Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 08.03.2007, Az.: 1 Ws 163/07
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 08.03.2007
- Aktenzeichen
- 1 Ws 163/07
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2007, 59318
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2007:0308.1WS163.07.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Hannover - AZ: 23 StVK 176/07
In der Strafvollzugssache
des E. K.
geb. am ####### in F.K. (A.)
- Antragstellers
gegen die Justizvollzugsanstalt S.
vertreten durch den Anstaltsleiter
- Antragsgegnerin
wegen Vorverlegung des Strafzeitendes nach § 43 StVollzG
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die Rechtsbeschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss der Strafkammer 12 - Strafvollstreckungskammer - des Landgerichts H. vom 08. März 2007 nach Beteiligung des Zentralen juristischen Dienstes für den niedersächsischen Justizvollzug durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht #######, den Richter am Oberlandesgericht ####### und den Richter am Oberlandesgericht ####### am 4. Juni 2007
beschlossen:
Tenor:
Die Hauptsache ist erledigt.
Die Kosten des Verfahrens und die dem Antragssteller entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Antragsgegnerin.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf bis zu 300 € festgesetzt.
Gründe
I.
Der mittlerweile aus der Haft entlassene Antragsteller verbüßte seit dem 23. Mai 2001 mehrere Freiheitsstrafen. Das Strafzeitende war auf den 24. März 2007 notiert. Während der Haftzeit erwarb der Antragsteller einen Anspruch auf 19 Freistellungstage, die während des Vollzuges nicht durch Arbeitsurlaub abgegolten worden sind. Mit Schreiben vom 01. März 2007 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin die Anrechnung der Freistellungstage auf den Entlassungszeitpunkt. Dies lehnte die Antragsgegnerin unter Hinweis auf die Entscheidung der Staatsanwaltschaft über das Absehen von der weiteren Strafvollstreckung nach § 456 a StPO ab. Wegen der erst für den 14. März 2007 vorgesehenen Abschiebung des Antragstellers käme eine Anrechnung nach § 43 Abs. 10 Nr. 4 StVollzG nicht in Betracht.
Auf den hiergegen gestellten Antrag auf gerichtliche Entscheidung verpflichtete die Strafvollstreckungskammer mit dem angefochtenen Beschluss im Wege einer einstweiligen Anordnung die Antragsgegnerin, das Strafzeitende unter Berücksichtigung der Freistellungstage auf den 05. März 2007 vorzuverlegen. Zur Begründung wird ausgeführt, dass die Rechte des Antragsstellers durch eine unzutreffende Anwendung des § 43 Abs. 10 Nr. 4 StVollzG verletzt worden seien. Soweit § 43 Abs. 10 Nr. 4 StVollzG die Anwendung des § 43 Abs. 9 StVollzG in den Fällen des Absehens von der weiteren Strafvollstreckung gem. § 456a StPO durch eine Vorverlegung des Entlassungszeitpunkts ausschließe, solle durch diese Vorschrift nicht der Zeitpunkt der Vollverbüßung zu Ungunsten des Gefangenen hinausgeschoben sondern verhindert werden, dass bei einem von der Staatsanwaltschaft in Abstimmung mit der Ausländerbehörde festgelegten Zeitpunkt für das vorzeitige Absehen von der Vollstreckung dieser Zeitpunkt durch Freistellungstage weiter vorverlegt und eine Abschiebung durch faktische Probleme verhindert werde. Bezugspunkt für die Anwendung des § 43 Abs. 10 Nr. 4 StVollzG sei der Entlassungszeitpunkt, der sich aus dem Endstrafentermin abzüglich der erworbenen Freistellungstage ergebe.
Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Antragsgegnerin, mit der sie die Verletzung materiellen Rechts rügt. Sie führt unter Hinweis auf den Wortlaut des § 43 Abs. 10 Nr. 4 StVollzG aus, dass der ursprüngliche Entlassungszeitpunkt bei einer Anordnung nach § 456a StPO als Anknüpfungspunkt für eine Anrechnung der erworbenen Freistellungstage nicht in Betracht käme.
