Landgericht Lüneburg
Beschl. v. 23.09.2008, Az.: 26 Qs 192/08
Zurückführung einer erkannten Strafe unter Auflösung bereits gebildeter Gesamtstrafen auf eine Gesamtfreiheitsstrafe; Strafrechtliche Verurteilung wegen Diebstahls in zwei Fällen sowie wegen Körperverletzung in einem weiteren Fall
Bibliographie
- Gericht
- LG Lüneburg
- Datum
- 23.09.2008
- Aktenzeichen
- 26 Qs 192/08
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2008, 38034
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LGLUENE:2008:0923.26QS192.08.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- AG Cloppenburg - 05.03.2007 - AZ: 18 Ds 765 Js 1614/07 (7/07)
- AG Winsen (Luhe) - 22.04.2008 - AZ: 7 Ls 3102 Js 2924/08 (2/08)
- AG Winsen (Luhe) - 10.07.2008 - AZ: 7 AR 21/08
Rechtsgrundlagen
- § 54 StGB
- § 55 StGB
- § 460 S. 1 StPO
- § 462 StPO
Fundstellen
- NStZ 2009, 573-575
- NStZ-RR 2009, 25 (red. Leitsatz)
- Rpfleger 2009, 413-414
...
hat die 6. Strafkammer des Landgerichts Lüneburg
auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten vom 16. Juli 2008 sowie
auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Lüneburg vom 17. Juli 2008
gegen den Beschluss des Amtsgerichts Winsen (Luhe) vom 10. Juli 2008
durch
den Vorsitzenden Richter am Landgericht V. sowie
die Richter am Landgericht Dr. P. und K.
am 23. September 2008
beschlossen:
Tenor:
- 1.
Auf die sofortige Beschwerden des Verurteilten und der Staatsanwaltschaft Lüneburg wird der Beschluss des Amtsgerichts Winsen (Luhe) vom 10. Juli 2008 abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die erkannten Strafen werden unter Auflösung der bisher gebildeten Gesamtstrafen gem. §§460 S. 1, 462 StPO i.V.m. §§55, 54 StGB nachträglich zurückgeführt auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 2 Monaten für die Taten aus dem Urteil des Amtsgerichts Cloppenburg vom 05. März 2007 (Az. 18 Ds 765 Js 1614/07 (7/07)) sowie für die Taten 1 und 2 aus dem Urteil des Amtsgerichts Winsen (Luhe) vom 22. April 2008 (Az. 7 Ls 3102 Js 2924/08 (2/08)).Die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe wird nicht zur Bewährung ausgesetzt.
Die Einzelfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten für die Tat 3 aus dem Urteil des Amtsgerichts Winsen (Luhe) vom 22. April 2008 (Az. 7 Ls 3102 Js 2924/08 (2/08)) bleibt daneben bestehen.
- 2.
Im Übrigen werden die sofortigen Beschwerden des Verurteilten und der Staatsanwaltschaft Lüneburg verworfen.
- 3.
Der Verurteilte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
I.
Der Verurteilte ist wie folgt rechtskräftig verurteilt:
Am 05. März 2007 hat ihn das Amtsgericht Cloppenburg (Az. 18 Ds 765 Js 1614/07 (7/07)) wegen Diebstahls in 2 Fällen sowie wegen Körperverletzung in einem weiteren Fall zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Hierbei hat es folgende Einzelfreiheitsstrafen verhängt:
Tat 1 vom 26. Oktober 2006: | 2 Monate |
---|---|
Tat 2 vom 25. November 2006: | 1 Monat |
Tat 3 vom 25. November 2006: | 1 Monat |
Durch Urteil des Amtsgerichts Winsen (Luhe) - Schöffengericht - vom 22. April 2008 (Az. 7 Ls 3102 Js 2924/08 (2/08)) wurde er wegen einer gemeinschaftlichen räuberischen Erpressung, einer gemeinschaftlichen Sachbeschädigung in 9 zusammentreffenden Fällen sowie wegen einer schweren räuberischen Erpressung in einem minder schweren Fall zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren verurteilt. Hier wurden folgende Einzelfreiheitsstrafen festgesetzt:
Tat 1 vom 18. September 2006: | 1 Jahr |
---|---|
Tat 2 vom 20. September 2006: | 6 Monate |
Tat 3 vom 28. Januar 2008: | 2 Jahre und 3 Monate |
Das Amtsgericht Winsen (Luhe) hat hinsichtlich der Taten 1 und 2 keine nachträgliche Gesamtstrafenbildung mit den Taten aus dem Urteil des Amtsgericht Cloppenburg vorgenommen.
