Amtsgericht Dannenberg
Beschl. v. 04.11.2004, Az.: 39 XIV 164/02 L

Bibliographie

Gericht
AG Dannenberg
Datum
04.11.2004
Aktenzeichen
39 XIV 164/02 L
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2004, 43592
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:AGDANNB:2004:1104.39XIV164.02L.0A

Tenor:

  1. I.

    Es wird festgestellt, dass die Freiheitsbeschränkung der Betroffenen am 13. November 2002 in Hitzacker (Höhe Freie Schule, Hitzacker) rechtswidrig war.

  2. II.

    Die Verfahrenskosten, einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Betroffenen, werden der Bezirksregierung Lüneburg auferlegt.

  3. III.

    Geschäftswert: 3.000,00 Euro.

Gründe

1

Am 13.11.2002 gegen 13.00 Uhr befanden sich ca. 1000 Personen entlang der Bahnschiene im Bereich der Freien Schule Hitzacker, wobei eine Gruppe von 300 Personen bereits auf die Gleise oder die Böschung neben den Gleisen gelaufen war. Diese Personen, zu denen auch die Betroffene gehörte, wobei nicht nachgewiesen ist, dass die Betroffene sich auch auf die Gleise begehen hatte, wurden von der Polizei erst neben dem Bahndamm eingekesselt und sodann auf eine 70 Meter entfernte Wiese gedrängt und erneut eingeschlossen. Die Gruppe ist zielgerichtet von Hitzacker aus aufgebrochen, um gegen den bevorstehenden Castortransport zu demonstrieren. Mit amtlich bekannt gemachter Allgemeinverfügung der Bezirksregierung Lüneburg vom 26.10.2002 war für diese Transportstrecke, einschließlich eines Bereichs von 50 Metern beiderseits der Schienen ein Versammlungsverbot angeordnet worden. Nach den Berichten der Bezirksregierung wurde die Einschließung der Personengruppe von dem mit der Einsatzführung vor Ort beauftragte PD Sanders angeordnet, Herr PHK Ritter sprach sodann die Freiheitsentziehung gegen die gesamte Gruppe aus. Um 13.30 Uhr wurde von Herrn EPHK Bartels die Entscheidung getroffen, die Personengruppe in Gewahrsam zu nehmen. Obgleich ursprünglich geplant war, die Einschließung nur bis zum Zugdurchlauf andauern zu lassen, begann man dann ab ca. 16.00 Uhr den Abtransport der Gefangenen nach Neu Tramm, die Abfahrt des letzten Transporters erfolgte um 18.30 Uhr. Es kann nicht mehr aufgeklärt werden, um wie viel Uhr der Gefangenentransporter der Betroffenen vor Ort losgefahren ist. Um 20.03 Uhr wurde die Betroffene dann in der Gefangenensammelstelle Neu Tramm aufgenommen und in die Sammelzelle 801 verbracht. Die Entlassung wurde am 14.11.2002 um 08.36 Uhrveranlasst.

2

Die Lage in Hitzacker zeichnete sich an diesem Nachmittag des 13.11.2002 dadurch aus, dass zahlreiche Demonstranten versucht haben, die Schienen zu erreichen und sämtliche Polizeikräfte vor Ort damit beschäftigt waren, die Schienen zu sichern und ein weiteres Durchbrechen von Demonstranten zu verhindern. Aus diesem Grund war eine Sachbearbeitung erst nach Durchfahrt des Zuges möglich. Auf Grund eines Missverständnisses nahm die Polizei an, dass ein Richter des Amtsgerichts Dannenberg auch nach Durchfahrt des Zuges einen weitergehenden Unterbindungsgewahrsam angeordnet hätte. Dies war jedoch unzutreffend.

3

Der Castorzug befand sich um 15.18 Uhr bei Bahnkilometer 186 (Harlingen) , um 16.20 Uhr in Hitzacker und um 16.26 Uhr an der Seerauer Brücke. Er muss gegen 16.15 Uhr in Höhe der Freien Schule Hitzacker vorbeigefahren sein.

4

Die Betroffene begehrt mit Antrag vom 13.11.2002 die nachträglich Feststellung, dass die Freiheitsentziehung dem Grunde nach, der Dauer nach bzw. wegen der Behandlung während der Freiheitsentziehung rechtswidrig gewesen sei.

