Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 28.04.2022, Az.: L 12 P 34/20

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
28.04.2022
Aktenzeichen
L 12 P 34/20
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 57311
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2022:0428.12P34.20.00

Verfahrensgang

vorgehend
SG Bremen - 29.05.2020 - AZ: S 25 P 12/15

In dem Rechtsstreit
B.
- Klägerin und Berufungsklägerin -
Prozessbevollmächtigter:
C.
gegen
D.
- Beklagte und Berufungsbeklagte -
hat der 12. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen auf die mündliche Verhandlung vom 30.3.2022 in Bremen durch den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht E. sowie die ehrenamtliche Richterin F. und den ehrenamtlichen Richter G.
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bremen vom 29.5.2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung nach dem Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) streitig.

Die 1944 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich pflegeversichert. Sie leidet unter einem degenerativen Wirbelsäulenleiden und einem Aortenaneurysma. Mit ihrem am 6.8.2013 bei der Beklagten eingegangenen Antrag auf Leistungen der Pflegeversicherung in Form der Geldleistung machte sie insbesondere einen Hilfebedarf bei der Zubereitung der Nahrung, dem Waschen, Duschen, der Zahn- und Mundpflege sowie dem Wechsel und dem Waschen der Kleidung geltend.

Auf Veranlassung der Beklagten erstellte der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) sein Gutachten vom 26.8.2013. Während der Begutachtung in der häuslichen Umgebung der Klägerin am 21.8.2013 gab der Sohn der Klägerin als deren Pflegeperson an, dass die Klägerin seit ungefähr vier Monaten unter Schmerzen im Rücken und im Brust-Rippenbereich leide. Bei einer Röntgenuntersuchung seien Verkalkungen an der Hals- und Brustwirbelsäule festgestellt worden, sowie eine Aortaerweiterung. Anschließend sei eine Computertomographie (CT) erfolgt, bei dem festgestellt worden sei, dass sich die Aorta erweitert habe. Eine Operation sei für den 4.9.2013 geplant. Der Klägerin sei geraten worden, sich in dieser Zeit zu schonen. Deshalb benötige sie Hilfe bei der Ganzkörperpflege und dem Bekleiden. Zudem leide sie an einem medikamentös behandelten hohen Blutdruck. Die Blutdruckwerte müssten wegen der Risiken bei dem Aortenaneurysma regelmäßig durch den Sohn kontrolliert werden. Deshalb solle die Klägerin auch körperliche Anstrengung meiden. Beim Aufstehen und Hinlegen, sowie dem Duschtransfer benötige sie Hilfe. Sie leide zudem seit ca. vier Monaten an einer Tröpfcheninkontinenz. Sie benötige Vorlagen und regelmäßige Toilettengänge, die sie selbstständig durchführe. Die Pflegeperson habe zudem festgestellt, dass die Klägerin immer vergesslicher werde.

Im Rahmen des gutachterlichen Befundes stellte die MDK-Gutachterin fest, dass die Klägerin den Nackengriff ausführen könne. Der Schürzengriff gelinge verlangsamt vollständig. Die Drehung des Oberkörpers und des Kopfes gelinge langsam ohne Einschränkung. Die ausgestreckte Haltung der Arme werde demonstriert. Dabei werde die Finger-/Daumenkorrespondenz vollständig durchgeführt, jedoch verlangsamt, nach Vormachen der Gutachterin. Die Feinmotorik sei erhalten. Der Faustschluss sei komplett, der Händedruck normal. Die Greiffunktion und Koordination sei erhalten. Ein Glas werde vom Tisch genommen, zum Mund geführt und einige Schlucke könnten ohne Probleme getrunken werden. Die Hand-Mund-Koordination gelinge ohne Probleme. Der Finger-/Zehen-Griff werde im Sitzen bis zu den Knien vorgeführt, aufgrund der Aortaerweiterung solle sie sich nicht nach vorne beugen. Das Drehen im Bett erfolge selbstständig. Das Aufrichten aus dem Liegen, dass Aufstehen und das Hinlegen gelinge mit Festhalten am Bett und Unterstützung des Sohnes. Freies Sitzen sei möglich. Das Aufstehen vom Sofa werde mit Abstürzen an der Sofalehne sicher vorgeführt. Das Stehen werde frei demonstriert. Gehen sei selbstständig möglich, das Gangbild sei verlangsamt, kleinschrittig, der Oberkörper aufrecht. Stürze seien nicht angegeben worden. Stufen könnten nicht bewältigt werden. In Bezug auf die bestehenden Einschränkungen im Stütz- und Bewegungsapparat und die bestehenden Ressourcen bestehe ein Hilfebedarf in Form der Unterstützung und Teilübernahme bei der Körperpflege und dem Bekleiden. Das Kämmen der Haare müsse unterstützt und teilweise übernommen werden. Aufstehen und Hinlegen müsse unterstützt werden. Das Stehen und Gehen sei mit Festhalten am Mobiliar selbstständig möglich. Beim Duschtransfer benötige die Klägerin Unterstützung und Teilübernahme. Die Toilettengänge, das Richten der Kleidung danach sowie den Vorlagenwechsel führe die Klägerin selbstständig durch. Die mundgerechte Zubereitung der Mahlzeiten und Getränke, sowie deren Aufnahme könnten selbstständig durchgeführt werden.