Die Bewährungszeit aus dem Urteil des Amtsgerichts Cloppenburg endet mit Ablauf des 12. März 2010. Die Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Winsen (Luhe) wird derzeit gegen den Verurteilten vollstreckt.
Unter dem 05. Juni 2008 hat die Staatsanwaltschaft Lüneburg beim Amtsgericht Winsen (Luhe) beantragt, die aufgeführten Strafen gem. §§460, 462 StPO unter Auflösung der bereits gebildeten Gesamtstrafen nachträglich auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten aus den Strafen der Verurteilung durch das Amtsgericht Cloppenburg vom 05. März 2007 sowie aus den Strafen für die Taten 1 und 2 aus dem Urteil des Amtsgerichts Winsen (Luhe) vom 22. April 2008 zurückzuführen und die Strafe für die Tat 3 aus dem Urteil des Amtsgerichts Winsen vom 22. April 2008 in Höhe von 2 Jahren und 3 Monaten daneben bestehen zu lassen. Die Vollstreckung der neuen Gesamtfreiheitsstrafe solle nicht zur Bewährung ausgesetzt werden. Aufgrund der Zäsurwirkung durch das Urteil des Amtsgerichts Cloppenburg seien - wie beantragt - zwei neue Strafen zu bilden, ein Verschlechterungsverbot bestehe nicht.
Der Verurteilte hat zu dem Antrag der Staatsanwaltschaft durch seinen Verteidiger mit Schreiben vom 26. Juni 2008 Stellung genommen. Dieser vertritt die Ansicht, die nachträgliche Gesamtstrafenbildung in der beantragten Form verstoße gegen das Verschlechterungsverbot, da sich insgesamt eine neue Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten ergebe. Diese "Verböserung" von 3 Monaten gegenüber dem ursprünglichen Gesamtstrafenübel von 3 Jahren und 3 Monaten sei nicht hinnehmbar.
Das Amtsgericht Winsen (Luhe) hat die aufgeführten Strafen mit Beschluss vom 10. Juli 2008 unter Auflösung der bisher gebildeten Gesamtstrafen auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten aus den Strafen der Verurteilung durch das Amtsgericht Cloppenburg vom 05. März 2007 sowie aus den Strafen für die Taten 1 und 2 aus seinem Urteil vom 22. April 2008 zurückgeführt. Die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe wurde nicht zur Bewährung ausgesetzt. Zu der Strafe für die Tat 3 aus seinem Urteil vom 22. April 2008 in Höhe von 2 Jahren und 3 Monaten hat es sich in dem Beschluss nicht geäußert. Der Beschluss wurde der Staatsanwaltschaft Lüneburg und dem Verteidiger des Verurteilten jeweils am 14. Juli 2008 zugestellt.
Mit Schreiben vom 16. Juli 2008, eingegangen beim Amtsgericht Winsen (Luhe) am gleichen Tage, hat der Verteidiger des Verurteilten sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Winsen (Luhe) vom 10. Juli 2008 erhoben. In der Annahme, dort sei vollumfänglich nach dem Antrag der Staatsanwaltschaft entschieden worden, hat er darin erneut die Ansicht vertreten, die Erhöhung des Gesamtstrafenübels um 3 Monate sei unzulässig.
Mit Schreiben vom 17. Juli 2008, eingegangen beim Amtsgericht Winsen (Luhe) am gleichen Tage, hat auch die Staatsanwaltschaft Lüneburg sofortige Beschwerde gegen den Beschluss vom 10. Juli 2008 erhoben, "soweit dort neben der Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten nicht auch auf eine Einzelstrafe von 2 Jahren 3 Monaten erkannt wurde".
