Landgericht Braunschweig
Beschl. v. 11.12.2017, Az.: 8 Qs 197/17

mündliche Anhörung; Verhandlungsfähigkeit; Aufklärungspflicht

Bibliographie

Gericht
LG Braunschweig
Datum
11.12.2017
Aktenzeichen
8 Qs 197/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 53775
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Für die Frage, ob für das Ausbleiben des Verurteilten im Termin zur mündlichen Anhörung gemäß § 453 Abs. 1 Satz 4 StPO beachtliche Gründe vorgetragen oder erkennbar sind, kommt es nicht darauf an, dass sich der Verurteilte selbst genügend entschuldigt hat, sondern dass er (tatsächlich) entschuldigt ist, was das Gericht bei entsprechenden Anhaltspunkten selbst ermitteln muss.

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Amtsgerichts Braunschweig vom 9.11.2017 aufgehoben und die Sache zur erneuten Prüfung und Entscheidung - auch über die Kosten Beschwerdeverfahrens - an das Amtsgericht Braunschweig zurückverwiesen.

Gründe

Der Verurteilte wendet sich im Wege seiner am 22.11.2017 bei dem Amtsgericht Braunschweig eingegangenen sofortigen Beschwerde gegen den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung durch Beschluss des Amtsgerichts Braunschweig vom 9.11.2017, ihm zugestellt am 16.11.2017.

Er wurde durch Urteil des Amtsgerichts Braunschweig vom 14.10.2015, rechtskräftig seit dem 18.03.2016, unter Freisprechung im Übrigen wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in 6 Fällen mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von 10 Monaten belegt, deren Vollstreckung für 3 Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Der Verurteilte wurde der Aufsicht und Leitung einer Bewährungshelferin unterstellt. Zudem wurde ihm unter anderem folgendes auferlegt:

„Er hat seine Drogenfreiheit 6 Monate lang durch jeweils eine Urinprobe monatlich nachzuweisen. Der Nachweis beginnt in dem auf die Rechtskraft des Urteils folgenden Monat und ist in den 5 Folgemonaten jeweils bis zum 20. des Monats beim Gericht oder dem Bewährungshelfer abzugeben.“

Mit rechtskräftigem Urteil vom 8.05.2017 wurde der Verurteilte sodann vom Amtsgericht Braunschweig wegen unerlaubter Abgabe von Betäubungsmittelimitaten, Diebstahls, unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln und Erschleichens von Leistungen in zwei Fällen mit einer Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 15,00 € belegt. Die Tatzeiten fielen dabei teilweise in die laufende Bewährungszeit.

Die Staatsanwaltschaft Braunschweig hat daraufhin beantragt, die Strafaussetzung zur Bewährung zu widerrufen, mit der Begründung, dass neben der genannten rechtskräftigen Nachverurteilung vom 8.05.2017 der Verurteilte gegen die ihm erteilte Weisung, seine Drogenfreiheit nachzuweisen, verstoßen habe. Bislang habe er lediglich zwei Urinkontrollen, die negativ auf Kokain getestet worden seien, vorgelegt.

Dieser Antrag führte schließlich zum Widerrufsbeschluss des Amtsgerichts Braunschweig vom 29.08.2017, welcher durch Beschluss der Kammer vom 27.09.2017 (Az. 8 Qs 159/17) aufgehoben und die Sache zur erneuten Prüfung und Entscheidung - auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens - an das Amtsgericht Braunschweig zurückverwiesen wurde. Dem lag zugrunde, dass der Verurteilte zwei von dem Amtsgericht Braunschweig im Widerrufsverfahren anberaumte Termine zur mündlichen Anhörung nicht wahrgenommen hatte, wobei er bei ersterem telefonisch mitgeteilt hatte, erkrankt zu sein. Für den zweiten Anhörungstermin hatte er (erst) im Beschwerdeverfahren gegen den ergangenen Widerrufsbeschluss vom 29.08.2017 Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt.

Begründet hatte die Kammer die Aufhebung des Widerrufsbeschlusses vom 29.08.2017 seinerzeit damit, dass von dem anwaltlich nicht vertretenen Verurteilten nicht gefordert werden könne, dass ihm der Unterschied zwischen einer Arbeits- und einer Verhandlungsunfähigkeit bekannt sei, sodass er davon ausgehen durfte, mit der [im Beschwerdeverfahren] eingereichten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hinreichend entschuldigt zu sein. Trotz Ermittlungen der Kammer bei dem behandelnden Arzt und Aussteller der Bescheinigungen habe sich nicht mehr feststellen lassen, ob der Verurteilte zum Zeitpunkt des Anhörungstermins tatsächlich verhandlungsunfähig gewesen sei. Zu seinen Gunsten müsse daher von seiner Verhandlungsunfähigkeit ausgegangen werden, sodass der Widerrufsbeschluss ohne die zwingend gebotene mündliche Anhörung ergangen sei.