II.
Nach der inzwischen erfolgten Abschiebung des Antragstellers und seiner damit verbundenen Entlassung aus der Haft hatte der Senat die Erledigung der Hauptsache festzustellen und nach § 121 Abs. 2 Satz 2 StVollzG nach billigem Ermessen über die Kosten und Auslagen des Verfahrens zu entscheiden. Danach waren die Kosten und Auslagen der Antragsgegnerin aufzuerlegen, da ihre Rechtsbeschwerde zwar zulässig, jedoch in der Sache unbegründet gewesen wäre.
1. Die Rechtsbeschwerde der Antragsgegnerin war sowohl zur Fortbildung des Rechts als auch zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung nach § 116 Abs. 1 StVollzG zulässig. Der Senat hat sich zu der maßgeblichen Rechtsfrage noch nicht geäußert.
Der Zulässigkeit stand auch nicht entgegen, dass die Kammer ihre Entscheidung im Wege einer einstweiligen Anordnung erlassen hatte. Denn die Entscheidung der Kammer beinhaltet die Vorwegnahme der Hauptsache, indem sie eine nicht mehr im Hauptsacheverfahren abänderbare Rechtsfolge geschaffen und den Gegenstand des anhängigen Verfahrens voll ausgeschöpft hat. In diesem Fall gelangt die die Rechtsbeschwerde einschränkende Vorschrift des § 114 Abs. 2 Satz 3 StVollzG nicht zur Anwendung (vgl. auch OLG Hamm ZfStrVo 1987, 378; OLG Karlsruhe NStZ 1993, 557).
2. Die Rechtsbeschwerde hatte in der Sache keinen Erfolg. Die angefochtene Entscheidung ist frei von Rechtsfehlern.
Die Kammer ist zutreffend davon ausgegangen, dass eine Anwendung von § 43 Abs. 10 Nr. 4 StVollzG auf den vorliegenden Fall nicht in Betracht kam.
a. Nach dem Wortlaut des § 43 Abs. 10 Nr. 4 StVollzG scheint zwar generell eine Anrechnung von nach § 43 Abs. 1 StVollzG erworbenen Freistellungstagen gemäß § 43 Abs. 9 StVollzG ausgeschlossen, wenn wegen einer der in § 456a StPO genannten Maßnahmen von der Vollstreckung abgesehen wird. Allein mit dem Wortlaut lässt sich aber die Auffassung der Antragsgegnerin nicht stützen. Denn dass überhaupt noch nach § 456a StPO wirksam von der Vollstreckung abgesehen werden kann, setzt begrifflich voraus, dass die Vollstreckung zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch stattfindet. Dies könnte wegen § 43 Abs. 9 StVollzG vorliegend gerade ausgeschlossen sein.
b. Der Senat hält § 43 Abs. 10 Nr. 4 StVollzG in der vorliegenden Konstellation aufgrund des Sinnes und Zwecks des § 456a StPO für nicht anwendbar. Nach einhelliger Meinung soll § 456a StPO dazu dienen, die Justizvollzugsanstalten von der Vollstreckung von Haftstrafen gegen Ausländer zu befreien, die unter dem Gesichtspunkt der erwünschten Resozialisierung sinnlos ist und die Haftanstalten auf diesem Weg von zusätzlichen Kosten zu entlasten (vgl. OLG Frankfurt/Main, NStZRR 99, 127; OLG Hamm NStZ 83, 524). § 456a StPO soll hingegen nicht dazu dienen, die Rechtsposition des Strafgefangenen zu verschlechtern. So ist auch das Absehen von der weiteren Vollstreckung vom Verurteilten nicht anfechtbar (vgl. MeyerGoßner, § 456a StPO, Rn. 9). Zu einer solchen Verschlechterung käme es aber, wenn aufgrund der Anordnung durch die Staatsanwaltschaft auf das Strafzeitende anzurechnende Freistellungstage keine Berücksichtigung mehr finden könnten. § 456a StPO hat darüber hinaus auch nicht den Zweck, dafür Sorge zu tragen, dass verurteilte Personen, die in das Ausland abgeschoben oder ausgeliefert werden sollen, nicht nach Entlassung aus der Haft vor ihrer Abschiebung oder Auslieferung untertauchen. Hierfür sieht der Gesetzgeber mit der Möglichkeit eines Abschiebungshaftbefehls nach § 62 AufenthG ein anderweitiges Instrumentarium vor. Strafhaft darf nicht in unzulässiger Weise zur Abschiebehaft umfunktioniert werden (BVerfG StV 2003, 677, 678 [BVerfG 11.06.2002 - 2 BvR 461/02]).