Das Amtsgericht Winsen (Luhe) hat bei der Weiterleitung der Akten an die Kammer vermerkt, die Aufnahme der Einzelstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten sei in dem angefochtenen Beschluss "übersehen" worden.
Die Kammer hat sowohl dem Verteidiger des Verurteilten, als auch der Staatsanwaltschaft Lüneburg Gelegenheit gegeben, sich zu der sofortigen Beschwerde der Gegenseite schriftlich zu äußern. Die Staatsanwaltschaft ist auf ihrem Standpunkt verblieben, wonach aufgrund der Zäsurwirkung 2 Strafen zu verhängen seien. Der Verteidiger hat keine Stellungnahme abgegeben.
II.
Die zulässige sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist weitgehend begründet, die zulässige sofortige Beschwerde des Verurteilten weitgehend unbegründet.
Gem. §§460 S. 1, 462 StPO i.V.m. §§55, 54 StGB waren die in den Urteilen der Amtsgerichte Cloppenburg und Winsen (Luhe) vom 05. März 2007 bzw. 22. April 2008 erkannten Strafen unter Auflösung der dort gebildeten Gesamtstrafen auf die in Ziffer 1. des Beschlusstenors genannte neue Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 2 Monaten hinsichtlich der Taten 1 bis 3 aus dem Urteil des Amtsgerichts Cloppenburg und die Taten 1 bis 2 aus dem Urteil des Amtsgerichts Winsen (Luhe) zurück zu führen. Die Einzelfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten für die Tat 3 aus dem Urteil des Amtsgerichts Winsen (Luhe) war daneben bestehen zu lassen.
Wie die Staatsanwaltschaft Lüneburg zu Recht ausgeführt hat, entfaltet die Verurteilung durch das Amtsgericht Cloppenburg vom 05. März 2007 eine sog. "Zäsurwirkung", so dass die Einzelfreiheitsstrafe in Höhe von 2 Jahren und 3 Monaten für die einzige zeitlich danach folgende Tat 3 vom 28. Januar 2008 aus dem Urteil des Amtsgerichts Winsen (Luhe) gesondert bestehen zu lassen war (vgl. zur Zäsurwirkung Fischer, 55. Aufl. 2008, §55 StGB Rdn. 12 ff. m.w.N.). Ausweislich der Übersendungsverfügung des Amtsgerichts Winsen (Luhe) vom 21. Juli 2008 wurde dies bei der Beschlussfassung lediglich "übersehen". Aus den übrigen Taten der beiden Verurteilungen, die allesamt zeitlich vor dem 05. März 2007 liegen, war hingegen nach Maßgabe der §§460 S. 1. StPO, 55, 54 StGB unter Auflösung der bisherigen Gesamtstrafen eine neue Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden.
Auszugehen war hierbei zunächst von einer Einsatzstrafe von 1 Jahr Freiheitsstrafe für die Tat 1 aus dem Urteil des Amtsgerichts Winsen (Luhe) (gemeinschaftliche räuberische Erpressung vom 18. September 2006). Diese war unter Heranziehung der Einzelfreiheitsstrafen für die 3 Taten aus dem Urteil des Amtsgerichts Cloppenburg (2 Monate, 1 Monat und 1 Monat) und für die Tat 2 aus dem Urteil des Amtsgerichts Winsen (Luhe) (6 Monate) gem. §54 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 StGB angemessen um 2 Monate auf 1 Jahr und 2 Monate zu erhöhen.
In diesem Zusammenhang hat die Kammer bei der Erhöhung der Einsatzstrafe zunächst die Strafzumessungserwägungen berücksichtigt, die aus dem Urteil des Amtsgerichts Cloppenburg ersichtlich sind. Zugunsten des Verurteilten fiel daher u.a. ins Gewicht, dass dieser in dem damaligen Verfahren geständig war, Reue zeigte und nur einen geringen Schaden bei den geschädigten Firmen F. und A. bzw. unerhebliche Verletzungen bei dem Zeugen T. verursacht hat. Zu seinen Lasten war hingegen insbesondere zu berücksichtigen, dass der Verurteilte bereits erhebliche, u.a. auch einschlägige Vorstrafen erhalten hat.
