Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 27.01.2009, Az.: 300 Ss 1/09

Erforderliche Feststellungen i.R.e. Verstoßes gegen § 5 Abs. 2 S. 1 Straßenverkehrsordnung (StVO); Voraussetzungen eines zulässigen Überholvorgangs

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
27.01.2009
Aktenzeichen
300 Ss 1/09
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2009, 46940
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:2009:0127.300SS1.09.0A

Verfahrensgang

vorgehend
AG Aurich, 422 Js 19714/08 vom 03.11.2008

Fundstellen

  • NJW 2009, 2967-2968
  • VRR 2009, 196

Amtlicher Leitsatz

Zu den erforderlichen Feststellungen bei einem Verstoß gegen § 5 Abs 2 Satz 1 StVO.

In dem Bußgeldverfahren

wegen Verkehrsordnungswidrigkeit,

hat der Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Oldenburg am 27. Januar 2009 durch den Richter am Oberlandesgericht ... gemäß §§ 79 Abs. 5, 80 a OWiG als Einzelrichter beschlossen:

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Aurich vom 03.11.2008 mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Aurich zurückverwiesen.

Gründe

1

Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen fahrlässigen Überholens, obwohl er nicht übersehen konnte, dass während des gesamten Überholvorganges eine Behinderung des Gegenverkehrs ausgeschlossen war, in Tateinheit mit der fahrlässigen Gefährdung eines Anderen und in Tateinheit mit dem verbotswidrigen Überfahren der Fahrstreifenbegrenzung (Zeichen 295) zu einer Geldbuße in Höhe von 125,00 Euro verurteilt und zudem ein Fahrverbot von einem Monat festgesetzt.

2

Nach den getroffenen Feststellungen befuhr der Betroffene am 24.04.2008 mit einem Pkw in A..., Ortsteil S..., die E... Straße in Richtung A... Innenstadt. In der in seiner Fahrtrichtung ca. 300 bis 400 m vor der Einmündung des E... Postweges gelegenen Linkskurve überholte er unter Überfahren der Fahrstreifenbegrenzung (durchgezogene Linie, Zeichen 295) einen Trecker, obwohl er zu Beginn des Überholmanövers den Kurvenverlauf nicht ausreichend einsehen konnte und nicht übersehen konnte, ob während des gesamten Überholvorgangs eine Behinderung oder Gefährdung des Gegenverkehrs ausgeschlossen war. Direkt in der Kurve kamen ihm die Polizeibeamten A... und B... in einem Dienstfahrzeug entgegen. Der Polizeibeamte A..., der Fahrer des Polizeifahrzeuges, musste vom Gas gehen, bremsen und leicht auf den Grünstreifen ausweichen, um einen Zusammenstoß mit dem Pkw des Betroffenen zu vermeiden.

3

Mit seiner Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung des Verfahrensrechtes mit der Begründung, das Amtsgericht sei zu Unrecht zwei gestellten Beweisanträgen nicht nachgegangen. Darüber hinaus erhebt der Betroffene die Rüge der Verletzung materiellen Rechts.

4

Die Generalstaatsanwaltschaft hält die allgemeine Sachrüge für durchgreifend.

5

Die gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 2 OWiG statthafte Rechtsbeschwerde ist rechtzeitig eingelegt und form und fristgerecht begründet worden. Sie führt bereits mit der allgemeinen Sachrüge zu einem jedenfalls vorläufigen Erfolg.

6

Die vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen tragen den Schuldspruch wegen eines Verstoßes des Betroffenen gegen § 5 Abs. 2 Satz 1 StVO in Verbindung mit § 49 Abs. 1 Nr. 5 StVO (der zu ergänzen wäre) nicht.