c. Für dieses Ergebnis sprechen auch die von der Kammer zutreffend angeführten systematischen Erwägungen. Die ansonsten in § 43 Abs. 10 StVollzG aufgeführten Umstände, die zu einer Versagung der Anrechnung von Freistellungstagen führen, beziehen sich ausschließlich auf Fälle, in denen aus nachvollziehbaren praktischen Gründen eine Vorverlegung des Entlassungszeitpunktes nicht möglich ist (Nrn. 13) bzw. aufgrund einer Strafverkürzung die Gefangenen bereits derartig begünstigt werden, dass sie weitere Vorteile nicht erlangen sollen (Nr. 5). Es erschiene systemwidrig, wenn § 43 Abs. 10 Nr. 4 StVollzG die einzige Konstellation betreffen sollte, bei der sich eine Anwendung für einen Gefangenen nachteiliger auswirken würde, als wenn er seine Strafe vollständig (und dann mit der Möglichkeit der Anrechnung) verbüßen würde. Soweit die Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang auf die Regelung in § 43 Abs. 11 StVollzG hinweist, ist zu bemerken, dass die Neuregelung des § 43 StVollzG vom Bundesverfassungsgericht als "gerade noch" verfassungsgemäß angesehen worden ist (StV 02, 375 ff). Nur durch die Schaffung sogenannter nichtmonetärer Anreize lassen sich die für Arbeit zu erzielenden Gefangenenlöhne in verfassungsrechtlich (noch) nicht zu beanstandender Weise rechtfertigen. Angesichts der Schwere des Grundrechtseingriffs, den der Vollzug einer Freiheitsstrafe für den Gefangenen bedeutet, stellt die Möglichkeit der Wiedererlangung der Freiheit einen nachhaltigen Vorteil dar, der geeignet ist, den Gefangenen zu regelmäßiger Arbeit zu motivieren. Dieser Vorteil muss auch denjenigen Gefangenen zugute kommen, die die Voraussetzungen für die Gewährung von Urlaub nicht erfüllen. Mit der von der Antragsgegnerin vertretenen Rechtsansicht, wonach sich der Antragsteller auf eine Entschädigung in Geld verweisen lassen müsste ist zweifelhaft, ob den verfassungsrechtlichen Anforderungen damit noch Genüge getan wäre.
d. Nach diesem Verständnis kann § 43 Abs. 10 Nr. 4 StVollzG nur dann Anwendung finden, wenn bis zum Abschiebungstermin auch unter Berücksichtigung der Freistellungstage noch keine Vollverbüßung eingetreten ist. Die Verfügung der Staatsanwaltschaft, die den Abschiebungszeitpunkt auf den 14.03.2007 bestimmt, konnte somit keine Wirkung mehr entfalten, da der geplante Abschiebungszeitpunkt bereits nach dem maßgeblichen Entlassungszeitpunkt gelegen hat. Unter Anwendung der Anrechnungsregel war die Freiheitsstrafe bereits vollständig vollstreckt (vgl. KG NStZ 04, 228).
3. Der Streitwertfestsetzung richtet sich nach §§ 1 Nr. 1j, 63 Abs. 3, 65 GKG.