Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 09.07.1992, Az.: 4 L 2308/92

Eingliederungshilfe; Behinderte; Werkstatt; Zusatzbarbetrag; Sozialhilfe

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
09.07.1992
Aktenzeichen
4 L 2308/92
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1992, 13318
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:1992:0709.4L2308.92.0A

Verfahrensgang

vorgehend
3 A 6332/91

Tenor:

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 3. Kammer Hannover - vom 17. März 1992 wird zurückgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens. Insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

1

Der Beklagte gewährt dem im Jahre 1947 geborenen Kläger Eingliederungshilfe. Der Kläger erhält ab dem 1. Dezember 1988 eine Erwerbsunfähigkeitsrente; er arbeitet in einer Werkstatt für Behinderte.

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Mit Bescheid vom 3. Juli 1991 berechnete die für den Beklagten handelnde Landeshauptstadt Hannover für die Zeit ab dem 1. Juli 1991 den Zusatzbarbetrag nach § 21 Abs. 3 Satz 4 BSHG nach dem bereinigten Einkommen des Klägers und berücksichtigte auch den Unterhalt, den der Kläger an seine Kinder leistete, einkommensmindernd. Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 21. November 1991 zurück.

3

Der Klage, mit der der Kläger begehrt hat, den Beklagten zu verpflichten, ihm für die Zeit von Juli 1991 bis November 1991 einen höheren Zusatzbarbetrag zu bewilligen, weil bei der Berechnung die Unterhaltszahlungen nicht berücksichtigt werden durften, hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 17. März 1992 stattgegeben. Es hat ausgeführt: Das Einkommen, das der Berechnung des Zusatzbarbetrages zugrunde zu legen sei, dürfe nur nach § 76 Abs. 2 BSHG bereinigt werden. Soweit die §§ 84, 85 BSHG erlaubten, bestimmte Teile des Einkommens nicht zu berücksichtigen, sei dies für das Einkommen, wie es § 21 Abs. 3 Satz 4 BSHG bezeichne, ohne Bedeutung, weil nach der Gesetzessystematik an das Einkommen im Sinne von § 76 Abs. 2 BSHG anzuknüpfen und dieser Betrag nicht wegen besonderer Belastungen zu mindern sei.

4

Mit seiner Berufung wiederholt der Beklagte seinen Standpunkt.

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Er beantragt,

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das Urteil des Verwaltungsgerichts zu ändern und die Klage abzuweisen.

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Der Kläger beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Er verteidigt das Urteil des Verwaltungsgerichtes.

10

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsvorgänge verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§§ 125 Abs. 1, 101 Abs. 2 VwGO), ist nicht begründet.

12

Nach welchem Maßstab der Zusatzbarbetrag nach § 21 Abs. 3 Satz 4 BSHG zu bemessen ist, hat der Senat in seinem Urteil vom 10. Juni 1992 (4 L 164/90) dargestellt. Dort heißt es:

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"Das Verwaltungsgericht hat zu Recht entschieden, daß bei der Bemessung des zusätzlichen Barbetrages (§ 21 Abs. 3 Satz 4 BSHG) das Einkommen im Sinne des § 76 Abs. 2 BSHG zugrunde zu legen ist. § 21 Abs. 3 Satz 4 BSHG schreibt vor: Trägt der Hilfeempfänger einen Teil der Kosten des Aufenthalts in der Einrichtung selbst, erhält er einen zusätzlichen Barbetrag in Höhe von 5 v. H. seines Einkommens, höchstens jedoch in Höhe von 15 v. H. des Regelsatzes eines Haushaltsvorstandes. Mit dem Wort "Einkommen" knüpft § 21 Abs. 3 Satz 4 BSHG an § 76 BSHG an, der den "Begriff des Einkommens" für das gesamte Bundessozialhilfegesetz regelt. Diese Regelung ist allerdings nicht erschöpfend, wie § 76 Abs. 3 BSHG zeigt. Danach kann nämlich die Bundesregierung durch Rechtsverordnung Näheres über die Berechnung des Einkommens bestimmen. Diese Ermächtigung ist - und so ist sie in der Verordnung zur Durchführung des § 76 verstanden und genutzt - dahin einzuordnen, daß in ihr nicht nur Näheres über die Berechnung des Einkommens, sondern auch der Begriff des Einkommens näher festgelegt wird.

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Zur Auslegung des Begriffs "Einkommen" sind die §§ 76 ff BSHG und die Verordnung zur Durchführung des § 76 BSHG heranzuziehen, weil § 76 BSHG entgegen dem Wortlaut seiner Überschrift ("Begriff des Einkommens") nicht eine Legaldefinition des Einkommens enthält. Vielmehr gibt § 76 Abs. 1 BSHG im Sinne einer Aufzählung nur das wieder, was u. a. zum Einkommen im Sinne des Bundessozialhilfegesetzes gehört, und schließt bestimmte Einkünfte aus, nämlich solche nach dem Bundessozialhilfegesetz sowie die Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz und ähnliche Leistungen. Soweit das Bundessozialhilfegesetz in der Folge das Wort "Einkommen" verwendet (§§ 79 ff), legt es das "bereinigte" Einkommen im Sinne des § 76 Abs. 2 BSHG zugrunde, weil es an die Leistungskraft des Hilfesuchenden anknüpft (Nachrang der Sozialhilfe). In den §§ 79 ff BSHG ist das Wort. "Einkommen" (vgl. etwa § 79 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BSHG) als "bereinigtes Einkommen" zu verstehen. Entsprechendes gilt für § 84 Abs. 1 BSHG. Das dort erwähnte "zu berücksichtigende Einkommen" ist das Einkommen im Sinne des § 76 Abs. 2 BSHG. Diese Überlegungen gelten auch für die §§ 85, 87 BSHG.