Aus den Schädigungen/Beeinträchtigungen der inneren Organe und der Sinnesorgane leitete die Gutachterin keinen Hilfebedarf ab. Für den Bereich Nervensystem/Psyche stellte sie fest, dass die Kontaktaufnahme freundlich erfolgt sei. Der Gesprächsverlauf sei aufmerksam und geordnet gewesen. Aufforderungen zu Funktionsprüfungen hätten spontan umgesetzt werden können, die Ausführung sei etwas verlangsamt erfolgt. Die zeitliche Orientierung sei auffällig, aktuelle Daten hätten nicht korrekt angegeben werden können. Der Wochentag sei nicht korrekt benannt worden. Die Jahreszeit sei bekannt, die örtliche Orientierung gegeben. Angaben zum aktuellen Aufenthaltsort seien mit der kompletten Adressangabe nach Unterstützung des Sohnes gelungen. Die Räumlichkeiten in der Wohnung seien während der Begutachtung sicher gefunden worden. Die persönliche Orientierung sei mit Angaben zum Vor- und Nachnamen gegeben, Geburtsdaten seien korrekt benannt worden, das Alter nicht. Die Namen der Angehörigen seien bekannt. Lebensgeschichtliche Zusammenhänge seien erinnerlich. Das Langzeitgedächtnis sei unauffällig. Der Krankheitsverlauf werde nicht sinnvoll geschildert. Gedächtnisstörungen seien aufgefallen. Die Mittagsmahlzeit vom Vortag sei nicht erinnerlich. Das Kurzzeitgedächtnis sei auffällig, aber ohne Auswirkungen auf Pflegeverrichtungen. Rituale Abläufe bezüglich der Pflegeverrichtungen würden regelmäßig bedacht. Es bestehe ein ausreichendes Einschätzungsvermögen der eigenen Fähigkeiten. Eine Kooperationsbereitschaft sei vorhanden. Fehlhandlungen seien nicht auffällig und auch nicht angegeben worden. Bedürfnisse würden geäußert. Die Wahrnehmung über Ausscheidungen mit geregelten Toilettengängen sei vorhanden. Hunger werde wahrgenommen. Das Essen werde regelmäßig bedacht. Das Durstempfinden sei reduziert, diesbezüglich müssten Impulsgaben erfolgen. Die Stimmung sei während des Besuches ausgeglichen. Das Interesse und der Antrieb seien auffällig. Die Klägerin liege viel im Bett oder auf dem Sofa und gucke Fernsehen. Ihr fehle der Antrieb, um sich selbst zu beschäftigen. Vor einigen Monaten sei sie noch regelmäßig zu Frauentreffen gegangen, dies wolle sie nun nicht mehr. Die Nacht werde nach Angaben ruhig verbracht. Aus den bestehenden Einschränkungen und Ressourcen im Bereich des Nervensystems/der Psyche leitete die Gutachterin keinen Hilfebedarf in der Grundpflege ab. Im Rahmen der Durchführung des Screenings und Assessments zur Feststellung von Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz bewertete die Gutachterin die Bereiche Orientierung, Antrieb/Beschäftigung, Gedächtnis und Wahrnehmen der sozialen Lebensbereiche als auffällig. Es liege eine demenzbedingte Fähigkeitsstörung, geistige Behinderung oder psychische Erkrankung vor. Es bestehe regelmäßig und auf Dauer ein Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf. Insoweit stellte die Gutachterin (nur) die Unfähigkeit der Klägerin fest, eigenständig den Tagesablauf zu planen und zu strukturieren. Im Ergebnis sei die Alltagskompetenz im Sinne der Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach SGB XI nicht erheblich eingeschränkt, da die gesetzlichen Kriterien nicht erfüllt sein. Den täglichen Hilfebedarf für die Grundpflege schätzte die Gutachterin auf 25 Minuten täglich ein, wobei sie für die Körperpflege 16 Minuten und für die Mobilität 9 Minuten täglich. Damit seien die Kriterien einer Pflegebedürftigkeit im Sinne des SGB XI nicht erfüllt.

