Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 09.02.2005, Az.: 1 Ss (S) 5/05 (9)
Erfordernis der Anwesenheit eines Verteidigers in einem beschleunigten Verfahren bei zu erwartener Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 09.02.2005
- Aktenzeichen
- 1 Ss (S) 5/05 (9)
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 34379
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:2005:0209.1SS.S5.05.9.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- AG Braunschweig - 07.10.2004 - AZ: 54 Ds 553 Js 46457/04
Rechtsgrundlagen
- § 338 Nr. 5 StPO
- § 418 Abs. 4 StPO
Fundstelle
- StV 2005, 493-494 (Volltext mit amtl. LS)
In der Strafsache
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig
am 09. Februar 2005
gemäß § 349 Abs.4 StPO
beschlossen:
Tenor:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Braunschweig vom 07. Oktober 2004 - soweit es diesen Angeklagten betrifft - mit den zu Grunde liegenden Feststellungen aufgehoben und wird die Sache insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Braunschweig zurückverwiesen.
Gründe
I.
Die Staatsanwaltschaft Braunschweig hat dem Angeklagten und drei weiteren Beschuldigten vorgeworfen, in Braunschweig am 06.09.2004 gemeinschaftlich im Warenhaus an der Schuhstraße Kosmetikartikel gestohlen zu haben. Wegen der einfachen Beweislage und wegen der Untersuchungshaft von zwei der Beschuldigten hat sie Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren beim Amtsgericht Braunschweig beantragt, und zwar beim Jugendrichter, weil der ebenfalls beschuldigte Bruder Dawid des Angeklagten zur Tatzeit Heranwachsender war. Der Jugendrichter ist dem Antrag der Staatsanwaltschaft gefolgt und hat umgehend Termin auf den 07.10.2004 festgesetzt. In der Hauptverhandlung hat es den Angeklagten in Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Ein Verteidiger hat nicht für den Angeklagten an der Hauptverhandlung teilgenommen.
Gegen das Urteil des Jugendrichters vom 07.10.2004 hat der Angeklagte durch am 14.10.2004 eingegangenen Schriftsatz seines nunmehrigen Verteidigers ein Rechtsmittel eingelegt, welches er durch Schriftsatz des Verteidigers vom 27.10.2004 als Revision bezeichnet hat. Eine wirksame Zustellung des Urteils an den Verteidiger ist erst am 29.12.2004 bewirkt worden. Die Revisionsbegründung war schon am 25.11.2004 eingegangen. Der Angeklagte erhebt die allgemeine Sachrüge und die Verfahrensrüge der Verletzung des § 338 Nr.5 StPO und weist zur Begründung darauf hin, dass die Verhandlung gegen den Angeklagten nicht ohne Beiordnung eines Verteidigers hätte durchgeführt werden dürfen.
Der Angeklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen.
Die Generalstaatsanwaltschaft unterstützt diesen Antrag.
II.
Die Revision ist zulässig und sie ist begründet, weil die in zulässiger Form (vgl. § 344 Abs.2 S.2 StPO) erhobene Verfahrensrüge durchgreift.
Es liegt der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr.5 StPO vor, weil die Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren in Abwesenheit einer Person stattgefunden hat, deren Anwesenheit das Gesetz zwingend vorschreibt.
Für das beschleunigte Verfahren vor dem Amtsgericht ist die Mitwirkung eines Verteidigers vorgeschrieben, wenn eine Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten zu erwarten ist (§ 418 Abs.4 StPO). Wann eine solche Strafe zu erwarten ist, beurteilt das Gericht auf Grund einer überschlägigen Prognoseentscheidung anhand der allgemeinen Strafzumessungsgründe. Dabei kommt es nicht auf den Zeitpunkt des Antrags der Staatsanwaltschaft auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens oder auf der Zeitpunkt der Terminsanberaumung an; vielmehr muss diese Prognose während des gesamten Verfahrens fortlaufend gestellt werden, also insbesondere auch während der laufenden Verhandlung (OLG Karlsruhe StV 1999, 364 f; BayObLG StV 1998, 367 f; Gössel, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl., § 418 Rdnr.45; Tolkdsdorff, in: Karlsruher Kommentar, StPO, § 418 Rdnr.11).
Hiernach liegt eine Verteidigerbestellung nach § 418 Abs.4 StPO schon dann nahe, wenn - wie im vorliegenden Falle - der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft die Verhängung einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten in seinem Plädoyer beantragt. Ein Verteidiger ist aber spätestens dann zu bestellen, wenn sich (erst) nach dem letzten Wort des Angeklagten in der Urteilsberatung herausstellt, dass eine Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verhängt werden soll. In solch einem Falle hat das Amtsgericht die Hauptverhandlung noch vor Verkündung des Urteils zu unterbrechen, dem Angeklagten einen Verteidiger zu bestellen und die Hauptverhandlung in ihren wesentlichen Teilen zu wiederholen, und zwar entweder sofort, oder innerhalb weniger Tage, soweit das Verfahren sich nunmehr überhaupt noch zur Erledigung nach den §§ 417 ff StPO eignet (OLG Karlsruhe, BayObLG, Gössel und Tolksdorff, jeweils a.a.O.).
Hiernach war das angefochtene Urteil auf die statthafte Sprungrevision des Angeklagten hin nach § 353 StPO aufzuheben und war die Sache nach § 354 Abs.2 StPO an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Braunschweig zurückzuverweisen.
III.
Eine Kostenentscheidung ist zurzeit nicht veranlasst, da der endgültige Erfolg des Rechtsmittels noch nicht abzusehen ist.