7

Nach § 5 Abs. 2 Satz 1 StVO darf nur überholen, wer übersehen kann, dass während des ganzen Überholvorgangs jede Behinderung des Gegenverkehrs ausgeschlossen ist. Das ist nur dann der Fall, wenn der Überholende einen Abschnitt der Gegenfahrbahn einsehen kann, der zumindest so lang ist, wie die für den Überholvorgang benötigte Strecke, zuzüglich des Weges, den ein entgegenkommendes, mit zulässiger Höchstgeschwindigkeit fahrendes Fahrzeug während des Überholens zurücklegt, es sei denn, die Breite der Straße lässt ein gefahrloses Überholen auch bei Gegenverkehr zu. Der Abschnitt, den der Überholende einsehen können muss, ist von der Stelle aus zu messen, an der der Überholvorgang noch gefahrlos abgebrochen werden kann. Dies kann auch möglich sein, wenn der Überholende bereits vollständig auf der Gegenfahrbahn fährt, aber noch auf die rechte Spur zurückwechseln kann, ohne andere Verkehrsteilnehmer zu behindern. Um nachträglich beurteilen zu können, ob ein Überholvorgang diesen Voraussetzungen entsprochen hat, sind demnach neben der Mitteilung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit und Straßenbreite, Feststellungen dazu erforderlich, an welcher Stelle der Überholvorgang noch gefahrlos abgebrochen werden konnte, wie weit der Überholende von dort aus die Gegenfahrbahn einsehen konnte und wie lang die Strecke war, die er noch zum Überholen benötigte. Wenn diese Strecke nicht abgemessen worden ist, ist die Kenntnis der Geschwindigkeiten des Überholenden und des Überholten sowie die Längen beider Fahrzeuge erforderlich, um die Überholstrecke errechnen zu können (OLG Düsseldorf NZV 1994, 290. ZfS 1997, 354 f).

8

An diesen von der obergerichtlichen Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen ist festzuhalten. Im Übrigen geben sie nur die Erwägungen wieder, die jeder Fahrzeugführer vor Beginn und während eines Überholvorganges anstellt bzw. anzustellen hätte.

9

Die somit erforderlichen Feststellungen sind allerdings im angefochtenen Urteil nicht getroffen. Mitgeteilt wird lediglich, dass der Überholvorgang in einer -nach Aussage des Zeugen A... nicht gut einsehbaren - Linkskurve stattgefunden habe, wobei ein Trecker überholt worden und im dortigen Bereich eine durchgezogene Linie vorhanden sei. Demgegenüber fehlen schon Angaben über den genauen Streckenverlauf und den Grund der Unübersichtlichkeit. Dass am Tatort eine durchgezogene Linie vorhanden ist, ist als Feststellung allein nicht ausreichend.

10

Aus den Feststellungen des Urteils ergibt sich zudem nicht, an welcher Stelle ein gefahrloser Abbruch des Überholvorgangs noch möglich gewesen wäre und wie weit die Gegenfahrbahn von dort aus eingesehen werden konnte. Denn solange die Möglichkeit des Abbrechens des Überholvorganges besteht, bringt dessen Einleitung auch dann keine Gefahr mit sich, wenn anfangs noch nicht gewährleistet ist, den Überholvorgang bei Auftreten von Gegenverkehr sicher zu Ende führen zu können (BayObLG VRS 23. Bd. 466). Ob diese Möglichkeit besteht, hängt von den Umständen ab, insbesondere davon, ob ein aufschließendes nachfolgendes Fahrzeug ein Wiedereinscheren hinter das zu überholende Fahrzeug möglicherweise verhindert. Demgegenüber hat das Amtsgericht nur auf den Beginn des Überholvorganges abgestellt.

11

Die für den Überholvorgang benötigte Wegestrecke, sowie die zulässige Höchstgeschwindigkeit sind ebenfalls nicht festgestellt worden.

12

Selbst wenn nach den Feststellungen davon auszugehen ist, dass die dem Fahrzeug des Betroffenen entgegenkommenden Polizeibeamten gefährdet worden sind, rechtfertigt dieses nicht den Rückschluss darauf, dass die Gefährdung ihren Grund darin hat, dass der Betroffene - was ihm vorgeworfen wird - trotz nicht ausreichender Einsehbarkeit des Streckenverlaufs überholt hätte. Denkbar ist beispielsweise auch, dass der Betroffene - unterstellt das Amtsgericht sieht seine Fahrereigenschaft erneut als erwiesen an - in dem Zeitpunkt, in dem ein Abbrechen des Überholvorganges noch möglich gewesen wäre, zwar den Gegenverkehr schon erkennen konnte, aber davon ausgegangen ist, den Überholvorgang noch beenden zu können.

13

Ob der Betroffene den Anforderungen des § 5 Abs. 2 Satz 1 StVO somit entsprochen hat oder nicht, ist aufgrund der unzureichenden Feststellungen für den Senat nicht überprüfbar. Das angefochtene Urteil ist damit aufzuheben. Da weitere Feststellungen zu treffen sind, war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Aurich, das auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens zu befinden hat, zurückzuverweisen. Ob es durch die Aussagen der als Zeugen zur Verfügung stehenden Polizeibeamten möglich sein wird, die erforderlichen Anknüpfungstatsachen festzustellen, wird in der neuen Hauptverhandlung zu klären sein.

14

Da bereits die Sachrüge Erfolg hat, kommt es nicht darauf an, ob auch die Rüge der Verletzung formellen Rechtes durchgreifend wäre.