Landgericht Braunschweig
Beschl. v. 07.08.2002, Az.: 33 Qs 26/02
Ausübung des Ermessens durch den Strafrichter zum Beiordnungsantrag als Pflichtverteidiger
Bibliographie
- Gericht
- LG Braunschweig
- Datum
- 07.08.2002
- Aktenzeichen
- 33 Qs 26/02
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2002, 31044
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LGBRAUN:2002:0807.33QS26.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- AG Braunschweig - 26.04.2002 - AZ: 9 Ds 905 Js 49447/01
Rechtsgrundlage
- § 140 Abs. 2 S. 1 StPO
Fundstellen
- NZV 2003, 49-50
- StraFo 2002, 398-399
- VRS 2002, 431-432 (Volltext mit amtl. LS)
- VRS 103, 431 - 432
- zfs 2002, 547-548
Tenor:
Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Amtsgerichts Braunschweig vom 26.04.2002 aufgehoben. Dem Angeklagten wird Rechtsanwalt xxx aus xxx Pflichtverteidiger beigeordnet.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Staatskasse.
Gründe
Die Anklage der Staatsanwaltschaft Braunschweig vom 20.12.2001 legt dem Angeklagten zur Last, am Abend des 23.09.2001 die tateinheitlich begangenen Vergehen der Trunkenheit, im Verkehr und des Fahrens ohne Fahrerlaubnis begangen zu haben. Die Ermittlungen hatten zum Ergebnis, dass sich der unter erheblichem Alkoholeinfluss stehende Angeklagte zuvor den Schlüssel des in Braunschweig am Kennelbad geparkten Pkw eines Bekannten hatte aushändigen lassen, um sich nach eigenem Bekunden darin schlafen zu legen. Einige Zeit später wurde der Pkw von der Polizei auf dem Steinweg parkend aufgefunden. Der Angeklagte lag schlafend auf der Rückbank, der Pkw-Schlüssel steckte im Zündschloss. Die Polizei sicherte Faserspuren vom Fahrersitz und von der Kleidung des Angeklagten. Dieser gab an, nicht zu wissen, wie er mit dem Pkw vom Kennelbad zum Steinweg gelangt war.
Im Verhandlungstermin vom 11.03.2002 setzte das Amtsgericht die Hauptverhandlung aus und ordnete auf Antrag der Staatsanwaltschaft, dem der Verteidiger des Angeklagten widersprochen hatte, die Einholung einer DNA-Analyse an. Darauf beantragte der Verteidiger noch im Termin seine Beiordnung als Pflichtverteidiger gem. § 140 Abs. 2 StPO, und zwar unter Hinweis darauf, dass die Einholung des DNA-Gutachtens die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage begründe. Nach Eingang des Gutachtens des Landeskriminalamtes Niedersachsen lehnte das Amtsgericht mit Beschluss vom 26.04.2002 die beantragte Pflichtverteidigerbeiordnung ab. Zur Begründung verwies es darauf, dass die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage keine Verteidigermitwirkung gebiete, weil sich aus dem Gutachten keine den Angeklagten belastenden Umstände ergäben. Im Hauptverhandlungstermin vom 29.05.2002 sprach es den Angeklagten, der sich während des gesamten gerichtlichen Verfahrens nicht zur Sache eingelassen hatte, aus tatsächlichen Gründen frei. Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft form- und fristgerecht Berufung eingelegt, mit der sie - offenkundig - eine Verurteilung des Angeklagten erstrebt. Vor diesem Hintergrund hat der Angeklagte durch seinen Verteidiger unter dem 15.07.2002 erneut die Beiordnung von Rechtsanwalt xxx beantragt und zugleich gegen den ablehnenden Beschluss des Amtsgerichts vom 26.04.2002 Beschwerde eingelegt.
Das statthafte und auch sonst zulässige Rechtsmittel des Angeklagten hat Erfolg. Der Strafrichter des Amtsgerichts hat das ihm von § 140 Abs. 2 S. 1 StPO eingeräumte Ermessen fehlerhaft ausgeübt. Der Beiordnungsantrag des Verteidigers vom 11.03.2002 enthielt die Erklärung, dass er das ihm erteilte Wahlverteidigermandat für den Fall seiner Beiordnung niederlegen würde (vgl. KK-Laufhütte, 4. Aufl., § 141 Rn. 1 m.w.N.). Danach war zu prüfen, ob ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO vorliegt. Hierbei war im Hinblick auf die Schwierigkeit der Sachlage zunächst zu berücksichtigen, dass keine unmittelbaren Beweise für das eigentliche Tatgeschehen existierten, so dass der Anklagevorwurf letztlich auf der Würdigung einer Reihe von Indizien beruhte. Das muss zwar nicht stets Schwierigkeiten der Beweisführung begründen, erfordert aber eine sorgfältige Beurteilung, ob der Angeklagte ohne Beistand eines Verteidigers in der Lage ist, sich sachgerecht gegen den auf Schlussfolgerungen basierenden Tatvorwurf zu verteidigen. Das ist jedenfalls nicht (mehr) der Fall, wenn das Gericht - wie hier - über die bereits feststehenden und auch dem Angeklagten bekannten Hilfstatsachen hinaus die Einholung eines kriminaltechnisch-medizinischen Gutachtens anordnet. Sachverständigengutachten sind häufig Gegenstand eingehender Auseinandersetzungen, z.B. hinsichtlich der Sachkunde des Gutachters und der Tauglichkeit der von ihm herangezogenen Anknüpfungstatsachen. Einem Angeklagten muss es ermöglicht werden, das Gutachten diesbezüglich erforderlichenfalls auf dessen Beweiskraft zu prüfen. Dazu benötigt er mangels eigener Sachkunde und auch schon deswegen einen Verteidiger, weil er selbst kein Akteneinsichtsrecht besitzt. Deswegen begründete spätestens der Beweisbeschluss vom 11.03.2002 eine Schwierigkeit der Sachlage, die die antragsgemäße Beiordnung des Verteidigers des Angeklagten gebot. Dabei war nicht voraus zu sehen, dass das Gutachten keine den Angeklagten zusätzlich belastenden Feststellungen begründen würde. Das Amtsgericht durfte statt dessen aber auch nicht die Vorlage des Gutachtens abwarten, sondern hätte sofort über den Antrag entscheiden müssen (§ 141 Abs. 2 StPO).
Ob daneben die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das freisprechende Urteil des Amtsgerichts die Bestellung eines Pflichtverteidigers - für die zweite Instanz - gebietet, ist nicht zu entscheiden. Zum einen wäre für diese Entscheidung nicht das Beschwerdegericht, sondern der Vorsitzende des Berufungsgerichts zuständig. Zum anderen erstreckt sich die hier getroffene Verteidigerbestellung ohnehin auf das Berufungsverfahren.