Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 21.02.2013, Az.: 7 A 57/11

Dublin II-VO; Rückführung nach Italien

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
21.02.2013
Aktenzeichen
7 A 57/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2013, 64336
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Der Bescheid vom 09.03.2011 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet für den Kläger ein Asylverfahren durchzuführen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des festzusetzenden Kostenerstattungsbetrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

Der am B. geborene Kläger ist sudanesischer Staatsangehöriger. Er reiste am 01.06.2008 zunächst aus seinem Heimatland nach Libyen. Zwei Monate später setzte er die Reise dann per Schiff in die Türkei fort, von wo aus er sich zu Fuß nach Griechenland begab. Von Griechenland wurde er zunächst zurück in die Türkei zurück geschoben, um dann erneut nach Griechenland einzureisen. Am 30.12.2009 wurde er von der Polizei in Griechenland erkennungsdienstlich behandelt. Im März 2010 fuhr er mit einem Lkw von Griechenland nach Italien, wo er am 20.04.2010 einen Asylantrag stellte. Im November 2010 begab er sich sodann mit dem Zug zunächst von Italien nach Frankreich, wo er sich eine Woche aufhielt und dann nach Trier in die Bundesrepublik Deutschland einreiste.

Unter dem 10.02.2011 erklärte Italien seine Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrages des Klägers. Mit Bescheid vom 09.03.2011 stellte die Beklagte fest, dass der am 25.11.2010 in Deutschland gestellte Asylantrag unzulässig ist und ordnete die Abschiebung des Klägers nach Italien an.

Der Kläger hat daraufhin am 18.03.2011 Klage erhoben und einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt, dem das Gericht im Verfahren 7 B 58/11 stattgegeben hat.

Zur Begründung hat er vorgetragen, dass er bei einer Überstellung nach Italien nicht den Schutz erlangen würde, der nach den europaweit vereinbarten Mindeststandards zu gewähren sei. Er verweist auf die dazu ergangene untergerichtliche Rechtsprechung und die eingeholten Gutachten. In der mündlichen Verhandlung vom 21.02.2013 ist der Kläger informatorisch angehört worden. Er hat angegeben, er habe sich die ersten drei Monate seines Aufenthalts in Italien auf Sizilien in Catania im Lager Catania 6 aufgehalten. Dort habe er in einem Container auf dem Boden schlafen müssen. Es habe keine Decken und keine Heizung gegeben. Er habe nur einmal am Tag etwas zu essen bekommen. Auch medizinische Hilfe habe er nicht erhalten, obwohl er eine Nierenentzündung gehabt habe. Es habe nur zehn Toiletten für 500 Personen gegeben. Es habe auch keine Möglichkeiten gegeben Leistungen oder Hilfen einzufordern.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 09.03.2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten für ihn ein Asylverfahren in Deutschland durchzuführen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist im Wesentlichen ebenfalls auf die untergerichtliche Rechtsprechung insoweit als darin eine Abschiebung nach Italien auch angesichts der dortigen Zustände für zulässig gehalten wird.

Das Gericht hat Beweis darüber erhoben, ob der Kläger bei seiner Rücküberstellung nach Italien Zugang zu medizinischer Versorgung, Unterkunft und Verpflegung hätte, ob dies auch gewährleistet wäre, wenn das Asylverfahren des Klägers in Italien nach sechs Monaten nicht abgeschlossen wäre, darüber, wie viele Asylverfahren in Italien nach sechs Monaten nicht abgeschlossen sind und ob der Kläger nach einer Rücküberstellung nach Italien eine Weiterschiebung nach Griechenland zu befürchten hätte.  Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten des UNHCR vom 24.04.2012 und die Antwort des Auswärtigen Amtes vom 09.12.2011 verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Verwaltungsvorgang der Beklagten und die Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig. Das Gericht geht davon aus, dass die Entscheidung über die Nichtausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Artikel 3 Abs. 2 Dublin II-VO gegenüber dem Kläger Regelungswirkung entfaltet und ein entsprechender Anspruch isoliert mit dem Ziel die Beklagte zu verpflichten in Deutschland ein Asylverfahren durchzuführen angefochten werden kann (VG Sigmaringen, Urt. v. 26.10.2009 - A 1 K 1757/09 -, juris; für isolierte Anfechtung im Wege der Anfechtungsklage VG Frankfurt/Oder, Urt. v. 28.11.2012 - 3 K 525/11.A -, juris; VG Augsburg, Urt. v. 25.09.2012 - Au 6 K 12.30155 -, juris; VG Hamburg, Urt. v. 15.03.2012 - 10 A 227/11 -, juris; für „Durchentscheiden“ in der Sache: VGH Baden-Württemberg, Urt. 19.06.2012 - A 2 S 1355/11 -, juris).

