen Umstellung der von der Vollstreckungsbehörde festgelegten Vollstreckungsreihenfolge ins Leere geht und der Verurteilte die widerrufenen Reststrafen nicht wird verbüßen müssen. Ihm wird mit der infolge des Resozialisierungsgedankens gebotenen Umstellung der Vollstreckungsreihenfolge mithin die Vollstreckung von mehr als 4 Jahren rechtskräftig verhängtem Freiheitsentzug erlassen, was sich bei der Frage, wie lange die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe erfordert, zu seinen Lasten auswirken muss. Unter Berücksichtigung dieses Umstandes erachtet der Senat eine Mindestverbüßungsdauer von 20 Jahren für erforderlich und ausreichend. Dem heute 52 Jahre alten Verurteilten bleibt hierdurch eine realisierbare Chance, der Freiheit nochmals teilhaftig zu werden (vgl. zu den Maßstäben insoweit BVerfG, Kammerbeschluss vom 22. Mai 1995 - 2 BvR 671/95 -, juris). Dabei hat der Senat auch das vom Bundesverfassungsgericht ermittelte Spektrum berücksichtigt, wonach in Fällen einer einzelnen Mordtat - wie vorliegend - die im Durchschnitt festgesetzte Vollstreckungszeit bei 15 bis 20 Jahren liegt (BVerfG, Kammerbeschluss vom 21. Dezember 1994 - 2 BvR 1697/93 -, juris).

3.) Angesichts der Tatsache, dass - wie unter Ziffer 2 dargelegt - die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe gebietet, erübrigt sich ein Eingehen auf die Frage, ob die Strafaussetzung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann, denn die von dem Verurteilten begehrte Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung kommt nur bei kumulativem Vorliegen der Voraussetzungen gem. § 57a Abs. 1 Nr. 1 - 3 StGB in Betracht. Eines Eingehens auf die mit der Beschwerdebegründung des Verurteilten vorgebrachten Einwände zu dem von der Strafvollstreckungskammer angenommenen Entlassungsumfeld bedurfte es nach alledem nicht.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1, Abs. 4 StPO.

Gegen diesen Beschluss ist keine Beschwerde gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).