Nach der Aufhebung des Widerrufsbeschlusses vom 29.08.2017 hat das Amtsgericht Braunschweig den Verurteilten gegen Zustellungsurkunde zu einem erneuten Anhörungstermin auf den 25.10.2017 geladen.

Über seine Bewährungshelferin ließ der Verurteilte sodann am 25.10.2017 mitteilen, dass er den Anhörungstermin leider nicht wahrnehmen könne. Er habe dem Gericht eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zukommen lassen und bitte um neuen Termin, um sein Anliegen zu besprechen.

Daraufhin hat das Amtsgericht unter dem 25.10.2017 neuen Termin zur Anhörung anberaumt auf Freitag, den 3.11.2017, und den Verurteilten erneut gegen Zustellungsurkunde geladen mit dem Hinweis, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zum letzten Termin unlesbar gewesen sei, ihm aufgegeben werde, diese mitzubringen und bei erneuter Abwesenheit wegen Arbeitsunfähigkeit die amtsärztliche Untersuchung beabsichtigt sei.

Nach dem Termin reichte der Verurteilte eine leserliche ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zum Bewährungsheft, die seine Arbeitsunfähigkeit für den Zeitraum vom 24.10.-27.10.2017 ausweist.

Im Anhörungstermin vom 3.11.2017 erschien allein die Bewährungshelferin des Verurteilten. Sie übergab ein von dem Verurteilten ihr überreichtes ärztliches Attest über dessen Arbeitsunfähigkeit bis einschließlich 3.11.2017. Die zuständige Abteilungsrichterin vermerkte im Bewährungsheft, dass Angaben über eine Verhandlungsunfähigkeit nicht ersichtlich seien.

Mit Beschluss vom 9.11.2017 hat das Amtsgericht die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen.

Der Verurteilte sei in der Bewährungszeit erneut straffällig geworden. Mit rechtskräftigem Urteil des Amtsgerichts Braunschweig vom 8.05.2017 sei er unter anderem wegen unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe verurteilt worden.

Im Übrigen habe er trotz zahlreicher Aufforderungen bislang lediglich eine Urinkontrolle vom 26.07.2016 eingereicht. Er habe dadurch gezeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde gelegen habe, sich nicht erfüllt habe (§ 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB). Auch habe er gegen die erteilte Weisung gröblich und beharrlich verstoßen und dadurch Anlass zur Besorgnis gegeben, dass er erneut Straftaten begehen werde (§ 56f Abs. 1 Nr. 2 StGB).

Des Weiteren enthält der Beschluss die folgende Passage:

„Den Termin zur mündlichen Anhörung am 03.11.2017 hat der Verurteilte ohne Entschuldigung nicht wahrgenommen; er hat lediglich der Bewährungshelferin eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zukommen lassen, der sich jedoch keine Verhandlungsunfähigkeit ergibt [sic!], obwohl ihm spätestens seit dem Beschluss des Landgerichts vom 27.09.2017 (8 Qs 159/17) bekannt war, dass er nur bei attestierter Verhandlungsunfähigkeit ausreichend entschuldigt ist.“

Gegen diesen Beschluss richtet sich die sofortige Beschwerde des Verurteilten vom 22.11.2017. Er begründet sie damit, dass er zum Anhörungstermin aus gesundheitlichen Gründen nicht habe erscheinen können. Eine Krankmeldung habe er dem Gericht mitgeteilt. Ein Termin für eine amtsärztliche Untersuchung sei ihm seitens des Gerichts nicht mitgeteilt worden. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für den Zeitraum vom 24.10.-3.11.2017 sind beigefügt.

Die Staatsanwaltschaft Braunschweig hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Sie beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen. Der Verurteilte sei augenscheinlich der Meinung, sich dem gebotenen Widerruf der Strafaussetzung dauerhaft dadurch entziehen zu können, dass er sich jeweils rechtzeitig vor dem Anhörungstermin „arbeitsunfähig“ schreiben lasse.

Der behandelnde Arzt des Verurteilten, der auch das Attest für den 3.11.2017 ausgestellt hat, hat auf Nachfrage der Kammer mitgeteilt, dass der Verurteilte am 3.11.2017 verhandlungsunfähig gewesen sei.

II.

Die zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte, sofortige Beschwerde des Verurteilten hat vorläufig Erfolg.

Die Voraussetzungen für einen Widerruf der Strafaussetzung liegen (derzeit) nicht vor.

Die angefochtene Entscheidung leidet an einem in der Beschwerdeinstanz nicht behebbaren Verfahrensmangel.

Da das Amtsgericht vorliegend den Widerruf der Strafaussetzung neben der rechtskräftigen Nachverurteilung in der Bewährungszeit auch auf gröbliche und beharrliche Verstöße gegen Weisungen gestützt hat, versprach die mündliche Anhörung des Verurteilten vor Beschlussfassung nähere Aufklärung und war daher gemäß § 453 Abs. 1 Satz 4 StPO zwingend geboten (OLG Hamm, Beschluss vom 28.03.2017, Az. 2 Ws 38/17, III-2 Ws 38/17 - juris; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl. 2017, § 453 Rn. 7 m.w.N.).

