Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 08.07.1992, Az.: 4 L 2044/91

Legastheniker; Kostengrundanerkenntnis; Schulausbildungskosten; Behinderungsgrad; Ausbildungskosten

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
08.07.1992
Aktenzeichen
4 L 2044/91
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1992, 13316
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:1992:0708.4L2044.91.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Oldenburg (Oldenburg) 24.04.1991 - 3 A 2209/90
nachfolgend
BVerwG - 21.07.1993 - AZ: BVerwG 5 B 162.92
BVerwG - 28.09.1995 - AZ: BVerwG 5 C 21/93

Tenor:

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 3. Kammer - vom 24. April 1991 wird zurückgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens. Insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 5.000,-- DM abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

1

Der im Jahre 1973 geborene Kläger leidet nach der Stellungnahme des Gesundheitsamtes der Stadt ... vom 30. Juli 1987 an einer ausgeprägten Lese- und Rechtschreibeschwäche; das Gesundheitsamt hielt es für "dringend erforderlich", daß der Kläger das Internat (staatlich anerkanntes Gymnasium "Landerziehungsheim Stiftung Louisenlund" in Schleswig-Holstein), in dem er sich bereits seit 1985 aufhält, weiterhin für zunächst ein Jahr besuche und er dort gefördert werde. Am 19. November 1987 erteilte der Beklagte gegenüber der Stadt ... ein dahingehendes Kostengrundanerkenntnis nach den §§ 39, 40 BSHG für die Zeit ab "Beginn des Schuljahres 1987/1988 bis zum Ende der Schulausbildung". Daraufhin gewährte die im Auftrage des Beklagten handelnde Stadt Oldenburg dem Kläger zunächst die begehrte Hilfe.

2

Mit Bescheid vom 27. März 1990 versagte die Stadt Oldenburg eine Weiterbewilligung der Hilfe für die Zeit ab April 1990, weil nach dem Gutachten des Gesundheitsamtes des Kreises Rendsburg-Eckernförde vom 4./24. Januar 1990 der Kläger nicht an einer wesentlichen Behinderung leide und es auch nicht drohe, daß bei ihm eine Behinderung eintrete. Den Widerspruch wies der Beklagte durch Wideerspruchsbescheid vom 13. Juni 1990 zurück.

3

Das Verwaltungsgericht hat der Klage, mit der der Kläger begehrt hat, ihm Eingliederungshilfe für die Zeit vom 1. April 1990 bis zum 13. Juni 1990 für seine Unterbringung und Betreuung im Landerziehungsheim Stiftung Louisenlund zu gewähren, mit Urteil vom 24. April 1991 stattgegeben. Es hat ausgeführt: Entgegen der Ansicht des Beklagten sei dieser passivlegitimiert. Das folge aus § 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO iVm § 10 Abs. 2 des Niedersächsischen Ausführungsgesetzes zur Verwaltungsgerichtsordnung; denn gemäß § 2 Nds. AGBSHG sei das Land Niedersachsen der überörtliche Träger der Sozialhilfe, und § 4 Abs. 2 Nds. AGBSHG iVm der Verordnung vom 18. August 1986 (Nds. GVBl S. 296) sehe vor, daß die örtlichen Träger der Sozialhilfe in der Form des Mandates herangezogen würden. Auch sei der Beklagte gemäß § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG örtlich zuständig, weil der Kläger sich (während der Schulferien) bei seiner Mutter in Niedersachsen aufgehalten habe, als er den Antrag vom 27. Juli 1987 gestellt habe. Während dieses Aufenthaltes im Zuständigkeitsbereich des Beklagten sei es auch möglich gewesen (und gelungen), die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe zu prüfen.

4

Der Kläger gehöre zum Personenkreis des § 39 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 BSHG iVm § 2 der Eingliederungshilfeverordnung. Er leide an einer nicht nur vorübergehenden, wesentlichen geistigen Behinderung. Eine Lese- und Rechtschreibeschwäche sei - nach der ständigen Rechtsprechung des Senats - dem Bereich geistiger Leistungs- und Entwicklungsstörungen zuzuordnen. Der Kläger leide, wie auch der Bericht des Landeskrankenhauses Schleswig vom 21. August 1990 ergebe, an einem extremen Rechtschreibversagen. Diese Schwäche hätte es dem Kläger erheblich erschwert, sich in die Gesellschaft einzugliedern, wenn er nicht in dem Landerziehungsheim Stiftung Louisenlund betreut worden wäre.