Hinsichtlich der gesamtstrafenfähigen Taten 1 und 2 aus dem Urteil des Amtsgerichts Winsen (Luhe) hat die Kammer strafmildernd u.a. in Betracht gezogen, dass sich der Verurteilte auch dort geständig gezeigt hat. Strafschärfend fielen auch insoweit seine nicht unerheblichen und größtenteils einschlägigen Vorstrafen ins Gewicht.
Unter Berücksichtigung all dieser Strafzumessungserwägungen hat die Kammer daher aus den Einzelfreiheitsstrafen für die 3 Taten aus dem Urteil des Amtsgerichts Cloppenburg und die Taten 1 und 2 aus dem Urteil des Amtsgerichts Winsen (Luhe) eine tat- und schuldangemessene neue Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 2 Monaten gebildet. Die Kammer hat die Einsatzstrafe entgegen dem Antrag der Staatsanwaltschaft, der insoweit auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 3 Monate lautete, lediglich um 2 Monate erhöht, da in dieser neuen Gesamtstrafe das bei allen gesamtstrafenfähigen Taten vorliegende Geständnis des Verurteilten stärker zum Ausdruck kommt. Zudem war bei der Frage der angemessenen Erhöhung der Einsatzstrafe zu berücksichtigen, dass die Taten 2 und 3 aus dem Urteil des Amtsgerichts Cloppenburg (Diebstahl und Körperverletzung am 25. November 2006) im unmittelbaren zeitlichen, örtlichen und situativen Zusammenhang im Aldi-Markt in Cloppenburg stattgefunden haben und daher eine nur geringe Selbständigkeit genießen. Dass dieser Aspekt dazu führen kann, dass die im Rahmen des §54 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 StGB vorzunehmende Erhöhung der Einsatzstrafe niedriger ausfällt, ist allgemein anerkannt (vgl. BGH NJW 1995, 1038 [BGH 20.12.1994 - 1 StR 688/94]; NStZ 1988, 126 und StV 1992, 226 [BGH 21.05.1991 - 4 StR 27/91] sowie Fischer, 55. Aufl. 2008, §54 StGB Rdn. 7 a).
Nach alledem waren die gesamtstrafenfähigen Taten unter Auflösung der bisherigen Gesamtfreiheitsstrafen auf eine neue Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 2 Monaten zurück zu führen und die Einzelfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten wegen der Zäsurwirkung des Urteils des Amtsgerichts Cloppenburg vom 05. März 2007 daneben bestehen zu lassen.
Der nachträglichen Gesamtstrafenbildung in dieser Form steht auch das Beschwerdevorbringen des Verurteilten nicht entgegen. Es ist insbesondere unschädlich, dass sich ein neues Gesamtstrafenübel von insgesamt 3 Jahren und 5 Monaten ergibt, also 2 Monate mehr als zuvor. Dies ist Folge der Zäsurwirkung und letztendlich Konsequenz aus der Tatsache, dass der Verurteilte nach dem Urteil des Amtsgericht Cloppenburg vom 05. März 2007 noch die weitere, nicht gesamtstrafenfähige Tat vom 28. Januar 2008 begangen hat. Es liegt insbesondere auch kein Verstoß gegen das sog. "Verschlechterungsverbot" vor.
Ob im Rahmen des Beschlussverfahrens nach §460 StPO i.V.m. §55 StGB ein Verschlechterungsverbot dergestalt greift, dass das vorher bestehende Gesamtstrafenübel die Obergrenze der neu festzusetzenden (Gesamt)Strafen bildet, ist umstritten.
Dies wird zum Teil in einigen älteren oberlandesgerichtlichen Entscheidungen sowie in der Kommentarliteratur unter pauschalem Hinweis auf den (angeblichen) Sinn und Zweck der §§54, 55 StGB und noch ältere Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs angenommen (vgl. etwa OLG Zweibrücken NJW 1968, 310; OLG Hamm MDR 1975, 948; OLG Oldenburg Rpfleger 1979, 428; Löwe-Rosenberg/Wendisch, 25. Aufl. 2001, §460 StPO Rdn. 30 f. sowie Meyer-Goßner, 51. Aufl. 2008, §460 StPO Rdn. 19; alle zumeist unter Hinweis insbesondere auf BGHSt 8, 203; 12, 94 sowie 15, 164). Dem hat sich in neuerer Zeit auch das Kammergericht angeschlossen (vgl. KG, Beschl. v. 06. Dezember 1999 - 5 Ws 694/99 - [...]).
