Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 04.11.2019, Az.: 1 Ss 136/19
Krankheit als genügende Entschuldigung für Ausbleiben in der Hauptverhandlung; Weite Auslegung des Begriffs "genügende Entschuldigung"; Strengbeweis zur Feststellung der Nichtteilnahme an Hauptverhandlung aus Krankheitsgründen; Ungenügendes Attest zum Nachweis der Entschuldigung
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 04.11.2019
- Aktenzeichen
- 1 Ss 136/19
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2019, 67503
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Oldenburg - 15.03.2019 - AZ: 12 Ns 73/19
Rechtsgrundlagen
- § 329 Abs. 1 StPO
- § 344 Abs. 2 S. 2 StPO
- § 353 StPO
- § 354 StPO
- § 412 StPO
Redaktioneller Leitsatz
1. Das Ausbleiben in der Hauptverhandlung ist unschädlich, sofern der Angeklagte genügend entschuldigt ist. Dies ist weit auszulegen.
2. Ob die Voraussetzungen für eine genügende Entschuldigung vorliegen, unterliegt dem Strengbeweis.
3. Ein Attest, das lediglich schlagwortartig und allgemein auf Probleme wie Schlaflosigkeit oder Angstzustände hinweist, ist als genügende Entschuldigung nicht ausreichend, soweit nicht erkennbar wird, dass der Angeklagte aus ernstlichen gesundheitlichen Gründen unfähig ist, an der Hauptverhandlung teilzunehmen.
Tenor:
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil der 12. kleinen Strafkammer des Landgerichts Oldenburg vom 15. März 2019 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Oldenburg zurückverwiesen, die auch über die Kosten der Revision zu entscheiden hat.
Gründe
Das Amtsgericht Cloppenburg hatte am 30. Mai 2018 gegen den Angeklagten einen Strafbefehl über 90 Tagessätze zu je 30 € wegen Insolvenzverschleppung erlassen. Gegen diesen Strafbefehl hatte der Angeklagte durch seinen damaligen Verteidiger rechtzeitig Einspruch eingelegt. Diesen hatte das Amtsgericht Cloppenburg mit Urteil vom 30. Oktober 2018 verworfen, weil der Angeklagte zum Hauptverhandlungstermin ohne genügende Entschuldigung nicht erschienen sei. Seinen Antrag, ihn wieder in den Stand vor Versäumen der Hauptverhandlung einzusetzen, hatte das Amtsgericht Cloppenburg mit Beschluss vom 10. Dezember 2018 als unzulässig verworfen. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde des Verurteilten hat das Landgericht mit Beschluss vom 9. Januar 2019 zurückgewiesen.
Auf die zugleich mit dem Wiedereinsetzungsantrag angebrachte Berufung des Angeklagten hat das Landgericht Oldenburg am 15. März 2019 das Verwerfungsurteil des Amtsgerichts Cloppenburg vom 30. Oktober 2018 aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung an das Amtsgericht Cloppenburg zurückverwiesen. Hiergegen richtet sich die rechtzeitig eingelegte und begründete Revision der Staatsanwaltschaft. Sie wendet sich mit der Rüge der Verletzung von §§ 412, 329 Abs. 1 StPO gegen die Annahme einer genügenden Entschuldigung des Angeklagten für sein Ausbleiben in der amtsgerichtlichen Hauptverhandlung und beantragt, das Urteil des Landgerichts vom 15. März 2019 aufzuheben und die Berufung des Angeklagten zu verwerfen.
1.
Während eine Sachrüge vorliegend lediglich zu der Überprüfung führen würde, ob die Prozessvoraussetzungen gegeben sind und Verfahrenshindernisse nicht bestehen, bedarf es für die Überprüfung, ob das Berufungsgericht bei seiner Entscheidung seine Aufklärungspflicht verletzt oder den Rechtsbegriff der genügenden Entschuldigung verkannt hat, der Erhebung einer Verfahrensrüge. Diese ist durch die Staatsanwaltschaft in einer § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechenden Weise angebracht worden.
