Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 09.09.2021, Az.: L 13 AS 345/21 B
Aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs; Fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 09.09.2021
- Aktenzeichen
- L 13 AS 345/21 B
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2021, 44180
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2021:0909.L13AS345.21B.ER
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Stade - 28.06.2021 - AZ: S 39 AS 54/21 ER
Rechtsgrundlagen
- § 36 S. 1 SGB X
- § 36a SGB I
- § 66 SGG
- § 84 Abs. 1 SGG
- § 86b Abs. 1 SGG
- § 66 Abs. 1 SGG
- § 193 SGG
Amtlicher Leitsatz
Eine Rechtsbehelfsbelehrung, die entgegen dem Wortlaut des § 84 Abs. 1 S. 1 SGG in der seit dem 1. Januar 2018 gültigen Fassung nicht auf die Möglichkeit der elektronischen Einreichung des Widerspruchs hinweist, ist unrichtig i. S. des § 66 Abs. 2 S. 1 SGG.
Tenor:
Der Beschluss des Sozialgerichts Stade vom 28. Juni 2021 wird aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Widerspruch der Antragstellerinnen vom 30. April 2021 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 17. März 2021 hinsichtlich der darin verfügten Erstattungen und Aufrechnungen aufschiebende Wirkung hat.
Der Antragsgegner hat den Antragstellerinnen die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.
Gründe
Die gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde der Antragstellerinnen gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Stade vom 28. Juni 2021 ist begründet.
Den Antragstellerinnen ist unter Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung der beantragte einstweilige Rechtsschutz zu gewähren. Es handelt sich vorliegend um einen Antrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung, welcher nach allgemeiner Meinung in entsprechender Anwendung des § 86b Abs. 1 SGG zulässig ist, wenn – wie hier – zweifelhaft ist, ob die aufschiebende Wirkung eingetreten ist (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 86b Rn. 15 m. w. N.). Ein Rechtsschutzinteresse der Antragstellerinnen für einen derartigen Antrag ist zu bejahen, da der Antragsgegner im Verwaltungsverfahren auf ihr Ansinnen, die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs zu bestätigen, nicht reagiert hat.
Der Antrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung ist auch begründet. Der Antragsgegner hat mit dem im Hauptsacheverfahren angefochtenen Bescheid vom 17. März 2021 seine Bewilligungsentscheidungen für die Leistungsmonate November 2020 und Januar 2021 ganz bzw. teilweise aufgehoben, die Antragstellerinnen zur Erstattung ihnen gewährter Leistungen in Höhe von 771,82 €, 287,42 € und 139,43 € herangezogen und die Aufrechnungen der Erstattungsbeträge mit den laufenden Leistungen ab dem 1. Mai 2021 erklärt. Ein Widerspruch gegen einen derartigen Bescheid hat hinsichtlich der Erstattung und Aufrechnung gemäß § 86a Abs. 1 S. 1 SGG aufschiebende Wirkung. Der für die Grundsicherung für Arbeitsuchende einschlägige § 39 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), der in den dort genannten Fällen die aufschiebende Wirkung i. V. m. § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG entfallen lässt, erfasst in seiner Ziffer 1) nur Verwaltungsakte über die Aufhebung der Leistungen, während Erstattungsverwaltungsakte nach § 40 Abs. 1 S. 1 SGB II i. V. m. § 50 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) und Aufrechnungsverwaltungsakte nach § 43 SGB II nicht aufgeführt sind.
Der am 30. April 2021 eingegangene Widerspruch der Antragstellerinnen entfaltet entgegen der Auffassung des Antragsgegners aufschiebende Wirkung, da der Bescheid vom 17. März 2021 zu diesem Zeitpunkt noch nicht bestandskräftig geworden war. Zwar gehen die Antragstellerinnen selbst davon aus, die einmonatige Widerspruchsfrist des § 84 Abs. 1 S. 1 SGG nicht eingehalten zu haben, diese Frist beginnt aber gemäß § 66 Abs. 1 SGG nur dann zu laufen, wenn der Bescheid mit einer ordnungsgemäßen Rechtsmittelbelehrung versehen ist. Hieran fehlt es vorliegend mit der Folge, dass gemäß § 66 Abs. 2 S. 1 SGG für die Einlegung des Widerspruchs eine Frist von einem Jahr gilt, die hier eingehalten ist.
§ 66 Abs. 1 SGG verknüpft den Beginn der Widerspruchsfrist mit einer Belehrung des Beteiligten über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsstelle oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist. Es ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt, dass über den Wortlaut der Vorschrift hinaus nach ihrem Sinn und Zweck, den Beteiligten ohne Gesetzeslektüre die ersten Schritte der (fristgerechten) Wahrung ihrer Rechte zu ermöglichen, auch eine Belehrung über den wesentlichen Inhalt der bei Einlegung des Rechtsbehelfs zu beachtenden Formvorschriften erforderlich ist (vgl. nur Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 14. März 2013 – B 13 R 19/12 R - juris Rn. 16 m. w. N.). Hinzu kommt, dass § 36 S. 1 SGB X bei einem schriftlichen Verwaltungsakt – wie hier – eine Belehrung auch über die Form des Rechtsbehelfs ausdrücklich vorsieht.