Dass sie unterblieben ist, begründet einen wesentlichen Verfahrensmangel.

Zwar ist grundsätzlich auch eine Entscheidung ohne mündliche Anhörung möglich, wenn der ordnungsgemäß zum Anhörungstermin geladene Verurteilte diesen Termin nicht wahrnimmt. Anderes gilt jedoch, wenn beachtliche Gründe für ein Ausbleiben vorgetragen oder erkennbar sind (Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 14.05.2008, Az. 1 Ws 171/08, Rn. 13 - juris).

Verzichtet hat der Angeklagte vorliegend auf den Anhörungstermin nicht, sondern vielmehr durch mehrere Eingaben deutlich gemacht, dass er an der mündlichen Anhörung sehr interessiert sei, jedoch aus gesundheitlichen Gründen nicht erscheinen könne.

Das Amtsgericht hat sich in dem angefochtenen Beschluss darauf zurückgezogen, dass dem Verurteilten spätestens seit dem Beschluss der Kammer vom 27.09.2017 bekannt gewesen sei, dass ein Unterschied zwischen „bloßer“ Arbeitsunfähigkeit und der weiter reichenden „Verhandlungsunfähigkeit“ bestehe, und dass er nur bei attestierter Verhandlungsunfähigkeit ausreichend entschuldigt sei.

Diese Argumentation, der die Staatsanwaltschaft ausdrücklich beitritt, trägt jedoch nicht.

Es kommt nicht darauf an, dass sich der Verurteilte selbst genügend entschuldigt hat, sondern dass er (tatsächlich) entschuldigt ist, was das Gericht bei entsprechenden Anhaltspunkten selbst ermitteln muss.

Dieser Grundsatz, der auch in anderen Bereichen ausdrücklich anerkannt ist (vgl. für § 74 OWiG: LG Bielefeld, Beschluss vom 6.01.2016, Az. 10 Qs 460/15, Rn. 6 - juris; für § 230 Abs. 2 StPO: LG Dresden, Beschluss vom 29.12.2006, Az. 3 Qs 155/06, 3 Qs 160/06, Rn. 17, 20 - juris; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 230 Rn. 16 m.w.N.; für § 329 StPO: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 329 Rn. 19 ff.), beansprucht auch für das Anhörungsverfahren gemäß § 453 Abs. 1 Satz 4 StPO Geltung (ebenso: Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 14.05.2008, Az. 1 Ws 171/08, Rn. 14 ff. - juris). Denn bei der mündlichen Anhörung gemäß § 453 Abs. 1 Satz 4 StPO handelt es sich um ein wesentliches Verfahrensrecht des Verurteilten, welches ihm die Gelegenheit einräumen soll, eine ihn wesentlich treffende Entscheidung zu beeinflussen (Thüringer Oberlandesgericht, a.a.O., Rn. 15).

Vor diesem Hintergrund wäre das Amtsgericht gehalten gewesen - nachdem in der Vorlage eines Attestes eine konkludente, wenigstens partielle, Schweigepflichtentbindungserklärung zu erblicken ist - Kontakt zu dem Aussteller der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aufzunehmen und die Frage der Verhandlungsfähigkeit des Verurteilten mit diesem zu klären.

Die diesbezüglichen Ermittlungen, die die Kammer im Beschwerdeverfahren angestellt hat, haben ergeben, dass der Verurteilte nach Auskunft seines behandelnden Arztes am 3.11.2017 tatsächlich verhandlungsunfähig - und nicht nur arbeitsunfähig - gewesen sei.

Darüber hinaus hat das Amtsgericht selbst mit seinem Schreiben vom 25.10.2017 bei dem Verurteilten den Eindruck erweckt, es werde bei erneuter Vorlage einer „bloßen“ Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im nächsten Anhörungstermin durch Veranlassung einer amtsärztlichen Untersuchung eigenständig Ermittlungen zur Verhandlungsfähigkeit des Verurteilten anstellen. Darauf durfte sich der Verurteilte verlassen.

Dass das Amtsgericht nach dem Termin am 3.11.2017 doch anders verfahren ist, darf dem Verurteilten aufgrund des vorher geschaffenen Vertrauenstatbestandes seitens des Gerichts erst recht nicht zum Nachteil gereichen.

Nach alledem war aufgrund des Verfahrensfehlers der unterbliebenen mündlichen Anhörung der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Prüfung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen (vgl. LG Saarbrücken, Beschluss vom 21.02.2000, Az. 4 Qs 77/99 I, NStZ-RR 2000, 245 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 453 Rn. 15).

Das Amtsgericht hat auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden, da derzeit der endgültige Erfolg des Rechtsmittels noch nicht abzusehen ist (OLG Braunschweig, Beschluss vom 31.07.2013, Az. 1 Ws 224/13, Rn. 12 - juris; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 473 Rn. 7).