2.
Die Rüge hat auch in der Sache Erfolg.
a.
Nach §§ 412, 329 Abs. 1 StPO ist die Verwerfung des Einspruchs gegen einen Strafbefehl bei Ausbleiben des Angeklagten im anberaumten Termin zur Hauptverhandlung nur zulässig, wenn das Fernbleiben nicht genügend entschuldigt ist. Als Ausnahme vom Grundsatz, dass ohne den Angeklagten nicht verhandelt werden darf, darf der Begriff der "genügenden Entschuldigung" nicht zu eng ausgelegt werden. Dabei ist nicht entscheidend, ob der Angeklagte sich genügend entschuldigt hat, sondern ob er genügend entschuldigt ist. Bestehen Anhaltspunkte dafür, dass das Fernbleiben entschuldigt sein kann, muss das Gericht dem im Rahmen seiner Amtsaufklärungspflicht durch Ermittlungen im Freibeweis nachgehen. Prüfungsgegenstand der Berufungshauptverhandlung ist im Falle des Verwerfungsurteils die Frage, ob das Amtsgericht den Einspruch gegen den Strafbefehl zu Recht wegen unentschuldigten Ausbleibens des Angeklagten verworfen hat. Anders als im unmittelbaren Geltungsbereich des nach § 412 StPO entsprechend anwendbaren § 329 StPO, in dem erst nach der ohne Rechtsverstoß erfolgten Verwerfung neu hervorgetretene Entschuldigungsgründe nur im Rahmen eines Wiedereinsetzungsantrags geltend gemacht werden können, hat das Berufungsgericht dabei alle bis zum Schluss der Berufungsverhandlung bekannt gewordenen Entschuldigungsgründe zu berücksichtigen (vgl. BayObLG, Beschluss v. 14.02.2002, 5 St RR 21/02, bei juris m.w.N.).
Für die Erhebung solcher Tatsachen gilt der Grundsatz des Strengbeweises, weil diese Tatsachen für die von der Berufungskammer zu treffende Hauptentscheidung maßgeblich sind. Das Aufklärungsgebot verpflichtet daher das Berufungsgericht, über die vom Angeklagten behaupteten Entschuldigungsgründe mit den im Gesetz vorgesehenen Beweismitteln Beweis zu erheben (OLG Naumburg, Beschluss v. 10. November 1999, 2 Ss 367/98, NStZ-RR 2001, 97).
b.
Eine Erkrankung gilt als genügende Entschuldigung, wenn sie nach ihrer Art und ihren Auswirkungen, insbesondere nach dem Umfang der von ihr ausgehenden körperlichen und geistigen Beeinträchtigung, eine Beteiligung an einer Hauptverhandlung unzumutbar macht. Entscheidend ist dabei, in welchem Ausmaß eine Erkrankung die dem Betroffenen in der konkreten Verfahrenssituation zu gewährleistenden Mitwirkungsmöglichkeiten beeinträchtigt. Dabei hat das Gericht die Schwierigkeit des Verhandlungsgegenstandes und den jeweiligen Verfahrensstand in seine Beurteilung einzubeziehen.
Ebenso wie ein zur Begründung eines Wiedereinsetzungsgesuches vorgelegtes Attest die Art der Erkrankung sowie den Umfang der von ihr ausgehenden körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen darzulegen hat und es der detaillierten Angabe bedarf, welche konkrete Symptomatik der behaupteten Erkrankung beim Antragsteller vorlag und ihn am Erscheinen in der Hauptverhandlung hinderte (vgl. OLG Hamm, Beschluss v. 24.11.2016, III-5 RVs 82/16, bei juris), muss angesichts der dargelegten umfassenden Aufklärungspflicht das auf die Berufung gegen eine Entscheidung nach § 412 i.V.m. § 329 StPO ergehende Urteil eben diese Feststellungen enthalten.
c.