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Auch im Abschnitt 2 des Bundessozialhilfegesetzes - Hilfe zum Lebensunterhalt - ist unter "Einkommen" das Einkommen im Sinne des § 76 Abs. 2 BSHG zugrunde gelegt. So sieht § 24 Abs. 1 BSHG vor, daß ein Mehrbedarf für den erwerbstätigen Blinden in Höhe des Erwerbseinkommens anzuerkennen ist; nach dem Wortlaut dieser Vorschrift und ihrem Zweck, nämlich den Blinden dazu anzuspornen, erwerbstätig zu sein, ist auch diese Vorschrift dahin zu verstehen, mit dem Wort "Einkommen" sei das Einkommen im Sinne des § 76 Abs. 2 BSHG gemeint.

16

Der Wortlaut des § 21 Abs. 3 Satz 4 BSHG sowie die Systematik des Bundessozialhilfegesetzes und seine Strukturprinzipien (wie das Bedarfsdeckungsprinzip und der Nachrang der Hilfe) deuten deshalb darauf hin, daß unter "Einkommen" das bereinigte Einkommen im Sinne des § 76 Abs. 2 BSHG zu verstehen ist. Wie bereits erwähnt, wird diese Auslegung auch dem Sinn und Zweck der Vorschrift gerecht. § 21 Abs. 3 Satz 4 BSHG verfolgt nämlich den Zweck, den Hilfeempfänger besserzustellen, der mit eigenen Mitteln - jedenfalls zum Teil - die Kosten des Aufenthalts in einer Einrichtung finanziert. Der Gesetzgeber hat angenommen, daß es eine Härte wäre, solche Personen mit Personen gleichzustellen, die eigenes Einkommen nicht haben (vgl. Schellhorn/Jirasek/Seipp, Bundessozialhilfegesetz, 13. Aufl., Rdnr. 34 zu § 21). Diesem Zweck der Vorschrift wird aber nur die vom Verwaltungsgericht für richtig gehaltene und vom Senat gebilligte Auslegung gerecht. Denn maßgebend kommt es darauf an, in welchem Umfang ein Hilfeempfänger zu den Kosten seiner Unterbringung in der Einrichtung beiträgt. Beitragen kann der Hilfeempfänger aber nur mit dem Einkommen, das ihm - typischerweise - zur Verfügung steht, und das ist das bereinigte Einkommen im Sinne des § 76 Abs. 2 BSHG. Zu den Heimkosten trägt der Hilfeempfänger nämlich nur mit seinem "Nettoeinkommen" bei.

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Nur diese Auslegung wird den Strukturprinzipien des Bundessozialhilfegesetzes gerecht. Es ist nämlich ein Strukturprinzip, von dem Einkommen auszugehen, das dem Hilfesuchenden zur Verfügung steht, um seinen Bedarf zu decken (BVerwG, Urt. v. 31. Jan. 1968, BVerwGE 28, 108 [BVerwG 17.10.1967 - VI C 29/65]; Urt. v. 24. April 1968, BVerwGE 29, 295). Auch der Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe verlangt es, daran anzuknüpfen, welches Einkommen einem Hilfesuchenden tatsächlich zur Verfügung steht, um seinen Bedarf zu decken."

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An diesen Überlegungen hält der Senat fest.

19

Er teilt aus den vom Verwaltungsgericht genannten Gründen dessen Auffassung, bei der Bemessung des zusätzlichen Barbetrages seien vom Einkommen besondere Belastungen im Sinne von §§ 84, 85 BSHG nicht abzusetzen. Der Senat legt § 21 Abs. 3 Satz 4 BSHG dahin aus, daß das dort erwähnte Einkommen das in § 76 Abs. 2 BSHG angesprochene ist. Das folgt aus dem bereits im Urteil vom 10. Juni 1992 (aaO) dargestellten systematischen Zusammenhang. Dort ist bereits ausgeführt, daß es darum geht, typische Lebenssachverhalte zu erfassen. Zu einer solchen Typik gehört es, daß einem Einkommensbezieher nur das Nettoeinkommen "zur Verfügung steht", weil er nur über dieses verfügen kann. Die in § 76 Abs. 2 BSHG angesprochenen Belastungen (Steuern, Versicherungsbeiträge, Aufwendungen, um den Arbeitsplatz zu sichern) treffen jedermann. Anders liegen die Dinge bei atypischen Belastungen, wie etwa der Verpflichtung, einen Dritten zu unterhalten, der mit dem Verpflichteten nicht in einem Haushalt lebt.

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Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 154 Abs. 2, 167, 188 Satz 2 VwGO, 708 Nr. 10 ZPO.

21

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 132 Abs. 2 VwGO), bestehen nicht.

22

Atzler

23

Zeisler

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Groepper