Verwaltungsgericht Osnabrück
Beschl. v. 08.07.2020, Az.: 5 B 151/20

Aufschiebende Wirkung; Aussetzung der Vollziehung; Aussetzungsentscheidung; Bestandskräftig; Corona; Dublin III VO; Klagerücknahme; Rechtsgrundlage; Rechtskräftig

Bibliographie

Gericht
VG Osnabrück
Datum
08.07.2020
Aktenzeichen
5 B 151/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 71754
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Für eine behördliche Aussetzung der Vollziehung einer Abschiebungsanordnung im sog. Dublin-Verfahren besteht nach Rücknahme einer gegen den Ablehnungsbescheid gerichteten Klage keine Rechtsgrundlage.

Art. 27 Abs. 4 Dublin III-Verordnung berechtigt die Behörde nicht unmittelbar zur Aussetzung der Vollziehung.

Gründe

Die Antragstellerin ist syrische Staatsangehörige. Vor ihrer Einreise stellte sie bereits in Schweden einen Asylantrag, weshalb die Antragsgegnerin einen am 19.8.2019 in der Bundesrepublik gestellten Antrag am 26.8.2019 als unzulässig ablehnte und die Abschiebung nach Schweden anordnete. Einen gegen die Abschiebungsanordnung gerichteter Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung lehnte das Gericht durch Beschluss vom 2.10.2019 - 5 B 333/19 - ab. Die gegen diese Ablehnung gerichtete Klage nahm die Klägerin am 23.3.2020 zurück. Am 25.3.2020 teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin mit, dass sie die Vollziehung der Abschiebungsanordnung nach § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-Verordnung aussetze. Die Antragstellerin forderte die Antragsgegnerin durch Schreiben vom 3.4.2020 und vom 15.4.2020 auf, den Bescheid vom 26.8.2019 aufzuheben, da die Überstellungfrist am 2.4.2020 abgelaufen sei. Einen Antrag auf verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz, mit dem die Antragstellerin im Wege der einstweiligen Anordnung die Aufhebung des Bescheides vom 26.8.2019 sowie eine Verpflichtung der Antragsgegnerin, die Überstellung nach Schweden zu unterlassen, begehrte, lehnte das Gericht durch Beschluss vom 5.5.2020 - 5 B 112/20 - ab. Durch Schreiben vom 24.6.2020 widerrief die Antragsgegnerin die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung. Am 29.6.2020 stellte die Antragstellerin erneut einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes.

Im Wege der einstweiligen Anordnung begehrt die Antragstellerin die Aufhebung des Bescheides vom 26.8.2019 sowie eine Verpflichtung der Antragsgegnerin, die Überstellung nach Schweden zu unterlassen.

Der Antrag, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Bescheid vom 26.8.2019 aufzuheben, ist unbegründet.
(…)

Der weitere Antrag, die Antragsgegnerin einstweilen zu verpflichten, der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass eine Abschiebung nicht durchgeführt werden darf, ist begründet.

Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Verwaltungsgericht, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn die Gefahr besteht, dass durch die Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Eine einstweilige Anordnung kann auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis getroffen werden, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern, oder aus sonstigen Gründen geboten ist (Regelungsanordnung; § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Eine derartige Anordnung setzt voraus, dass ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) besteht und sich der Antragsteller auf einen Anordnungsanspruch berufen kann. Das Vorliegen beider Voraussetzungen ist vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2, 294 ZPO). Eine solche Glaubhaftmachung liegt grundsätzlich dann vor, wenn das Vorliegen von Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch überwiegend wahrscheinlich ist (vgl. Sächsisches OVG, Beschluss vom 02. August 2011 - 2 B 78/11 -, juris, mit Veröffentlichungshinweis auf DÖD 2011, 264; Nds. OVG, Beschluss vom 14. März 2003 - 2 ME 97/03 -, juris).

Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch hinreichend glaubhaft gemacht. Ein Anordnungsanspruch besteht nach § 55 Abs. 1 AsylG. Danach ist einem Ausländer, der um Asyl nachsucht, der Aufenthalt im Bundesgebiet zur Durchführung des Asylverfahrens gestattet.