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben kann die dem Bescheid des Antragsgegners vom 17. März 2021 beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung, wonach der Widerspruch schriftlich oder zur Niederschrift einzulegen sei und von einem Rechtsanwalt auch als elektronisches Dokument übermittelt werden könne, nicht als richtig bewertet werden. Denn nach § 84 Abs. 1 S. 1 SGG in der seit dem 1. Januar 2018 gültigen Fassung des Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 5. Juli 2017 (BGBl. I 2208) ist der Widerspruch schriftlich, in elektronischer Form nach § 36a Abs. 2 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) oder zur Niederschrift bei der Stelle einzureichen, die den Verwaltungsakt erlassen hat. Die Möglichkeit der Einlegung des Widerspruchs in elektronischer Form ist damit entgegen der Rechtsbehelfsbelehrung des Beklagten nach geltendem Recht nicht auf Rechtsanwälte beschränkt. Soweit sich der Beklagte auf die o. g. Entscheidung des BSG beruft, betrifft diese eine Rechtsbehelfsbelehrung, die überhaupt keinen Hinweis auf die Möglichkeit der Einlegung in elektronischer Form enthielt. Hier hat der Beklagte auf die elektronische Form hingewiesen, allerdings die Rechtslage insoweit unzutreffend wiedergegeben. Im Übrigen ist die fragliche Entscheidung des BSG, wonach eine Belehrung, die dem damaligen Wortlaut des § 84 Abs. 1 S. 1 SGG („schriftlich oder zur Niederschrift“) entsprach, seinerzeit noch als richtig und vollständig anzusehen war, überholt. Nach Änderung der genannten Vorschrift ist der Hinweis auf die Möglichkeit einer elektronischen Widerspruchseinlegung nicht länger entbehrlich, da diese Möglichkeit nun ausdrücklich im Gesetz genannt ist (vgl. zu der entsprechenden Änderung des § 357 Abs. 1 S. 1 Abgabenordnung: Bundesfinanzhof, Urteil vom 28. April 2020 – VI R 41/17 – juris Rn. 17). Dies entspricht – soweit ersichtlich – der überwiegenden Auffassung in der aktuellen sozialgerichtlichen Rechtsprechung (Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht [LSG], Beschlüsse vom 20. Dezember 2018 – L 6 AS 202/18 B ER – und vom 6. Mai 2021 – L 6 AS 64/21 B ER –; SG Hildesheim, Urteil vom 3. September 2020 – S 12 AS 13/19; SG Berlin – 51. Kammer –, Beschluss vom 22. Januar 2020 – S 51 KR 2926/19 ER; SG Berlin – 179. Kammer –, Urteil vom 8. Dezember 2020 – S 179 AS 10734/19; SG Darmstadt, Beschluss vom 23. Mai 2018 – S 19 AS 309/18 ER; a. A. SG Berlin – 37. Kammer –, Gerichtsbescheid vom 13. August 2020 – S 37 AS 4462/19; SG Lübeck, Urteil vom 16. Oktober 2020 – S 16 AS 116/19) und in der Kommentarliteratur (vgl. Keller a. a. O., § 66 Rn. 10; Müller in: jurisPK-ERV, Band 3, Stand: 16. August 2021, § 66 SGG Rn. 21 ff.; Jung in: beck-online Großkommentar, Stand: 1. Mai 2021, § 66 SGG Rn. 18; Mink in: BeckOK Sozialrecht, Stand: 1. Juni 2021, § 66 SGG Rn. 2; Heße in: BeckOK Sozialrecht, § 36 SGB X Rn. 10, a. A. nur Siewert in: Diering/Timme/Stähler, SGB X, 5. Aufl. 2019, § 36 Rn. 8 und Mutschler in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Stand: Mai 2021, § 36 SGB X Rn. 18, jeweils bezugnehmend auf die ältere BSG-Rspr.; offenlassend: Senger in: jurisPK-SGG, Stand: 23. Oktober 2020, § 66 Rn. 28 ff.; Grube in: jurisPK-SGB X, Stand: 10. Januar 2021, § 36 Rn. 41; Engelmann in: Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 36 Rn. 18).
Soweit der Antragsgegner geltend macht, er habe den Zugang zu seinem besonderen Behördenpostfach (beBPO) zulässigerweise auf Gerichte und Rechtsanwälte beschränkt, lässt sich der für die Einlegung des Widerspruchs maßgeblichen Vorschrift des § 84 Abs. 1 S. 1 SGG die Möglichkeit einer derartigen Beschränkung nicht entnehmen. Vielmehr nimmt diese Vorschrift nur auf § 36a Abs. 2 SGB I und damit auf die dort geregelten Anforderungen an die elektronische Form Bezug, nicht aber auf § 36a Abs. 1 SGB I, wonach die Übermittlung elektronischer Dokumente nur zulässig ist, wenn der Empfänger hierfür einen Zugang eröffnet. Es steht der Behörde damit gerade nicht frei, ob sie einen Zugang für die elektronische Übermittlung des Widerspruchs eröffnet (so zutreffend B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, § 84 Rn. 3). Dies übersehen die sozialgerichtlichen Entscheidungen, die für die Zulässigkeit der Einreichung des Widerspruchs in elektronischer Form darauf abstellen, ob die betreffende Behörde hierfür einen Zugang eröffnet hat.
Unerheblich ist nach dem eindeutigen Wortlaut des § 66 SGG, ob die unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung für die Fristversäumnis ursächlich geworden ist (vgl. Keller a. a. O., § 66 Rn. 12). Es kommt damit nicht darauf an, dass – worauf der Antragsgegner insoweit zutreffend hinweist – die für die elektronische Kommunikation über das beBPO erforderliche qualifizierte elektronische Signatur in der Bevölkerung, namentlich unter den Leistungsbeziehern nach dem SGB II, kaum verbreitet ist und damit der fehlende oder fehlerhafte Hinweis auf die Möglichkeit der elektronischen Einreichung des Widerspruchs auch kaum geeignet sein dürfte, den Adressaten des Bescheides davon abzuhalten, den Widerspruch formgerecht, nämlich schriftlich oder zur Niederschrift, einzulegen.
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Der Antrag der Antragstellerinnen auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren hat sich durch die zu ihren Gunsten ergangene Kostenentscheidung erledigt.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.