5

Die Bezirksregierung Lüneburg hat u.a. eine Stellungnahme vom 30.04.2004, Blatt 52ff abgegeben. Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf diese Stellungnahmen und den Akteninhalt Bezug genommen. Die Betroffene ist am 27.09.2004 angehört worden, insoweit wird auf das Protokoll, BI.117 f. d.A. verwiesen.

6

Der Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit ist gemäß § 19 Abs. 2 Satz 1 NGefAG zulässig.

7

Der Antrag ist auch begründet.

8

Für die Beurteilung der Frage, ob die Freiheitsbeschränkung rechtmäßig oder rechtswidrig gewesen ist, ist auf das bei der Freiheitsbeschränkung geltende Recht, hier auf das Niedersächsische Gefahrenabwehrgesetz in der Fassung vom 20.02.1998 abzustellen. Davon geht auch die Bezirksregierung aus, die in ihrer Stellungnahme als Rechtsgrundlage § 18 Abs. 1 Nr. 2a und 2b NGefAG nennt. Anhaltspunkte dafür, dass sich die Einsatzleitung auf eine nicht existente richterliche Anordnung bezogen hätte, liegen nicht vor. Dies hat auch der in den Parallelverfahren 39 XIV 155/02, 435/02, 464/02 angehörte Zeuge PHK ... nicht bestätigt.

9

Die Betroffene hat sich in einer größeren Gruppe von Leuten befunden, die zielgerichtet auf die Gleise zugelaufen sind und hat dann zumindest an der Böschung gesessen. Dies stellt eine Ordnungswidrigkeit nach § 29 Versammlungsgesetz dar sowie eine beabsichtigte Ordnungswidrigkeit nach § 64b EBO, weil sie unbefugt die Gleise hat betreten wollen. Soweit die Betroffene bei ihrer Anhörung dies in Abrede gestellt hat und behauptet hat, sie sei vor der 50 m Verbotszone auf dem Heimweg gewesen, ist dem nicht zu folgen. Sie konnte keinen nachvollziehbaren Grund dafür angeben, weshalb sie diese Strecke innerhalb einer Versammlung wählt, um die Straße Am Heisterkamp auf der anderen Schienenseite zu erreichen. Das Gericht hatte vielmehr den Eindruck gewonnen, dass dieser Teil der Aussage der Betroffenen unwahr war. Es ist davon auszugehen, dass sie sich aus Demonstrationsgründen der Schiene genähert hat, um zusammen mit den anderen die Zugdurchfahrt zu behindern. Die Betroffene hatte bereits eine Ordnungswidrigkeit nach dem Versammlungsgesetz begangen und ein unbefugtes Betreten und einen unberechtigten Aufenthalt auf den Gleisen beabsichtigt.

10

Obgleich diese Verstöße feststehen, die nach dem niedersächsischen Polizeirecht geahndet werden können, war die Ingewahrsamnahme dennoch rechtswidrig gewesen, weil Maßnahmen nach dem NGefAG unzulässig gewesen waren, weil die Betroffene Teilnehmerin einer Versammlung gewesen ist, die entgegen § 15 Absatz 3 Versammlungsgesetz nicht aufgelöst worden ist. Dies führt dazu, dass ein Rückgriff auf das allgemeine Polizeirecht der Länder ausgeschlossen gewesen ist. Erst mit der Auflösung verliert die Versammlung ihre Polizeifestigkeit und damit ihren Schutz gemäß Artikel 8 GG. Bei dem gemeinsam unternommenen Sparziergang von Hitzacker bis in den Bereich der Freien Schule Hitzacker mit dem Ziel, einen Schienensparziergang durchzuführen, handelt es sich um eine Versammlung, die dem grundrechtlichen Schutz und dem Versammlungsgesetz unterliegt. Es war eine gewollte Zusammenkunft von vielen Personen zu dem gemeinsamen Zweck der Meinungsbildung. Hier hatten die Versammlungsteilnehmer, einschließlich der Betroffenen, den gemeinsamen Zweck, Protest gegen den anstehenden Gastortransport zum Ausdruck zu bringen. Es ist nicht erforderlich, dass die Teilnehmer ihre Einstellung verbal zum Ausdruck bringen müssen oder etwa Transparente mit sich führen müssen, die Ankündigung, entsprechend tätig werden zu wollen und die Präsenz vor Ort war ausreichend für den gemeinsamen Zweck der Meinungskundgabe. Es handelte sich vorliegend auch nicht nur um eine Ansammlung von Personen, als diese in Gewahrsam genommen worden sind, weil gerade kein zufälliges Beisammensein vorlag, sondern ein gemeinsames Auftreten aus einem äußeren Anlass heraus.