Hiergegen wird jedoch in aktuelleren Stellungnahmen aus der Instanzrechtsprechung und Literatur eingewandt, dass eine für den Verurteilten nachteilige Wirkung aufgrund der Zielrichtung des Verfahrens nach §§460 StPO, 55 StGB durchaus eintreten könne und dürfe, wohingegen das Verschlechterungsverbot i.S.d. §§331 Abs. 1, 358 Abs. 2 S. 1, 373 Abs. 2 S. 1 StPO nur im Berufungs-, Revisions- und Wiederaufnahmeverfahren gelte. Der früheren Gesamtstrafe komme daher bei der nachträglichen Gesamtstrafenbildung keine strafrahmenbegrenzende Wirkung zu (vgl. insb. LG Berlin NJW 2000, 3796 [LG Berlin 25.09.2000 - 533 Qs 33/00]; LG Halle NStZ 1996, 456 sowie Bringewat StV 1993, 47; ders. MDR 1987, 793; KK-Fischer, 5. Aufl. 2003, §460 StPO Rdn. 24; Lackner, 25. Aufl. 2004, §55 StGB Rdn. 10 und Sch/Sch-Stree/Sternberg-Lieben, 27. Aufl. 2006, §55 StGB Rdn. 42 unten).
Die Kammer folgt der letztgenannten Ansicht. Dies aus folgenden Erwägungen:
Die von der ersten Auffassung herangezogenen, älteren Entscheidungen des Bundesgerichtshofs beziehen sich fast ausschließlich auf Verschlechterungen im Berufungs- oder Revisionszug und argumentieren daher unmittelbar mit §§331 Abs. 1, 358 Abs. 2 S. 1 StPO. Dies Konstellation liegt hier aber gerade nicht vor.
Für eine analoge Anwendung der vorgenannten Vorschriften fehlt es wiederum an der erforderlichen planwidrigen Regelungslücke im Gesetz. Dies hat insbesondere das Landgericht Berlin in seinem Beschluss vom 25. September 2000 (NJW 2000, 3796 [LG Berlin 25.09.2000 - 533 Qs 33/00]) überzeugend herausgearbeitet. So hat es darauf hingewiesen, dass das Beschlussverfahren zur nachträglichen Gesamtstrafenbildung seit jeher im Strafprozessrecht gesetzlich verankert sei, wohingegen das Verschlechterungsverbot nach der zwischenzeitlichen Beseitigung durch die Nationalsozialisten erst wieder im bundesdeutschen Strafverfahrensrecht Einzug gehalten habe. Dass eine dahingehende Bestimmung im nachträglichen Beschluss- und Beschwerdeverfahren nicht eingeführt worden sei, müsse als "gesetzgeberische Wertentscheidung" angesehen werden. Selbst wenn man sich dieser Betrachtungsweise nicht anschließen wolle, so das Landgericht Berlin weiter, wäre im Rahmen der späteren Änderungen der §§460, 462 StPO - etwa durch das EGStGB 1974 - ausreichend Gelegenheit gewesen, bei einem etwaigen Willen des Gesetzgebers ein Verschlechterungsverbot einzuführen, zumal die Problematik aufgrund der bereits veröffentlichen Entscheidungen (u.a. OLG Zweibrücken NJW 1968, 310) bereits bekannt gewesen sei. Dieser Argumentation schließt sich die Kammer an.