Eine derartige Beeinträchtigung ist dem durch die Berufungskammer herangezogenen Attest des Dr. med. XX vom 12. März 2019 nicht zu entnehmen. Diese für die Beurteilung des Entschuldigtseins maßgebliche ergänzende Stellungnahme weist erhebliche Ängste, Schlaf- und Antriebslosigkeit, eine akute Belastungsstörung und präsuizidale Gedanken aus. Diese Befunde sind indes nur schlagwortartig und allgemein. Über die Schwere der Beeinträchtigungen des Allgemeinbefindens des Angeklagten verhält sich das Attest nicht. Es beschränkt sich zur Schwere der Angstzustände vielmehr auf reine Wertungen; jede Mitteilung von Tatsachen fehlt. Dabei ist unklar, welcher Art die behaupteten Angstzustände waren. Solch ein Zustand kann sich auf verschiedene Lebensbereiche beziehen. Ob sich der Angstzustand gerade auf das Gerichtsverfahren vor dem Amtsgericht Cloppenburg bezog, bleibt dabei unklar. Auch wird dem Angeklagten eine Einschränkung seiner psychischen Reaktion diagnostiziert. Das Attest verhält sich indes nicht über die Art oder Schwere der Beeinträchtigung des Angeklagten, so das sich daraus nicht ergibt, inwiefern der Angeklagte unfähig war, seine Verteidigungsinteressen wahrzunehmen. Die in dem weiteren Attest aufgeführten psychovegetativen Zustände und messbaren körperlichen Reaktionen zeigen zwar Angaben zur Schwere der Beeinträchtigung auf, sind jedoch erst bei einem weiteren Verhandlungstermin, der erst nach der Hauptverhandlung vom 30. Oktober 2018 stattfand, diagnostiziert worden. Ob sich diese körperlichen Symptome bereits zum Zeitpunkt des Hauptverhandlungstermins darstellten und welche weiteren Folgen dies für die Wahrnehmung der Verteidigungsinteressen des Angeklagten haben konnte, ergibt sich daraus nicht.
Die Feststellungen der Strafkammer reichen daher nicht aus, ein entschuldigtes Ausbleiben des Angeklagten in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht anzunehmen.
3.
Das angefochtene Urteil des Landgerichts war deshalb gemäß § 353 StPO aufzuheben.
Zugleich war die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Oldenburg zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 StPO). Die seitens der Staatsanwaltschaft begehrte unmittelbare Sachentscheidung durch das Revisionsgericht (§ 354 Abs. 1 StPO) - hier also die Verwerfung der Berufung des Angeklagten - kam nicht in Betracht. Diese kann nur dann ergehen, wenn dem neuen Tatrichter wegen seiner Bindung an die rechtliche Beurteilung durch das Revisionsgericht (§ 358 Abs. 1 StPO) keine andere Entscheidung als die Bestätigung des Verwerfungsurteils möglich und eine neue Tatsacheninstanz daher völlig nutzlos wäre (so offenbar in dem der Entscheidung des BayObLG v. 28.02.1975, RReg 6 St 11/75, MDR 1975, 597 zu Grunde liegenden Fall), was etwa dann der Fall wäre, wenn der Senat einer vom Amtsgericht vertretenen, vom Landgericht aber abgelehnten Rechtsauffassung folgen würde (vgl. LR-Gössel, StPO, 26. Aufl., § 412 Rz. 52). Das ist vorliegend nicht der Fall. Die Aufhebung erfolgt nicht wegen einer unzutreffenden Anwendung des Rechtsbegriffs des entschuldigen Ausbleibens, sondern wegen der unzureichenden Feststellungen dazu. Diese Feststellungen kann der Senat, der als Revisionsgericht auf eine rechtliche Prüfung beschränkt ist, auch nicht nachholen, obwohl es sich um allein verfahrensrechtlich bedeutsame Tatsachen handelt. Denn auch deren Feststellung ist vorliegend dem Tatrichter vorbehalten (vgl. OLG Zweibrücken, Urteil v. 27.05.1994, 1 Ss 40/94, NStZ 1994, 602).