11

Es liegt eine Spontanversammlung vor, eine Versammlung, die sich aus einem momentanen Anlass ungeplant und ohne Veranstalter entwickelt hat. Das Erfordernis eines Leiters gilt bei diesen Spontanversammlungen nicht. Der momentane Anlass, die bevorstehende Ankunft des Castortransportes im Bereich Hitzacker war nicht planbar, weil es keine Information über den genauen Zeitpunkt der Durchfahrt gegeben hat. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Bundesverfassungsgericht NJW 1992, 890 [BVerfG 23.10.1991 - 1 BvR 850/88]) entfällt die Anmeldepflicht bei Spontanversammlungen, da dies zu einer generellen Unzulässigkeit von Spontanversammlungen führen würde. Anhaltspunkte dafür, dass die Versammlung unfriedlich gewesen ist, liegen nicht vor. Weder die Bezirksregierung Lüneburg noch der vernommene Zeuge ... haben bekundet, dass Ausschreitungen vorgelegen hätten, bevor es zu der Ingewahrsamnahme gekommen ist. Es ist somit festzustellen, dass eine friedliche Spontanversammlung vorgelegen hat, die jedoch durch die Allgemeinverfügung der Bezirksregierung Lüneburg verboten gewesen ist. Das Gericht kommt nach dem Studium zahlreicher Literaturstellen zu dem Ergebnis, dass auch von Anfang an verbotene Versammlungen gemäß § 15 Absatz 3 Versammlungsgesetz aufgelöst werden müssen, um Maßnahmen nach dem NGefAG durchzuführen. Dies stellt nicht nur einen formalen Akt dar, auf den verzichtet werden könnte. Unstreitig hat es keine Auflösung dieser Versammlung gegeben. Dies wird weder von der Bezirksregierung vorgetragen, noch von dem vernommenen Polizeibeamten ... . Dieser hat vielmehr in seiner Anhörung bekundet, dass der Einheitsführer das Ganze nicht als Versammlung angesehen hätte und deshalb diese Versammlung auch nicht aufgelöst worden sei. Aus § 15 Absatz 3 Versammlungsgesetz ergibt sich die Pflicht für die Polizei, dass eine verbotene Versammlung aufzulösen ist. Diese Auflösung steht nicht - wie bei den Maßnahmen § 15 Absatz 1 Absatz 2 Versammlungsgesetz - im Ermessen der Ordnungskräfte, sondern ist vielmehr obligatorisch (Redder/Breitbach/Rühl/ Steinmeyer, Versammlungsgesetzkommentar, § 15 Randnummer 28). Die Pflicht zur Auflösung ergibt sich auch schon aus dem Gesetzestext, weil die Wortwahl "ist" aufzulösen, anstatt "kann" aufzulösen erfolgt ist.

12

Es handelt sich somit um den gesetzlich normierten Fall einer "Ermessensreduktion auf Null". Das Gesetz schreibt somit die Auflösung zwingend vor. Auch eine verbotene Versammlung unterfällt noch dem Schutzbereich des Artikel 8 Grundgesetz, solange sie friedlich und ohne Waffen ausgeführt wird. Die verbotene Versammlung ist bis zu ihrer Auflösung polizeifest, dass heißt, die spezielleren Normen des Versammlungsgesetzes verdrängen die Vorschriften des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechtes. Maßnahmen gegenüber Versammlungsteilnehmern dürfen danach nur auf das Versammlungsgesetz, nicht aber auf das allgemeine Polizeirecht gestützt werden. Das Versammlungsrecht sieht eine Ingewahrsamnahme und Einschließung von Personen als Maßnahme nicht vor. Nur ganz ausnahmsweise kann auch trotz Polizeifestigkeit der Versammlung auf das allgemeine Polizeirecht der Länder zurückgegriffen werden.