5

Maßgebend sei, ob beim Kläger ein erfolgreicher Schulabschluß gefährdet gewesen sei mit der Folge, daß er einen, seinen Fähigkeiten entsprechenden, angemessenen Platz im Arbeitsleben vermutlich nicht hätte finden können. Das sei nach dem Bericht vom 21. August 1990 anzunehmen. Danach sei es dem Kläger nicht zuzumuten gewesen, auf eine (niedersächsische) Regelschule zu wechseln; dort hätte er erheblich weniger leisten können und das Erreichen des angestrebten Zieles (des Realschulabschlusses) wäre nachhaltig gefährdet gewesen. Es sei anzunehmen gewesen, daß sich bei einem weiteren Aufenthalt im Landerziehungsheim die Behinderung nur verhältnismäßig gering ausgewirkt hätte.

6

Mit seiner Berufung macht der Beklagte geltend: Der Kläger sei nicht wesentlich geistig behindert. Eine solche Behinderung habe auch nicht bei einem Schulwechsel einzutreten gedroht.

7

Er beantragt,

8

das Urteil des Verwaltungsgerichts zu ändern und die Klage abzuweisen.

9

Der Kläger beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

11

Er verteidigt das Urteil des Verwaltungsgerichts.

12

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsvorgänge verwiesen.

Entscheidungsgründe

13

Die Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten (§§ 125 Abs. 1, 101 Abs. 2 VwGO) ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist nicht begründet.

14

Der Senat macht sich die zutreffenden Gründe des angefochtenen Urteils zu eigen und wiederholt sie deshalb nicht, zumal sie auf seiner Rechtsprechung beruhen (§ 130 b VwGO).

15

Der Senat hat bereits in früheren Entscheidungen (zuletzt: Urt. v. 14. 11. 1990 - 4 L 26/90 -) zu der Frage Stellung genommen, ob und unter welchen Voraussetzungen sog. "Legastheniker", d.h. Menschen, die an einer angeborenen Schwäche im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens bei sonst hinreichender Intelligenz und regelrechtem neurologischen Befund leiden, einen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe haben können. In dem Beschluß vom 29. September 1978 (FEVS 27, 70) sowie in dem im Anschluß daran ergangenen Urteil vom 21. August 1981 (4 OVG A 62/80) hat der Senat die Auffassung vertreten, daß zumindest in den Fällen schwerer Legasthenie eine wesentliche geistige Behinderung im Sinne des § 39 BSHG anzunehmen ist und damit die Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungshilfe grundsätzlich erfüllt sind. Für wesentlich hat der Senat in diesem Zusammenhang gehalten, daß die Fähigkeiten, mühelos zu lesen und zu schreiben, geistige Leistungen sind mit der Folge, daß eine Lese-Rechtschreib-Schwäche bei im übrigen unauffälliger Intelligenz dem Bereich geistiger Leistungs- bzw. Entwicklungsstörungen zuzuordnen ist. Entsprechend den Zielen und Maßstäben des Sozialhilferechts hat der Senat das Ergebnis der sozialhilferechtlichen Prüfung dann jeweils davon abhängig gemacht, zu welchem Grad an Behinderung eine vorhandene Lese-Rechtschreib-Störung führt oder zu führen droht. Richtig ist allerdings, daß bei näherer Betrachtung in den einschlägigen Wissenschaften offenbar weder Übereinstimmung darüber herrscht, wie Legasthenie zu definieren ist (vgl. den Überblick bei Eggert, Psychomotorisches Training - Ein Projekt mit lese-rechtschreibschwachen Grundschülern, Beltz, Praxis, 2. Aufl. 1979), noch darüber, welches ihre Ursachen sind und wie ihr - vorbeugend und nachträglich - am erfolgversprechendsten zu begegnen ist. Es ist jedoch nicht Aufgabe der Verwaltungsbehörden und -gerichte, sich im Rahmen der Auslegung und Anwendung des Sozialhilferechts an dem insoweit bestehenden Meinungsstreit zu beteiligen oder diesen gar zu entscheiden. Wesentlich ist allein, wie - unabhängig von diesen Streitfragen grundsätzlicher und allgemeiner Art - die beim Hilfesuchenden nachweisbaren Minderleistungen, unter Berücksichtigung der möglicherweise festgestellten Ursachen, nach dem Maßstab des Sozialhilferechts zu beurteilen sind.