Die Klage ist auch begründet. Das Bundesamt hat zu Unrecht festgestellt, dass der Asylantrag des Klägers unzulässig ist. Der Bescheid verstößt gegen Artikel 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO. Danach kann jeder Mitgliedsstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien dafür nicht zuständig ist. Durch die Ausübung dieses so genannten Selbsteintrittsrechts wird der Mitgliedsstaat gemäß Artikel 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin II-VO zum zuständigen Mitgliedsstaat im Sinne dieser Verordnung. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshof vom 21.12.2011 (- C-411/10 und C-493/10 -, juris) steht fest, dass ein Mitgliedsstaat das ihm bei der Ausübung des Selbsteintrittsrechts belassene Ermessen nicht ohne Rücksicht auf die sonstigen Vorschriften ausüben darf, die das im EU-Vertrag vorgesehene und vom Unionsgesetzgeber ausgearbeitete „gemeinsame europäische Asylsystem“ bilden, zu denen auch die Beachtung der (europäischen) Grundrechte, einschließlich der Rechte gehören, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und im Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31.01.1967 sowie in der europäischen Menschenrechtskonvention finden. Grundlage dieses Asylsystems ist die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedsstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der europäischen Union sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der europäischen Menschenrechtskonvention steht. Diese Vermutung kann widerlegt werden. Sie ist zum Schutz der Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems nicht bereits durch einzelne einschlägige Regelverstöße des zuständigen Mitgliedsstaats, sondern nur dann widerlegt, wenn nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für die Asylbewerber in diesem Mitgliedsstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden. Der Mitgliedsstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, ist in einem solchen Fall verpflichtet, den Asylantrag selbst zu prüfen, sofern nicht ein anderer Mitgliedsstaat als solches für die Prüfung des Asylantrages zuständig bestimmt werden kann.

Die bestehende Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in Italien im Einklang mit diesen Erfordernissen steht, ist nach den für die Entscheidung maßgeblichen gegenwärtigen Umständen (§ 77 Abs. 2 AsylVfG) widerlegt. Sowohl den Darstellungen des Klägers als auch den vom Gericht eingeholten Gutachten sowie den sonst vorliegenden Erkenntnismitteln ist zu entnehmen, dass der Kläger bei einer Rücküberstellung nach Italien ernsthaft befürchten müsste wegen der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien und der dort herrschenden schwerwiegenden systemischen Mängel eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren (ebenso VG Augsburg, Urt. v. 25.09.2012, a.a.O.; VG Gießen, Beschl. v. 10.03.2011 - 1 L 468/11.GI.A -, juris; VG Freiburg, Beschl. v. 24.01.2011 - A 1 K 117/11 -, juris; VG Meiningen, Beschl. v. 24.02.2011 - 2 E 20040/11 Me - juris; VG Stuttgart, Beschl. v. 08.01.2013 - A 7 K 3929/12; wohl ebenfalls für vorläufigen Überstellungsstop der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, vgl. asyl.net vom 25.02.2013 „EGMR stoppt Überstellung nach Italien“).

Das Gericht geht zunächst davon aus, dass seit dem Bericht von Maria Bethke und Dominik Bender (herausgegeben von Pro Asyl, Zur Situation von Flüchtlingen in Italien, Februar 2011), der auf einer Recherchereise im Oktober 2010 nach Rom und Turin beruht, sowie der von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und der Norwegischen Hilfsorganisation Juss-Buss im Mai 2011 herausgegebene Bericht (Asylverfahren und Aufnahmebedingungen in Italien - Bericht über die Situation von Asylsuchenden, Flüchtlingen und subsidiär oder humanitär aufgenommenen Personen, mit speziellem Fokus auf Dublin Rückkehrende) davon auszugehen ist, dass bereits vor Beginn der Unruhen in der arabischen Welt im Jahr 2011 in vielen Bereichen die von der Richtlinie 2003/09/EG (Amtsblatt Nr. L 31 S. 18) zum Flüchtlingsschutz gewährleisteten materiellen Aufnahmebedingungen für Asylbewerber nicht umgesetzt wurden (vgl. dazu VG Freiburg, Beschl. v. 02.02.2012 - A 4 K 2203/11 -, juris). Die Berichte haben auf systemische Obdachlosigkeit und fehlende existenzielle Versorgung der großen Mehrheit der Asylsuchenden hingewiesen. In der Zeit zwischen dem ersten Kontakt mit italienischen Behörden und der formellen Registrierung ihres Asylgesuchs (Verbalizzazione) durch die personell nicht ausreichend ausgestatteten Questura (Polizeipräsidien), ein Zeitraum, der einige Monate dauern könne, hätten Asylsuchende überhaupt keinen Zugang zu Unterkünften und lebten meist auf der Straße. Asylsuchende müssten nicht nur nach einem erstinstanzlichen Bescheid, sondern nach längstens sechs Monaten, auch wenn ihr Asylverfahren noch nicht abgeschlossen sei, die sogenannten CARA (Centri di Accoglienza per Richiedenti Asilo) verlassen. Das staatliche Aufnahmesystem SPRAR (Sistema di Protezione per Richiedenti Asilo e Rifugiati) sei mit nur gut 3000 Plätzen völlig überlastet. Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit in Italien hätten Asylsuchende auch keine Möglichkeit für ihren Lebensunterhalt durch Arbeitstätigkeit zu sorgen. Sie würden meist obdachlos und lebten unter freiem Himmel oder in besetzten Häusern (vgl. dazu: Der Tagesspiegel v. 09.02.2013 „Gefangene der Freiheit‘“).