Gegen eine entsprechende Anwendung der §§331 Abs. 1, 358 Abs. 2 S. 1 StPO spricht zudem die unterschiedliche Zielrichtung dieser Vorschriften im Vergleich mit dem Verfahren der nachträglichen Gesamtstrafenbildung. Es fehlt daher neben der planwidrigen Regelungslücke auch an der für eine Analogie erforderlichen Vergleichbarkeit der Interessenlage. Während §55 StGB den Täter nämlich so stellen will, wie er bei gleichzeitiger Aburteilung aller gesamtstrafenfähigen Taten gestanden hätte - weshalb dieses Verfahren gem. §460 StPO auch von Amts wegen eingeleitet werden kann - verfolgen die §§331 Abs. 1, 358 Abs. 2 S. 1 StPO den Zweck, den Täter nicht von der Einlegung eines Rechtsmittels abzuhalten. Außerdem geht es bei der nachträglichen Gesamtstrafenbildung nach §§460 StPO, 55 StGB nicht um die Überprüfung und etwaige Korrektur einer bereits vorliegenden Entscheidung, sondern um eine insoweit originäre materiellrechtliche Erstentscheidung (vgl. zu diesen Erwägungen LG Halle NStZ 1996, 456 [LG Halle 03.04.1996 - 21 Qs 153/96] sowie KK-Fischer, 5. Aufl. 2003, §460 StPO Rdn. 24).
Auch unabhängig von der Frage nach einer analogen Anwendung der §§331 Abs. 1, 358 Abs. 2 S. 1 StPO missversteht die erstgenannte Auffassung grundsätzlich den Sinn und Zweck der nachträglichen Gesamtstrafenbildung. Dieser liegt einzig und allein darin, den Sanktionsnachteil zu beseitigen, der durch die vorschriftswidrig getrennte Aburteilung gesamtstrafenfähiger, tatmehrheitlich begangenen Taten entstanden ist. Es soll mithin nicht die frühere, sondern die unterbliebene gleichzeitige Aburteilung nachgeholt werden (vgl. Bringewat StV 1993, 47 sowie KK-Fischer, 5. Aufl. 2003, §460 StPO Rdn. 24). Der Verurteilte soll durch das Verfahren nach §55 StGB (ggf. i.V.m. §460 StPO) weder besser noch schlechter, sondern einzig und allein so gestellt werden, wie er bei einer gleichzeitigen Aburteilung aller gesamtstrafengeeigneten Taten gestanden hätte (vgl. LG Halle NStZ 1996, 456 [LG Halle 03.04.1996 - 21 Qs 153/96]). Dass dies im Endergebnis zu einem höheren Gesamtstrafenübel führen kann, ist als Konsequenz einer gesetzeskonformen Anwendung des Gesamtstrafenprinzips i.S.d. §§54, 55 StGB hinzunehmen.
Der hier vertretene Standpunkt wird auch durch die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gestützt, wonach der §331 Abs. 1 StPO kein über den Gesetzeswortlaut hinausgreifendes, den Strafprozess allgemein beherrschendes Rechtsprinzip enthält (vgl. BGHSt 35, 208 = NStZ 1988, 284). Der 4. Strafsenat hat sich in dieser Entscheidung sogar ausdrücklich gegen die Auffassung ausgesprochen, welche in dem Gebot der nachträglichen Gesamtstrafenbildung lediglich eine zugunsten des Verurteilten wirkende Norm erblickt und eine ihm nachteilige Änderung des durch die verschiedenen Urteile geschaffenen Zustands daher ausschließen will. Das Verfahren der §§460 StPO, 55 StGB diene, so der Senat, allein der Sicherung des in den §§53 ff. StGB verankerten Gesamtstrafenprinzips. Dies könne für den Verurteilten durchaus nachteilige Wirkungen haben, etwa wenn die gewährte Vergünstigung in Form einer Bewährung entfalle. In §460 StPO sei ein Verschlechterungsverbot aus diesen Erwägungen nicht vorgesehen und könne der Vorschrift auch nicht im Wege einer Analogie zu §331 Abs. 1 StPO unterlegt werden. Dieses am Wortlaut haftende Verständnis des §460 StPO entspreche auch seinem Sinn, der darin liege, ohne Rücksicht auf die Rechtskraft der vorliegenden Entscheidungen das materielle Recht zu verwirklichen.