Gestützt auf dieses Begutachtungsergebnis lehnte die Beklagte den Antrag auf Leistungen der Pflegeversicherung mit Bescheid vom 28.8.2013 ab. Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin am 13.9.2013 Widerspruch ein. Zur Begründung führte ihr Prozessbevollmächtigter aus, dass sich bei der Operation am 5.9.2013 herausgestellt habe, dass noch ein weiteres Aneurysma existiere, welches auch baldmöglichst operiert werden solle. Nach Auskunft des Hausarztes befinde sich die Klägerin spätestens durch die jüngsten Vorfälle in einem so schlechten psychischen und physischen Zustand, dass eine Pflegebedürftigkeit gegeben sei.

Auf Veranlassung der Beklagten erstellte der MDK sodann unter dem 28.1.2014 ein weiteres Gutachten. Die Gutachterin gelangte nach Untersuchung der Klägerin in deren häuslichen Umgebung zu der Einschätzung, dass auch bei erneuter Prüfung der Hilfebedarf bestehe unterhalb der Pflegestufe I liege. Die Angaben im Vorgutachten seien plausibel und nachvollbeziehbar. Schmerzhafte Bewegungseinschränkungen in den oberen Extremitäten, des Schulter-/Nacken-Gürtels sowie des Rückens seien schon im Vorgutachten benannt und gewürdigt worden. Die Angabe der erheblichen Verschlechterung sei nicht objektivierbar, die Schmerzmittelbehandlung unverändert. Eine aktuell im Rahmen der Funktionsüberprüfungen ermittelte, deutliche Schwäche der Hände sowie erhebliche Einschränkungen der Feinmotorik seien im Rahmen des Vorgutachtens nicht festgestellt worden. Genauere Angaben zu der Entwicklung dieser Einschränkungen hätten von der Versicherten/dem Sohn im Rahmen der Begutachtung nicht gemacht werden können. Aufgrund der Richtlinien, die bei zu berücksichtigenden Funktionseinschränkungen das regelmäßige und dauerhafte Auftreten voraussetzen, können diese nunmehr nicht mehr berücksichtigt werden. Eine zunehmende Vergesslichkeit habe im Vergleich zum Vorgutachten nicht ermittelt werden können. Im Rahmen eines Telefonats mit dem Hausarzt seien die bereits aus dem Vorgutachten bekannten degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule sowie die Verdachtsdiagnose einer Depression benannt worden, die beschriebenen Einschränkungen der Hände/Finger seien ihm gegenüber bisher nicht benannt worden. Die Information sei zur Kenntnis genommen worden, die Klägerin werde zum Neurochirurgen sowie zum Facharzt für Psychiatrie/Neurologie überwiesen. Zudem bleibe nach Prüfung der Angaben im Widerspruchsschreiben festzustellen, dass aufgrund des dort benannten psychisch und physisch verschlechterten Zustandes der Klägerin derzeit kein regelmäßig und dauerhafter Hilfebedarf bei den unter § 14 SGB XI genannten Verrichtungen bestehe. Die Gutachterin schätzte den täglichen Hilfebedarf für die Grundpflege auf 31 Minuten täglich, wobei sie für den Bereich der Körperpflege 18 Minuten, den Bereich der Ernährung 2 Minuten und für den Bereich Mobilität 11 Minuten ansetzte. Mit Widerspruchsbescheid vom 29.1.2015 wies die Beklagte daraufhin den Widerspruch als unbegründet zurück.