Soweit Auskünften zu entnehmen ist, dass der italienische Staat auf diese Entwicklungen reagiert habe (Auswärtiges Amt vom 09.12.2011 an das erkennende Gericht) wird in dieser Auskunft zunächst festgestellt, dass das italienische Asylsystem tatsächlich „vorübergehend unter Druck geraten“ war. Die Situation habe sich jedoch mit nachlassendem Zustrom und der verbesserten Koordinierung der Unterbringung wieder reguliert. Diese nicht belegte Aussage ist jedoch wie die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Freiburg vom 11.07.2012 nicht mit den dem Gericht sonst vorliegenden Auskünften in Einklang zu bringen. Zwar verweist auch UNHCR in der an das erkennende Gericht gerichteten Auskunft vom 24.04.2012 zunächst darauf, dass das italienische Asylsystem um einen Notfallaufnahmeplan ergänzt wurde, um auf die Migrationsbewegungen aus Nordafrika seit Januar 2011 zu reagieren. UNHCR stellt in der genannten Auskunft allerdings auch fest, dass es in einer Reihe von regionalen Polizeidirektionen zu Schwierigkeiten bei der formalen Registrierung von Asylanträgen gekommen sei, in anderen Fällen hätten Polizeidirektionen erst mehrere Monate, nachdem ein Asylgesuch geäußert worden sei, einen Termin für die formale Antragstellung angesetzt, so dass der Zugang zu Rechten, die an der formalen Antragstellung anknüpften, nicht gewährleistet gewesen sei. Es könne lediglich grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass Ernährung und medizinische Versorgung von Asylsuchenden in Italien sichergestellt sei, wenn ein formaler Antrag gestellt worden und die Verfahrensdauer von sechs Monaten nicht überschritten sei. Es sei aber gerade davon auszugehen, dass die überwiegende Anzahl von Verfahren nicht innerhalb von sechs Monaten abgeschlossen werden könne. Damit steht zur Überzeugung des erkennenden Gerichts fest, dass jedenfalls nach Ablauf von sechs Monaten eine Versorgung von Asylsuchenden nicht mehr gewährleistet ist und diese Situation in der überwiegenden Zahl der Fälle eintreten wird. Diese Einschätzung wird bestätigt durch das Gutachten von Borderline-Europe e.V., Judith Gleitze vom Dezember 2012 an das VG Braunschweig im Verfahren 2 A 126/11. Darin wird (Seite 22) festgestellt, dass Asylsuchende und Schutzberechtigte, die nicht mehr in einer staatlichen Unterkunft lebten, keinen Anspruch auf Unterkunft, Nahrung, Kleidung, Taschengeld und sonstige Leistungen hätten. Wer schon einmal in einem CARA oder SPRAR untergebracht gewesen sei, habe kein Anrecht mehr auf einen staatlichen Unterbringungsplatz (Seite 47). Zwar hätten Asylsuchende nach sechs Monaten freien Zugang zum Arbeitsmarkt, die Vorstellung, sie könnten ihren Lebensunterhalt einschließlich Wohnraum selbst finanzieren, gehe angesichts fehlender Sprachkenntnisse, ohne Wohnsitz und soziales Netz völlig fehl (Seite 49).

Spätestens seitdem das Gutachten von Borderline-Europe e.V., Judith Gleitze vom Dezember 2012 an das VG Braunschweig vorliegt, ist zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung davon auszugehen, dass das italienische Asylsystem nicht (mehr) den oben genannten Erfordernissen genügt.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylVfG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 167 Abs. 1 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.