Dass das Amtsgericht Winsen (Luhe) die Vollstreckung der neuen Gesamtfreiheitsstrafe nicht - wie ursprünglich im Urteil des Amtsgerichts Cloppenburg vom 05. März 2007 vorgesehen - zur Bewährung ausgesetzt hat, begegnet nach alledem ebenfalls keinen Bedenken. Denn ungeachtet der Tatsache, dass der Verurteilte diesen Aspekt in seiner sofortigen Beschwerde gar nicht angegriffen hat, hat der Bundesgerichtshof in der oben zitierten Entscheidung ausdrücklich klargestellt, dass die in Gestalt einer Bewährung gewährte Vergünstigung im Verfahren nach §§460 StPO, 55 StGB durchaus entfallen kann. Angesichts der zahlreichen, teils einschlägigen Vorstrafen des Verurteilten und der neu einbezogenen Taten vom 18. und 20. September 2006 aus dem Urteil des Amtsgerichts Winsen (Luhe) wäre eine Strafaussetzung zur Bewährung nach Überzeugung der Kammer mangels "besonderer Umstände" i.S.d. §56 Abs. 2 S. 1 StGB auch nicht mehr zu rechtfertigen.
Statt eines generellen Verschlechterungsverbotes, welches dem Verfahren der nachträglichen Gesamtstrafenbildung nach den vorstehenden Erwägungen fremd ist, hat die Kammer vorliegend indessen berücksichtigt, dass das Gesamtstrafen übel, welches sich als Folge der Zäsurwirkung des Urteils des Amtsgerichts Cloppenburg ergibt, noch immer tat- und schuldangemessen sein muss. Andernfalls wäre ein sog. "Härteausgleich" vorzunehmen (vgl. BGH NStZ 1996, 382 [BGH 09.11.1995 - 4 StR 650/95] sowie jüngst NStZ-RR 2008, 234). Das sich hier ergebende Gesamtstrafenübel von 3 Jahren und 5 Monaten Freiheitsstrafe (1 Jahr und 2 Monate ohne Bewährung sowie 2 Jahre und 3 Monate macht insgesamt 3 Jahre und 5 Monate) ist jedoch durchaus noch immer tat- und schuldangemessen. Hierfür sprechen insbesondere die zahlreichen, größtenteils einschlägigen Vorstrafen des Verurteilten sowie die Tatsache, dass gegen diesen bereits Jugendstrafe von 1 Jahr und 8 Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Hameln vom 01. September 2005 vollstreckt wurde, ohne dass der Verurteilte anschließend von der Begehung weiterer einschlägiger Straftaten Abstand genommen hätte. Zuletzt war zu berücksichtigen, dass der Verurteilte nach seiner Entlassung aus der Jugendhaft am 19. Mai 2006 bereits exakt 4 Monate später, nämlich am 18. September 2006 in Gestalt der Tat 1 aus dem Urteil des Amtsgerichts Winsen (Luhe) vom 22. April 2008 wieder durch eine gemeinschaftliche räuberische Erpressung straffällig geworden ist. Diese hohe Rückfallgeschwindigkeit und steigende kriminelle Energie des Verurteilten lassen dass neue Gesamtstrafenübel von insgesamt 3 Jahren und 5 Monaten in Ansehung aller 6 Taten aus den beiden einbezogenen Urteilen der Amtsgerichte Cloppenburg und Winsen (Luhe) tat- und schuldangemessen erscheinen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §473 Abs. 1 S. 1 StPO. Der Verurteilte hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen, da sein Rechtsbehelf weitgehend erfolglos geblieben ist. Soweit die neue Gesamtfreiheitsstrafe hinsichtlich der Taten 1 bis 3 aus dem Urteil des Amtsgerichts Cloppenburg und der Taten 1 und 2 aus dem Urteil des Amtsgerichts Winsen (Luhe) auf 1 Jahr und 2 Monate statt der seitens der Staatsanwaltschaft Lüneburg beantragten 1 Jahr und 3 Monate festgesetzt wurde, handelt es sich um einen unwesentlichen Teilerfolg der sofortigen Beschwerde des Verurteilten, der gleichwohl zur Kostenfolge des §473 Abs. 1 S. 1 StPO führt (vgl. Meyer-Goßner, 51. Aufl. 2008, §473 StPO Rdn. 6).