Die Klägerin hat am 28.2.2015 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Bremen erhoben. Zur Begründung hat sie vorgetragen, dass der tatsächliche Bedarf bzw. Zeitaufwand für ihre Pflege wesentlich höher seien, als vom MDK festgestellt. So bestehe der Zeitaufwand bei der Körperpflege, Ernährung und Mobilität bei mindestens 46 Minuten am Tag, womit die Voraussetzungen für die begehrte Leistung gegeben seien. Zwar werde durch den MDK die Notwendigkeit einer Ganzkörperwäsche gesehen, Es werde aber nicht berücksichtigt, dass sich die Klägerin gegen die Wäsche wehre und sich aggressiv verhalte. Im Gutachten werde nicht berücksichtigt, dass zusätzlich zu der Ganzkörperwäsche das tägliche Waschen des Oberkörpers erforderlich sei. Bedingt durch eine Operationsnarbe an der Brust verspüre die Klägerin ein ständiges Jucken. Sie reiße deshalb an Ihrer Kleidung, sodass diese ständig zu richten sei bzw. die Klägerin neu angezogen werden müsse. Die Klägerin habe starken Bartwuchs und müsse deshalb täglich rasiert werden. Zudem benötige sie mehrmals am Tag Unterstützung beim Wasserlassen, dem Stuhlgang und der Intimpflege. Ferner mache sie täglich einen Mittagsschlaf, sodass sie zusätzlich täglich beim Aufstehen sowie beim Be- und Entkleiden zu unterstützen sei. Bedingt durch starkes Schwitzen müsse sie zusätzlich jede Nacht gewaschen und erneut aus- und angezogen werden. Bedingt durch ihre Inkontinenz müsse sie täglich mehrmals auch "unten" entkleidet und gewaschen werden. Im Übrigen berücksichtige der MDK nicht, dass sie nach jedem Essen und jedem Toilettengang die Hände gewaschen werden müssten. Der MDK berücksichtige zudem nur zweimaliges Baden in der Woche. Tatsächlich werde die Klägerin u.a. wegen ihrer Inkontinenz öfter in der Woche gebadet, wobei dies jeweils mindestens 22 Minuten dauere. Im Gutachten sei nur eine wöchentliche Haarwäsche angesetzt. Erforderlich seien aber mindestens zwei wöchentliche Haarwäschen. Ferner sei das zeitaufwendige Föhnen bzw. Trocknen der Haare zu berücksichtigen. Der zeitliche Aufwand für die tägliche Ernährung, wie auch bei der Körperpflege sei im Gutachten nicht ausreichend berücksichtigt, da sich die Klägerin gegen die Hilfeleistungen wehre bzw. sich nicht kooperativ verhalten. Bei der Ernährung sei im Gutachten auch nicht ausreichend berücksichtigt, dass die Nahrung nicht nur mundgerecht zubereitet, sondern auch zum Mund geführt werden müsse. Sämtliche Hilfeleistungen würden auch länger dauern, da die Klägerin schlecht höre. Sie sei oft desorientiert und in ihrem Erinnerungsvermögen gestört. Sie könne sich an ihre aktuelle Adresse nicht erinnern. Sie müsse ständig beobachtet werden, sonst verlasse sie unkontrolliert die Wohnung. Wegen ihrer Antriebsarmut müsse sie auch bei der Einnahme von Medikamenten unterstützt und kontrolliert werden. Sie müsse aus den oben dargelegten Gründen beim Gehen, Treppensteigen und Verlassen sowie Wiederaufsuchen der Wohnung unterstützt werden.

Die Beklagte ist dem entgegengetreten. Soweit mit der Klagebegründung nunmehr - drei Jahre nach Beantragung der Pflegeleistungen - Hilfebedarfe angemeldet würden, seien diese zum Teil bereits seitens des MDK berücksichtigt worden. Da klägerseitig keine Angaben zum zeitlichen Umfang der Pflege bei den einzelnen Verrichtungen erfolgt seien, könne hierzu kaum etwas gesagt werden. Für die Beklagte blieben insoweit die Feststellungen der beiden Vorortgutachten des MDK maßgeblich.