Die Antragstellerin hat im Gebiet der Antragsgegnerin einen Asylantrag gestellt, für den diese zuständig (geworden) und über den noch nicht entschieden ist, mithin ist der Aufenthalt der Antragstellerin in der Bundesrepublik gestattet und eine Abschiebung unzulässig.

Die nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (sog. Dublin III-Verordnung, Dublin III-VO) zunächst fehlende Zuständigkeit für die Behandlung des Asylantrages ist nach Ablauf der sog. Überstellungsfrist auf die Antragsgegnerin übergegangen, Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO. Nach Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO ist die Überstellung eines Antragstellers sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat, durchzuführen. Nach Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beginnt die Überstellungsfrist in Fällen, in denen ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt wurde, erst nach Abschluss des gerichtlichen Eilverfahrens zu laufen (Urt. v. 26.5.2016 - 1 C 15/15 -, juris). Dies zugrunde gelegt, lief die Überstellungfrist am 2.4.2020 ab.

Die Aussetzung der Vollziehung durch die Beklagte am 23.3.2020 führte nicht zu einer Unterbrechung der Überstellungsfrist.

Als Rechtsgrundlage für die Aussetzung scheidet § 80 Abs. 4 VwGO aus. Eine behördliche Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung nach § 80 Abs. 4 VwGO ist zwar grundsätzlich geeignet, die Überstellungsfrist zu unterbrechen. Mindestvoraussetzung einer behördlichen Aussetzungsentscheidung nach § 80 Abs. 4 VwGO ist aber, dass der Antragsteller einen Rechtsbehelf gegen die Abschiebungsanordnung eingelegt hat (im Einzelnen: BVerwG, Urteil vom 8.1.2019 - 1 C 16/18 -, juris, Rn. 26). Nachdem die Antragstellerin ihre Klage am 23.3.2020 zurückgenommen hatte, scheidet eine Unterbrechung der Überstellungsfrist durch Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung nach § 80 Abs. 4 VwGO folglich aus.

Auch Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO scheidet als Grundlage für eine Aussetzung der Abschiebungsanordnung aus. Dahinstehen kann die Frage, ob, wie die Antragsgegnerin meint, Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO (und da gleichlautend auch Art. 29 Abs. 1 Dublin III-Verordnung) mit dem Wort „Überprüfung“ auch ein (rein) behördliches Überprüfungsverfahren umfasst, denn bei Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO handelt es sich nach dem eindeutigen Wortlaut der Norm („Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass…“) lediglich um die gemeinschaftsrechtliche Grundlage, die nationalrechtliche Möglichkeit einer behördlichen Aussetzung der Abschiebungsanordnung zu erlassen und nicht um die Befugnis zur Aussetzung selbst (BVerwG, Urteil vom 8.1.2019 - 1 C 16/18 -, juris, Rn. 19). Eine Umsetzung erfolgte mit § 80 Abs. 4 VwGO für das gerichtliche Verfahren. Für eine behördeninterne Überprüfung vermag das Gericht eine Umsetzung nicht zu erkennen. Auch die Antragsgegnerin verweist nach gerichtlichem Hinweis lediglich auf Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO.

Ungeachtet dessen bleibt es der Behörde freilich unbenommen, die getroffene Entscheidung fortlaufend zu überprüfen und zu beschließen, die Entscheidung einstweilen nicht zu vollziehen. Eine Unterbrechung der Überstellungsfrist zieht diese behördliche Aussetzung gleichwohl nicht nach sich. Wegen der für die betroffenen Antragsteller nachteiligen Folgen einer Unterbrechung der Überstellungsfrist bedarf es einer förmlichen, auf einer Rechtsgrundlage beruhenden Aussetzungsentscheidung, um eine Unterbrechung zu bewirken.

Einen Anordnungsgrund hat die Antragstellerin ebenfalls hinreichend glaubhaft gemacht. Dieser folgt aus der Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung sowie dem Umstand, dass Abschiebungstermine in sog. Dublinverfahren nicht regelmäßig mitgeteilt werden.