Landgericht Braunschweig
Beschl. v. 12.04.2012, Az.: 3 T 683/09 (019)

Notwendigkeit einer mündlichen Anhörung vor Anordnung einer Sicherungshaft zur Sicherung einer Abschiebung

Bibliographie

Gericht
LG Braunschweig
Datum
12.04.2012
Aktenzeichen
3 T 683/09 (019)
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2012, 32708
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGBRAUN:2012:0412.3T683.09.019.0A

Verfahrensgang

vorgehend
AG Braunschweig - 01.08.2009 - AZ: 33 XIV 121/09

Fundstellen

  • InfAuslR 2012, 423-424
  • NVwZ-RR 2013, 293

In der Abschiebehaftsache
des Herrn xxx,
Beschwerdeführer
Verfahrensbevollmächtigte: xxx
xxx,
Geschäftszeichen: xxx
Antragstellende Behörde
Stadt Dortmund, Ordnungsamt, 44122 Dortmund,
Beschwerdegegner
hat die 3. Zivilkammer des Landgerichts Braunschweig am 12.04.2012 durch die unterzeichnenden Richterinnen
beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Auf die sofortige Beschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass seine Inhaftierung aufgrund des Beschlusses des Amtsgerichts Braunschweig vom 01.08.2009 rechtswidrig war.

  2. 2.

    Verfahrenskostenhilfe wird nicht bewilligt.

  3. 3.

    Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen werden der Antragstellerin auferlegt.

  4. 4.

    Der Wert des Beschwerdegegenstands wird auf 3.000 € festgesetzt.

Gründe

1

I.

Der Betroffene wurde am Abend des 31.07.2009 in Braunschweig wegen illegalen Aufenthaltes vorläufig festgenommen. Am 01.08.2009 beantragte die Antragstellerin bei dem Amtsgericht Braunschweig den Erlass eines Sicherungshaftbeschlusses gemäß § 62 Abs. 2 AufenthG.

2

Der Betroffene wurde dem Amtsgericht vorgeführt, das durch Beschluss vom selben Tage anordnete, den Betroffenen zur Sicherung der Abschiebung in Sicherungshaft zu nehmen. Die einstweilige Freiheitsentziehung dürfe zwei Wochen nicht überschreiten.

3

Die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung wurde angeordnet.

4

Bei der Vorführung zugegen war ein Dolmetscher, vermutlich für die französische Sprache.

5

In einem über die Vorführung aufgenommenen Vermerk heißt es u. a.:

"Der Betroffene gibt durch Gesten zu verstehen, dass er nicht hört und sprechen kann. Dennoch gelingt es dem Dolmetscher sich soweit verständlich zu machen, dass der Betroffene Angaben zu seinem Namen und zu seiner Freundin in Braunschweig schriftlich macht. Der Dolmetscher schreibt ihm auf, dass er in Abschiebehaft genommen werden soll. Der Betroffene schüttelt daraufhin mit dem Kopf. Der Dolmetscher erklärte dem Betroffenen schriftlich und mittels Zeichnung, dass er in Abschiebehaft genommen werden soll mit dem Ziel einer Abschiebung nach Algerien. Der Betroffene gibt zu verstehen, dass er nach Dortmund reisen möchte. Er will nicht nach Algerien ausreisen."

6

Protokolliert ist ferner:

"Der Betroffene gab seine Personalien an wie Blatt 1 d. A.

Von meiner Verhaftung soll benachrichtigt werden: keine Antwort

Ihm wurde(n) ausgehändigt:

Merkblatt über die Unterrichtung einer Auslandsvertretung nebst Übersetzung in die französische Sprache.

Erklärungen des Betroffenen dazu können nicht eingeholt werden. Eine Verständigung ist nicht möglich.

Dem Betroffenen wurde der Beschluss vom 01.08.2009 bekannt gegeben.

Eine Ausfertigung wurde ausgehändigt."

7

Am Ende des Haftbeschlusses heißt es:

"Die notwendigen Belehrungen des Betroffenen und eine ergänzende mündliche Anhörung sind unverzüglich nachzuholen, wenn ein Gebärdendolmetscher für die französische oder arabische Sprache zur Verfügung steht."

8

Am 12.08.2009 wurde der Betroffene abgeschoben. Eine Anhörung mittels Gebärdendolmetscher war zuvor nicht erfolgt.

9

Der Betroffene hat gegen den Beschluss am 10.08.2009 sofortige Beschwerde eingelegt, mit der er nun die Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Inhaftierung erstrebt.

10

II.

1.