Das SG hat einen Befundbericht des behandelnden Hausarztes Dr. H. vom 12.6.2019 angefordert. Dieser hat mitgeteilt, dass die Klägerin ihren Ehemann mitversorge. Die Kinder unterstützten sie bei Einkäufen und Fahrten sowie bei der Reinigung der Wohnung. Bei der Körperpflege oder Ernährung bedürfe sie keiner Hilfe. Die bestehenden Schmerzen der Wirbelsäule würden mit Bewegungstherapie und Analgetika behandelt.

Mit Gerichtsbescheid vom 29.5.2020 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Bewilligung von Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung gemäß der Pflegestufe I. Für die Feststellung, ob bei ihr eine erhebliche Pflegebedürftigkeit vorliege, sei gem. § 140 Abs. 1 Satz 1 SGB XI die bis zum 31.12.2016 geltende Rechtslage anzuwenden. Danach erfolge die Feststellung des Vorliegens von Pflegebedürftigkeit in der am 31.12.2016 geltenden Fassung jeweils auf der Grundlage des zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Rechts. Da die Klägerin den Antrag auf Pflegeleistungen bereits im August 2013 gestellt habe, sei im vorliegenden Verfahren zur Beurteilung der Pflegebedürftigkeit die bis zum 31.12.2016 geltende Rechtslage maßgeblich. Dieser Grundsatz umfasse das gesamte Verfahren von der Antragstellung über die Begutachtung bis zum Erlass des Leistungsbescheides und gelte damit auch für nachfolgende Widerspruchs- und sozialgerichtliche Verfahren. Dabei entscheide das Gericht bei der vorliegend statthaften kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage über den Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung bis zum Erlass des Gerichtsbescheides. Ob die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit nach den neu gefassten tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 14,15 SGB XI für die Klägerin günstiger gewesen wären, brauche die Kammer wegen § 140 Abs. 1 SGB XI nicht zu entscheiden. Die Klägerin habe einen Antrag auf erneute Prüfung ihrer Pflegebedürftigkeit seit 1.1.2017 trotz entsprechenden gerichtlichen Hinweises nicht gestellt.

Die Klägerin erfülle die Mindestvoraussetzungen für die Anerkennung von Pflegebedürftigkeit i.S.d. Pflegestufe I nicht, da sich für sie kein Hilfebedarf für die Grundpflege feststellen lasse, der den notwendigen Zeitwert von mehr als 45 Minuten täglich erreiche. Das Gericht folge insoweit den schlüssigen und plausiblen Feststellungen des MDK in dessen Gutachten vom 26.8.2013 und vom 28.1.2014. Die in Ansatz gebrachten Zeitwerte hielten sich im Rahmen der Zeitorientierungswerte der Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-Richtlinien-BRI) in der Fassung vom 7.3.2016 und erwiesen sich zur Überzeugung der Kammer als angemessen. Insbesondere habe die Klägerin keiner Vollübernahme bei den anzuerkennenden pflegerischen Verrichtungen bedurft, vielmehr seien Hilfeleistungen in Form der Unterstützung, Teilübernahme und Anleitung erforderlich gewesen. Dies führe regelmäßig nur zu einer anteiligen Berücksichtigung des maßgeblichen Zeitorientierungswertes, der sich auf eine Vollübernahme der pflegerischen Verrichtung bezieht. Ein pflegeabwehrendes Verhalten, wie es mit der Klagebegründung vorgetragen wurde, sei während der Begutachtungen durch den MDK nicht geltend gemacht worden. Zudem überzeuge es nicht, wenn mit der Klagebegründung geltend gemacht werde, der Klägerin müssten nach jedem Essen und Toilettengang die Hände gewaschen werden. Es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin hierzu motorisch oder kognitiv nicht in der Lage gewesen sei. Ebenso sei nicht nachvollziehbar, warum der Klägerin ein Richten der Bekleidung nicht eigenständig möglich gewesen sein soll. Gleichsam erschließe sich kein Hilfebedarf für das Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung, der ohnehin nur für das Aufsuchen von Ärzten zu therapeutischen Zwecken oder die Inanspruchnahme vertragsärztlich verordneter Therapien berücksichtigungsfähig wäre.