16

Beim Kläger sind die Voraussetzungen des § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG erfüllt, wie das Verwaltungsgericht im einzelnen zutreffend dargestellt und belegt hat. Der Stellungnahme des Gesundheitsamtes des Kreises Rendsburg-Eckernförde vom 4./24. Januar 1990 kommt demgegenüber ausschlaggebende Bedeutung nicht zu; denn zum einen bestätigt es, der Kläger leide an einer ausgeprägten Lese-Rechtschreib-Schwäche, zum anderen aber überschreitet es seine Befugnisse, indem es Schlüsse zieht, die der Verwaltungsbehörde und ggf. dem Gericht vorbehalten sind. Aufgabe des Arztes nämlich ist es nur, einen medizinischen Befund zu erheben; Sache der Behörde (des Gerichtes) ist es, auf den mit Hilfe des Sachverständigen ermittelten Sachverhalt die maßgebenden Rechtsvorschriften anzuwenden. Wie bereits erwähnt, ist in der Rechtsprechung des Senats geklärt, daß in Fällen einer schweren Legasthenie eine wesentliche geistige Behinderung im Sinne des § 39 BSHG anzunehmen ist und damit die Voraussetzungen für die Gewährung der Eingliederungshilfe grundsätzlich erfüllt sind.

17

Wie der Akteninhalt ergibt, war die Einrichtung, in der sich der Kläger aufhielt, geeignet, ihn nachhaltig zu fördern. Wie dem Senat bereits aus einer Vielzahl von gleichartigen Verfahren bekannt ist, muß eine Legastheniebehandlung sowohl die Übungsbehandlungen selbst (Milderung der jeweils diagnostizierten Teilfunktionsstörungen und spezifische Übungen zum Erlernen des Lesens und Schreibens) sowie heilpädagogische Hilfe (z.B. persönliche Zuwendung und Anerkennung von Lernfortschritten zum Ausgleich der Mißerfolgserlebnisse) umfassen, wenn sie Erfolg versprechen soll. Der Senat bezweifelt nicht (und ein solcher Zweifel ist nicht einmal dem Vortrag des Beklagten zu entnehmen), daß der Kläger im Landerziehungsheim Stiftung Louisenlund umfassende fachgerechte Hilfe erhielt.

18

Ob nur diese Einrichtung geeignet war (ist), muß der Senat nicht entscheiden. Aufgrund des erwähnten Berichtes des Landeskrankenhauses Schleswig vom 21. August 1990 war es dem Kläger nicht zuzumuten, während des laufenden Schuljahres die Einrichtung zu verlassen, weil seine weitere Behandlung und Betreutung sonst gefährdet gewesen wäre. Es ist in der Rechtsprechung des Senats (Urt. v. 26. 5. 1987 - 4 OVG A 115/86 -) geklärt, daß es einem Behinderten nicht zuzumuten ist, im finanziellen Interesse des Trägers der Sozialhilfe eine begonnene Behandlung abzubrechen und mit einer anderen Behandlung zu beginnen, wenn er dadurch gesundheitlichen Schaden erleiden würde. An dieser Auffassung, die seit der Entscheidung vom 26. Mai 1987 ständige Rechtsprechung des Senates ist, hält er fest. Es ist dem Kläger nicht zuzumuten, sich anderenorts mit ungewissem Ausgang betreuen zu lassen. Dabei ist auch zu bedenken, daß er sich zuvor auf Kosten des Beklagten längere Zeit im Internat aufgehalten hatte; jedenfalls mußte er die Möglichkeit haben, das Internat noch so lange zu besuchen, bis das Schuljahr abgeschlossen gewesen ist (nach dem erwähnten Bericht des Landeskrankenhauses Schleswig ist es erforderlich, daß sich der Kläger so lange in der Einrichtung aufhält, bis er den Realschulabschluß erlangt hat).

19

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 154 Abs. 2, 167, 188 Satz 2 VwGO; 708 Nr. 10, 711 ZPO.

20

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 132 Abs. 2 VwGO), bestehen nicht.

21

Atzler

22

Zeisler

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Groepper