Die sofortige Beschwerde des Betroffenen ist gemäß Art. 111 FGG-RG nach dem bis zum 31.08.2009 geltenden Recht zu beurteilen, da das Verfahren zu diesem Zeitpunkt bereits eingeleitet war.

11

2.

Die sofortige Beschwerde ist form- und fristgerecht eingelegt und auch nach Erledigung der Hauptsache zulässig, da es sich bei der Inhaftierung um einen schweren Grundrechtseingriff handelt, der das schutzwürdige Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme begründet.

12

3.

Die sofortige Beschwerde ist auch begründet.

13

Die Anordnung der Sicherungshaft ist nicht rechtsfehlerfrei, da das Amtsgericht den Betroffenen nicht in der erforderlichen Weise angehört hat.

14

Die mündliche Anhörung vor der Entscheidung über die Freiheitsentziehung gehört zu den wesentlichen Verfahrensgarantien gemäß Art. 104 Abs. 1 GG und ist Kernstück der Amtsermittlung im Freiheitsentziehungsverfahren (BVerfG, Beschluss v. 27.02.2009 - BvR 538/07, zitiert nach [...]). Sie hat den Zweck, dass sich der erkennende Richter einen unmittelbaren Eindruck von dem Betroffenen verschaffen und eigenverantwortlich Tatsachen feststellen kann, die eine Freiheitsentziehung rechtfertigen (Marschner/Volckart/Lesting, Freiheitsentziehung und Unterbringung, 5. Auflage, § 420 FamFG, RN 2).

15

Diesen Zweck konnte das Anhörungsverfahren vor dem Amtsgericht nicht erfüllen.

16

Ausweislich des Protokolls war eine Verständigung mit dem Betroffenen nicht möglich.

17

Um diese zu gewährleisten, hätte ein der Muttersprache des Betroffenen mächtiger Gebärdendolmetscher hinzugezogen werden müssen. Ob der Betroffene anhand der schriftlichen und zeichnerischen Erklärungen des Sprachendolmetschers überhaupt verstanden hat, worum es bei der Anhörung geht, ist bereits fraglich. Auf jeden Fall war er aber nicht in die Lage versetzt, sich gegenüber dem Gericht artikulieren zu können.

18

Es kann dahingestellt bleiben, ob möglicherweise ein Eilfall vorgelegen hat, der ausnahmsweise eine erst nachträgliche Anhörung hätte rechtfertigen können. Denn auch dann hätte das Gericht den Betroffenen jedenfalls unverzüglich nach der Beschlussfassung ordnungsgemäß anhören müssen. Eine solche Anhörung ist jedoch nicht erfolgt.

19

Die fehlende ordnungsgemäße Anhörung hat zur Folge, dass die angeordnete Sicherungshaft von vornherein rechtswidrig war (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 14.12.2007 - 16 Wx 250/07).

20

4.

Verfahrenskostenhilfe war dem Betroffenen nicht zu bewilligen, da eine Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse entgegen der Ankündigung in der Beschwerdeschrift nicht beigebracht wurde.

21

5.

Eine Kostenentscheidung war nicht veranlasst, § 15 Abs. 2 FEVG.

22

6.

Die notwendigen Auslagen des Betroffenen waren gemäß § 16 FEVG der Antragstellerin aufzuerlegen.

23

Die Antragstellerin war zwar die nach § 3 FEVG zuständige Behörde. Die örtliche Zuständigkeit richtet sich nach Landesrecht. Nach § 100 Abs. 1 S. 2 Nds. SOG ist die Behörde örtlich zuständig, in deren Bezirk die zu schützenden Interessen verletzt oder gefährdet werden. Zu schützende Interessen wurden durch den illegalen Aufenthalt des Betroffenen jedenfalls am Festnahmeort Braunschweig verletzt, so dass (auch) die Antragstellerin zuständig war (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 13.05.2008 - 22 W 18/08, zitiert nach [...]).

24

Der Antrag enthält jedoch keine Ausführungen darüber, ob das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft Braunschweig mit der Abschiebung des Betroffenen nach § 72 Abs. 4 S.1 AufenthG bestand. Dieses war erforderlich, weil gegen den Betroffenen durch die Polizei ein Ermittlungsverfahren wegen illegalen Aufenthaltes eingeleitet worden war. Dass der Antragstellerin dieses Ermittlungsverfahren bekannt war, ergibt sich daraus, dass sie ihrem Haftantrag eine Ablichtung der Strafanzeige beigefügt hat.

25

Damit war der Haftantrag mangels ausreichender Begründung unzulässig (vgl. BGH, Beschluss vom 20.01.2011 - V ZB 226/10, zitiert nach [...]).

26

7.

Die Festsetzung des Wertes des Beschwerdegegenstands beruht auf § 30 KostO.