Hinsichtlich des geltend gemachten Anreichens der Nahrung folge die Kammer der Einschätzung des MDK, dass unter Berücksichtigung der Ressourcen der Klägerin jedenfalls kein regelmäßiger Bedarf bestehe. Die Klagebegründung erscheine vor dem Hintergrund der Feststellungen des MDK und ohne nähere Ausführungen, warum über das Begutachtungsergebnis hinausgehende Hilfebedarfe bestehen sollten, nicht schlüssig. Gegen die Annahme eine das Maß der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI in der bis zum 31.12.2016 Fassung erreichende Beeinträchtigung der Klägerin sprächen die Ausführungen des die Klägerin seit 2003 laufend und regelmäßig behandelnden Hausarztes in seinem Befundbericht. Hinweise auf eine Pflegebedürftigkeit der Klägerin ergäben sich auch nicht aus den mit dem Befundbericht übersandten medizinischen Daten. Vielmehr sprächen Einträge wie vom 1.11.2016: "stabil, läuft in der Wohnung herum und versorgt die Enkelin" gegen die Annahme einer Pflegebedürftigkeit. Zudem bestätige sich, die Annahme der MDK-Gutachterin, dass die während der Begutachtung am 27.1.2014 wahrgenommene Schwäche in den Händen, nicht von regelmäßiger und dauerhafter Natur gewesen sein kann, da sich hierzu keine Dokumentation durch Dr. H. finde.

Die Klägerin hat gegen den ihr am 9.6.2020 zugestellten Gerichtsbescheid am 2.7.2020 Berufung eingelegt. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ihren erstinstanzlichen Vortrag wiederholt.

Die Klägerin beantragt,

  1. 1.

    den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bremen vom 29.5.2020 sowie den Bescheid der Beklagten vom 28.8.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.1.2015 aufzuheben,

  2. 2.

    der Klägerin ab Antragstellung Leistungen aus der Pflegeversicherung zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat die Entscheidung über die Berufung nach Anhörung der Beteiligten mit Beschluss vom 9.4.2021 gem. § 153 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) dem Berichterstatter übertragen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf das Sitzungsprotokoll über die mündliche Verhandlung, den sonstigen Inhalt der Prozessakte und den Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind und der Entscheidungsfindung des Senats zu Grunde gelegen haben.

Entscheidungsgründe

Der Senat kann vorliegend in der Besetzung mit einem Berichterstatter und zwei ehrenamtlichen Richtern entscheiden, da die Berufung gemäß § 153 Abs. 5 SGG auf den Berichterstatter übertragen worden ist.

Die Berufung der Klägerin ist zwar zulässig, aber unbegründet. Zu Recht hat das SG Bremen die Klage abgewiesen, denn der Bescheid der Beklagten vom 28.8.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.1.2015 erweist sich auch nach Überprüfung durch den Senat als rechtmäßig.

Die Klägerin hat seit der Beantragung der Pflegeleistungen keinen Anspruch auf Gewährung von Pflegeleistungen entsprechend Pflegestufe I des bis zum 31.12.2016 geltenden Rechts bzw. ab dem 1.1.2017 entsprechend dem Pflegegrad 2 nach § 37 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB XI in der seit dem 1.1.2017 geltenden Fassung (n.F.). Gem. § 140 Abs. 1 Satz 1 SGB XI n.F. erfolgt die Feststellung des Vorliegens von Pflegebedürftigkeit im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung jeweils auf der Grundlage des zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Rechts. Da die Klägerin vorliegend Pflegeleistungen am 6.8.2013 bei dem Beklagten beantragte, ist zunächst noch das Recht in der Fassung bis zum 31. 12.2016 (sog. alte Fassung: a.F.) anzuwenden. Soweit ein Anspruch auf Pflegeleistungen erst ab dem 1.1.2017, d.h. ab Umstellung auf den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, eintritt, wirkt der einmal gestellte Antrag auf Pflegeleistungen auch nach Ablehnung der Leistung fort, sofern er - wie vorliegend - rechtzeitig angefochten ist und der Rechtsstreit hierüber noch anhängig ist. Dies ist ggf. im sozialgerichtlichen Verfahren bis zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung zu berücksichtigen (vgl. BSG; Urteil vom 17.2.2022 - B 3 P 6/20 R - Terminbericht vom 18.2.2022 Nr. 6/22).

Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat hinsichtlich der vorliegend nicht erfüllten rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach der Pflegestufe I gem. § 153 Abs. 2 SGG auf die zutreffenden Ausführungen des SG, dem es sich nach eigener Sachprüfung anschließt, insbesondere auf die Darstellung der vorliegend bis zum 31.12.2016 einschlägigen Rechtsgrundlagen (§§ 14, 15 SGB XI in der bis zum 31.12.2016 geltenden Fassung - SGB XI a.F.) und die nicht zu beanstandende Auseinandersetzung mit den vorliegenden Gutachten des MDK vom 26.8.2013 und vom 28.1.2014. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf die Bewilligung von Leistungen nach dem Pflegegrad 2 ab 1. Januar 2017. Nach § 140 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1a SGB XI n.F. folgt der Gewährung von Pflegegeld nach Pflegestufe I solches nach dem Pflegegrad 2. Anhaltspunkte dafür, dass der Pflegebedarf der Klägerin bis zum 31.12.2016 die Kriterien zur Gewährung von Leistungen nach der Pflegestufe 1 erfüllte, liegen - wie ausgeführt - nicht vor. Der Senat vermag auch für die Zeit ab dem 1.1.2017 nicht auszugehen, dass die Klägerin pflegedürftig i.S. des Pflegegrades 2 ist.

Soweit die Klägerin im Rahmen des vorliegenden Berufungsverfahrens im Wesentlichen unter Wiederholung ihres erstinstanzlichen Verfahrens vorträgt, dass sie vor allem im Hinblick auf zusätzliche Oberkörperwaschungen und Aus- und Anziehvorgänge wegen starken Schwitzens am Tage und in der Nacht, wegen notwendigen Waschens der Hände nach jedem Essen und Toilettengängen sowie hinsichtlich der bei ihr erforderlichen Hilfe beim zum Mund führen der Nahrung einen höheren als bei ihr festgestellten pflegerischen Hilfebedarf habe, so wurden diese Punkte in den MDK-Gutachten, insbesondere dem vom 28.1.2014, hinreichend berücksichtigt und in die - zur Überzeugung des Senats nach wie vor zutreffende - Einschätzung der Pflegebedürftigkeit der Klägerin eingestellt. So ist einer 10-mal täglich erforderlichen Hilfe bei der oralen Nahrungsaufnahme in dem letztgenannten Gutachten mit einem täglichen Zeitaufwand von zwei Minuten angemessen Rechnung getragen worden. Ein zusätzlicher Bedarf für das Waschen des Oberkörpers neben der Ganzkörperwäsche (Zeitaufwand 7 Minuten/Tag) wurde seitens der Klägerin nicht plausibel dargelegt. Selbst wenn ein zusätzlicher Bedarf für das Waschen von Händen und Gesicht zu berücksichtigen wäre, würde dieser einen vorliegend für die Pflegestufe I (mehr 45 Minuten Grundpflege) erforderlichen Zeitaufwand von mindestens 14 Minuten täglich nicht erreichen. Auch ein seitens der Klägerin vorgetragenes Erschwernis bei der pflegerischen Versorgung wegen ihrer Schmerzen im Bewegungsapparat sowie ihrer zeitweisen Renitenz gegen die ihr erbrachten Hilfeleistungen haben die Gutachterinnen erkannt und bei ihrer gutachterlichen Einschätzung berücksichtigt. Einer weiteren Sachverhaltsaufklärung, insbesondere in Form einer zeugenschaftlichen Anhörung des Sohnes der Klägerin, der während der Begutachtungen der Klägerin durch den MDK anwesend war, bedarf es insofern nicht. Insbesondere die von den Gutachterinnen ausführlich thematisierten, medikamentös mit Ibuprofen und Diclofenac behandelten Schmerzen der Klägerin im Bereich der Wirbelsäule wurden auch von ihrem behandelnden Hausarzt Dr. H. in einer Stellungnahme an das SG vom 12.6.2019 dargelegt, jedoch plausibel relativiert, indem der Arzt von gleichwohl nicht benötigter Hilfe bei der Ernährung und der Körperpflege berichtet hat. Gegen eine erheblichere Pflegebedürftigkeit spricht schließlich, dass die Klägerin noch im September 2018 in der Lage war, Bus- und Flugreisen aus Deutschland in die Türkei zu unternehmen.

Die Berufung war nach alledem vollumfänglich zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.