13

Als Ausfluß des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kann die Polizei bei Vorliegen der strengen tatbestandlichen Voraussetzung des § 15 Absatz 2 Versammlungsgesetz auf eine Auflösung verzichten und auf die milderen und flexibleren Rechtsfolgen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechtes zurückgreifen. Ein Platzverweis wäre unter diesen Voraussetzungen als so genannte "Minusmaßnahme" zulässig. Solche Minusmaßnahmen dürfen aber nicht faktisch stärker in die Rechte der Versammlungsteilnehmer eingreifen, als es bei einer Auflösung der Fall wäre. Dadurch, dass sogleich die Maßnahme der Ingewahrsamnahme und mehrstündiger Einschließung gewählt worden ist, liegen keine milderen Rechtsfolgen vor, als wenn die Versammlung ordnungsgemäß aufgelöst worden wäre mit der Folge, dass die vorliegend verbotene Versammlung hätte aufgelöst werden müssen durch eine Allgemeinverfügung am Ort der Veranstaltung in unzweideutiger und unmissverständlicher Form. Da dies unterblieben ist, war die Freiheitsbeschränkung der Betroffenen rechtswidrig gewesen, unabhängig davon, ob ein Verstoß gegen das Versammlungsgesetz oder gegen die EBO vorgelegen hat oder nicht. Diese Rechtsauffassung steht auch nicht der in dem Beschluss des OVG Lüneburg vom 26.02.2004 (NVWZ/RR 2004, 575) entgegen, da es auf jeden Fall an der Maßnahme der Auflösung gefehlt hat und nicht sogleich mit polizeirechtlichen Mitteln hätte eingegriffen werden dürfen. Darüber hinaus vertritt das Gericht nicht die Auffassung, dass Bahnanlagen grundsätzlich dem Demonstrationsverbot unterliegen. Die EBO als untergesetzliche Regelung vermag nicht das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit einzuschränken. Gemäß Artikel 8 Absatz 2 Grundgesetz kann die Beschränkung nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen. Eingeschränkt wird die Versammlungsfreiheit vor allem durch das Versammlungsgesetz oder aber auch die Bannmeilengesetze, die Sonn- und Feiertagsgesetze und die Straßen- und Wegegesetze. Bei der EBO handelt es sich nicht um eine gesetzliche Regelung, die das Ziel hat, die Versammlungsfreiheit einzuschränken. Die Anwendung der EBO führt auch nicht dazu, dass das Merkmal der "Öffentlichkeit" nicht mehr gegeben wäre. Auch im Bereich von Gleisanlagen ist eine Versammlung grundsätzlich jedermann zugänglich. Aus verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ist somit die Rechtsauffassung des OVG Lüneburg nicht nachvollziehbar. Darüber hinaus hat sich die Betroffene auch noch nicht auf den Gleisen befunden.

14

Den Anträgen der Betroffenen war daher statt zu geben.

15

Die Kostenentscheidungen beruhen auf § 19 Abs. 4 NGefAG in Verbindung mit §§ 3 Nr. 1, 30 Abs. 2 KostO, 13a Abs. 1 FGG. Die Betroffene hat mit ihren Anträgen obsiegt. Dies war im Rahmen der Kostenentscheidung zu berücksichtigen. Abweichend von dem im FGG Verfahren geltenden Grundsatz, dass jeder Beteiligte seine außergerichtlichen Auslagen selbst trägt, waren hier der Bezirksregierung die Kosten der antragstellenden Person nach Billigkeitsgesichtspunkten aufzuerlegen. Das grundrechtliche Rehabilitationsinteresse, welches die antragstellende Person im vorliegenden Verfahren erfolgreich durchgesetzt hat, muss sich auch auf die Kostenentscheidung durchschlagen. Es darf nicht sein, dass die antragstellende Person einerseits die Feststellung der Rechtswidrigkeit polizeilichen Handelns erstreitet und andererseits auf einem Teil der Kosten hängen bleibt. Die Bezirksregierung ist als Landeskasse zur Kostentragung mit heranzuziehen, weil in Anbetracht der von ihr ausgegangenen rechtswidrigen Handlungen dies gem. §13a I 1 FGG geboten ist.